
Was wir essen, wann, wie und mit wem – das ist keine rein persönliche Entscheidung. Die Soziologie des Essens zeigt, dass Ernährung eine zutiefst soziale Praxis ist. Sie offenbart Zugehörigkeit, markiert Unterschiede, spiegelt Machtverhältnisse und wird zunehmend moralisch aufgeladen. Zwischen Alltagsroutinen und globalen Ernährungssystemen eröffnet sich ein komplexes Forschungsfeld, das Einblicke in soziale Ordnung, kulturelle Symbolik und gesellschaftlichen Wandel ermöglicht.
Die Soziologie des Essens untersucht, wie gesellschaftliche Strukturen, kulturelle Bedeutungen, moralische Diskurse und Machtverhältnisse das Essverhalten von Individuen und Gruppen beeinflussen. Sie versteht Essen nicht als biologische Notwendigkeit, sondern als soziales und kulturelles Phänomen.
1. Warum Essen ein Thema der Soziologie ist
Essen ist alltäglich – und gerade deshalb soziologisch interessant. Es gehört zu den grundlegendsten menschlichen Handlungen, ist aber zugleich tief in kulturelle NormenVerhaltensregeln und Erwartungen, die innerhalb einer Gesellschaft oder sozialen Gruppe als verbindlich gelten., soziale Regeln und moralische Vorstellungen eingebettet. Die Soziologie interessiert sich dabei nicht für Nährwerte oder Diäten, sondern für Fragen wie: Was bedeutet es, gemeinsam zu essen? Wie entstehen Geschmacksvorlieben? Warum gelten bestimmte Nahrungsmittel als edel – andere als „Billigessen“?
Im Sinne Max Webers lässt sich Essen als soziales Handeln verstehen – also als Verhalten, das auf das Verhalten anderer ausgerichtet ist. Bereits das Gestilltwerden ist eine der ersten sozialen Interaktionen eines Menschen. Allein zu essen gilt den wenigsten als erstrebenswert. In vielen Familien ist das gemeinsame Abendessen der eine feste „Pflichttermin“ am Tag, an dem weder Fernseher noch Smartphones eine Rolle spielen – sondern soziale Aufmerksamkeit, Austausch und symbolische GemeinschaftEine Gemeinschaft ist eine Form des sozialen Zusammenlebens, die sich durch enge persönliche Bindungen, emotionale Nähe und ein starkes Wir-Gefühl auszeichnet. Der Begriff wurde maßgeblich durch Ferdinand Tönnies geprägt, der ihn als Gegensatz zur Gesellschaft verstand.. In der Geschäftswelt werden Verträge vielleicht am Konferenztisch unterzeichnet, entschieden werden sie jedoch nicht selten bei einem gemeinsamen Essen im Restaurant.
Auch aus interaktionistischer Perspektive ist Essen eine soziale Bühne. Erving Goffman zeigt, wie alltägliche Handlungen zur Inszenierung des Selbst werden. Gemeinsames Essen – ob beim Familienfrühstück, ersten Date oder Geschäftsessen – erfordert feines Rollenverhalten, ritualisierte Abläufe und soziale Deutung. Wer das Gespräch führt, wer bedient wird, wie gegessen wird: All das ist Teil einer symbolischen Ordnung, die soziale Beziehungen strukturiert.
Die Soziologie des Essens steht damit an der Schnittstelle von Alltagssoziologie, Ungleichheitsforschung, Rollensoziologie und Wertsoziologie. Auch körper- und kultursoziologische Perspektiven spielen eine zentrale Rolle.
2. Geschmack ist nicht individuell
Geschmack erscheint oft als persönliche Vorliebe – doch soziologisch betrachtet ist er ein sozial erlerntes Unterscheidungsvermögen. Pierre Bourdieu hat gezeigt, dass kulinarische Präferenzen eng mit dem sozialen HabitusDer Habitus bezeichnet ein System von Denk-, Wahrnehmungs- und Handlungsmustern, das Menschen im Laufe ihres Lebens – insbesondere durch ihre soziale Herkunft – verinnerlichen und das ihr Verhalten prägt. verbunden sind: Sie werden nicht frei gewählt, sondern unbewusst verinnerlicht – abhängig von Herkunft, Bildung und Klasse.
Wer Currywurst mit Pommes liebt, bevorzugt meist eine andere Form des Essens als jemand, der ein 12-Gänge-Menü mit Schaum und Jus goutiert. In höheren sozialen Lagen dominiert oft ein ästhetischer, symbolischer Zugang zu Nahrung: leicht, gesund, inszeniert. In unteren sozialen Lagen steht häufig der sättigende, praktische Nutzen im Vordergrund. Beides sind keine Fragen des „besseren“ Geschmacks – sondern des sozialen Zugangs zu bestimmten kulturellen Ressourcen.
Geschmack dient der Distinktion – also der bewussten oder unbewussten Abgrenzung von anderen sozialen Gruppen. Auch vermeintlich progressive Ernährungsweisen wie vegane Küche, Clean Eating oder lokale Bio-Produkte sind Teil dieser Unterscheidung. Wer es sich leisten kann, kauft „nachhaltig“ – nicht nur aus Überzeugung, sondern auch als symbolisches KapitalKapital bezeichnet in der Soziologie und Ökonomie Ressourcen, die zur Erzielung von Einkommen, Macht oder sozialem Einfluss genutzt werden können. Je nach theoretischem Zugang unterscheidet man verschiedene Kapitalformen..
Doch Distinktion ist nicht statisch: Wenn vormals elitäre Speisen – wie Sushi – massentauglich werden und in Supermärkten oder Kantinen auftauchen, verlieren sie ihren exklusiven Charakter. Neue Abgrenzungsformen entstehen: etwa über Herkunftsbezeichnungen („handgerolltes Edomae-Sushi“), Zertifikate („bio-dynamisch“), Esspraktiken („Plant-Based“) oder schlicht über Zugang (Sterneküche, Food-Pairing-Events).
Interessant ist dabei: Hoher Preis allein garantiert keine soziale Anerkennung. Das medial inszenierte „vergoldete Steak“, das von Fußballstars oder Influencern zur Schau gestellt wurde, wurde von vielen als Symbol „neureichen“ Geschmacks belächelt. In akademisch-bürgerlichen Milieus gilt eine solche Form der Zurschaustellung oft als „geschmacklos“ – trotz oder gerade wegen ihres Preises. Distinktion funktioniert also nicht nur über Geld, sondern über kulturell anerkannte Formen des Konsums.
Geschmack ist dabei nicht nur sozial strukturiert – er ist auch identitätsstiftend. Die Frage nach dem Lieblingsessen gilt vielen als legitimer, sogar intimer Zugang zum Anderen – vergleichbar mit der Frage nach dem Musikgeschmack oder dem Lieblingsbuch. Sie erscheint uns unmittelbar sinnvoll und aufschlussreich. Dasselbe gilt jedoch kaum für andere Sinne: „Was ist dein Lieblingsgeruch?“ oder „Was fühlst du am liebsten mit der Hand?“ wirken irritierend. Diese Unausgewogenheit zeigt, wie sehr das Essen als soziale Praxis und symbolische Selbstbeschreibung in unserer Kultur verankert ist.
3. Essen und soziale Ordnung
Was als „normal“ gilt – etwa drei Mahlzeiten am Tag, die Nutzung von Besteck, der Verzicht auf bestimmte Laute beim Essen – ist historisch gewachsen und kulturell kodiert. Der Soziologe Norbert Elias zeigte in seinem Zivilisationsmodell, wie sich über Jahrhunderte Essgewohnheiten und Körperkontrolle herausbildeten – immer im Zusammenspiel mit gesellschaftlicher Differenzierung, Status und MachtMacht bezeichnet die Fähigkeit von Personen oder Gruppen, das Verhalten anderer zu beeinflussen – auch gegen deren Willen..
Ein bekanntes, Martin Luther zugeschriebenes Zitat verdeutlicht die kulturelle Transformation körperlicher Ausdrucksformen: „Warum rülpset und furzet ihr nicht? Hat es euch nicht geschmacket?“ Was heute als unzivilisiert gilt, war früher akzeptierter Bestandteil von Tischgemeinschaften – ehe solche Ausdrucksformen nach und nach in die Privatsphäre verdrängt wurden.
Auch die Verwendung von Besteck war einst ein Distinktionsmerkmal: Zunächst nur dem Adel vorbehalten, wurde sie im 18. und 19. Jahrhundert vom Bürgertum übernommen und schließlich zur gesamtgesellschaftlichen Norm. Hier zeigt sich eine Verbindung zu Bourdieus Theorie: Alltagspraktiken wie das „richtige“ Essen, Sitzen oder Servieren sind Träger sozialer Bedeutung – und können zur Abgrenzung oder Nachahmung genutzt werden.
Mahlzeiten strukturieren nicht nur den Alltag, sie stiften Gemeinschaft – oder schließen aus. Die Sitzordnung bei Tisch kann dabei soziale Hierarchien symbolisieren: der „Hausherr“ am Kopfende, die Tischmitte als Ort der AutoritätAutorität bezeichnet anerkannte, legitime Macht, die auf Zustimmung und Vertrauen basiert. – wie etwa in Leonardo da Vincis Darstellung des Letzten Abendmahls, in der Jesus zentral sitzt. Auch Hochzeiten, Bankette oder Staatsempfänge folgen präzisen Regeln, wer wo Platz nimmt – und damit, welchen sozialen Rang man einnimmt.
Wer mit wem isst, wer das Essen zubereitet, wer bedient wird und wer sprechen darf – all das verweist auf gesellschaftliche Ordnung im Kleinen. Essen ist damit nicht nur Versorgung, sondern Inszenierung von sozialen Beziehungen.
Der Soziologe Ferdinand Tönnies unterscheidet zwischen Gemeinschaft (face-to-face, emotional) und GesellschaftEine Gesellschaft ist ein strukturiertes Gefüge von Menschen, die innerhalb eines geografischen Raumes unter gemeinsamen politischen, sozialen und wirtschaftlichen Bedingungen leben und durch institutionalisierte soziale Beziehungen miteinander verbunden sind. (funktional, zweckrational). Gemeinsames Essen ist eine Form der Vergemeinschaftung – es schafft emotionale Bindung, Vertrauen und Zugehörigkeit. Ob Familienmahl, Feiertagsessen oder Festbankett: Über das Teilen von Nahrung wird Zugehörigkeit nicht nur symbolisiert, sondern produziert.
4. Moral, Kontrolle und Identität
In der SpätmoderneBezeichnung für die gegenwärtige Gesellschaftsphase, in der die klassischen Errungenschaften der Moderne weitergeführt, aber zugleich reflexiv hinterfragt und transformiert werden. ist Ernährung mehr denn je mit moralischen, politischen und kulturellen Bedeutungen aufgeladen. Die Frage „Was darf man essen – und was nicht?“ wird zur Projektionsfläche für WerteGrundlegende Vorstellungen darüber, was in einer Gesellschaft wünschenswert, gut oder erstrebenswert ist., Ideologien und Identitätskonstruktionen. Essen wird damit zum Spiegel von Selbstverständnis, Gruppenzugehörigkeit und Weltanschauung.
ReligionSystem von Glaubensvorstellungen, Symbolen und Praktiken, das auf das Transzendente verweist und individuelle wie kollektive Sinngebung ermöglicht.
Viele Essregeln haben religiöse Ursprünge – etwa das Schweinefleischverbot im Islam, das Fasten im Christentum oder die Speisegebote im Judentum. Selbst in säkularisierten Gesellschaften bestehen moralisch aufgeladene Ernährungsvorschriften fort – etwa rund um Fleischkonsum, AlkoholEine psychoaktive Substanz, die als Genussmittel konsumiert wird und durch ihre berauschende Wirkung bekannt ist. Chemisch handelt es sich um Ethanol (C₂H₅OH). oder Zucker.
GenderGender bezeichnet das soziale Geschlecht und umfasst die kulturellen, sozialen und psychologischen Zuschreibungen, die mit Männlichkeit und Weiblichkeit verbunden sind.
Noch immer wird das Zubereiten von Speisen mit Weiblichkeit assoziiert („die Hausfrau in der Küche“), während der „Chefkoch“ in der Öffentlichkeit als männlich codiert bleibt. Gleichzeitig werden an Frauen höhere Erwartungen an Körperdisziplin und Ernährungskontrolle gestellt – Diät, Clean Eating, Intervallfasten.

Die Küche selbst ist dabei ein Spiegel geschlechtlicher Arbeitsteilung – und ihres Wandels: In der Architektursoziologie gilt die sogenannte Frankfurter Küche der 1920er Jahre als funktionalistisch durchgestalteter Arbeitsraum für eine weibliche Einzelperson – eng, effizient, produktionsorientiert. Davor lag die Küche in herrschaftlichen Haushalten oft außerhalb des Wohnbereichs, personell klar getrennt (z. B. durch Bedienstete).
In der spätmodernen Wohnküche hingegen – offen, hochwertig, designbetont – wird Kochen zum ästhetisch-kommunikativen Akt, an dem sich (zumindest symbolisch) alle Beteiligten einbringen können. Diese Demokratisierung des Küchenraums ist jedoch sozial selektiv: In wohlhabenden Haushalten existieren oft zwei Küchenbereiche – eine „Wohnküche“ für die Repräsentation und eine Butler’s Pantry oder „zweite Küche“ für das eigentliche Kochen im Hintergrund. Auch hier zeigt sich die Überlagerung von Gender, Klasse und Status.
In der Tradition von Ralf Dahrendorf lässt sich die Verteilung von Zuständigkeiten in der Küche als soziale Rollenerwartung deuten. Die Mutter als Ernährerin, der Vater als Gastgeber, die Kinder als stille Tischgäste – das sind kulturell tradierte Rollen, die im Alltag reproduziert, aber auch hinterfragt werden. In der ModerneGesellschaftsform, die sich durch Industrialisierung, Urbanisierung, Rationalisierung und Individualisierung auszeichnet. entstehen neue Rollenkonflikte: zwischen Anspruch auf Gleichstellung und tradierten Rollenzuschreibungen, zwischen Leistungsanforderungen und Familienzeit.
Selbstkontrolle
Der Körper wird zunehmend zur Optimierungsaufgabe: Diäten, Fitnessnahrung, Health-Apps oder Ernährungspläne zeugen vom Wunsch, durch Essen Leistungsfähigkeit, Attraktivität und DisziplinDisziplin bezeichnet ein System der Verhaltensregulierung durch Überwachung, Kontrolle und körperliche bzw. geistige Dressur. zu demonstrieren. In neoliberalen Gesellschaften wird Ernährung damit zum Ausdruck individueller Verantwortung.
Michel Foucault wies darauf hin, dass moderne Gesellschaften Gesundheit nicht nur regulieren, sondern ins Zentrum von Selbstkontrolle und Normierung stellen. Die Soziologie des Essens zeigt dies etwa an Ernährungspyramiden, Kalorientabellen oder Body-Mass-Indizes. Wer wie isst, wird moralisch und medizinisch bewertet. Gesundheit wird so zur Disziplinarmacht – und gute Ernährung zum Akt sozialer Anerkennung.
Ästhetisierte MoralSystem von Werten, Normen und Überzeugungen, das angibt, was als gut oder richtig gilt.
Andreas Reckwitz beschreibt in der Gesellschaft der Singularitäten, wie moralisch aufgeladene Konsumpraktiken Teil einer ästhetisch-moralischen Selbstinszenierung werden. Wer Fair-Trade-Kaffee trinkt, diesen aus der Siebträgermaschine in der Designerküche zubereitet und auf Instagram dokumentiert, inszeniert nicht nur Geschmack – sondern moralische Überlegenheit. Diese Distinktion wirkt umso stärker, wenn sie sich von „alltäglichen“ Geräten wie der Filterkaffeemaschine oder dem Discounterkaffee abhebt.
So wird Essen zur Bühne für ästhetisiertes Verantwortungsbewusstsein – in dem sich Klassenlage, Bildung, ästhetische Vorlieben und moralische Weltanschauung überlagern. Was auf dem Teller liegt, erzählt in der Spätmoderne nicht nur von Hunger – sondern von Habitus, Haltung und Haltungserwartung.
5. Globalisierung, Migration und Esskultur
Durch GlobalisierungEin komplexer Prozess zunehmender weltweiter Vernetzung von Wirtschaft, Politik, Kultur und Kommunikation. und Migration verändern sich Küchen, Essgewohnheiten und Nahrungsmittelmärkte. Einerseits erleben wir eine kulturelle Hybridisierung: Sushi, Falafel, Tofu oder Kimchi sind längst Teil vieler Alltagsküchen geworden – quer durch soziale Milieus. Andererseits persistieren kulinarische Vorurteile gegenüber „fremden“ Esskulturen, insbesondere im Kontext von Migration. In Kantinen, Schulen oder Talkshows spiegeln sich Konflikte um „Essgewohnheiten“ oft als unterschwellige kulturelle Abwertungen.
Auch das globale Lebensmittelsystem steht im Fokus: Die weltweite Standardisierung von Ernährung (etwa durch Fast-Food-Ketten, Tiefkühlprodukte oder Convenience-Food) trifft auf Gegenbewegungen wie Slow Food, Regionalinitiativen oder Food Sovereignty. Diese Vereinheitlichung wurde von George Ritzer als McDonaldisierung beschrieben – ein Prozess, in dem Prinzipien wie Effizienz, Berechenbarkeit, Kontrolle und Standardisierung zunehmend das Essen (und darüber hinaus auch andere Lebensbereiche) prägen. Wer Zugang zu gesunder, vielfältiger Ernährung hat – und wer nicht –, ist auch eine Frage von sozialer Ungleichheit.
Diese Entwicklung ist jedoch kein einseitiger Prozess. Die Soziologie spricht hier von Glokalisierung – also dem gleichzeitigen Nebeneinander und Ineinandergreifen globaler und lokaler Esskulturen. Neben global verfügbaren Speisen stehen lokale Spezialitäten, die zur kollektiven Identität beitragen: etwa die Bratwurst aus Thüringen, die Aalsuppe aus Hamburg, die Currywurst aus Berlin oder Duisburg – jede mit eigener Geschichte, regionaler Bedeutung und emotionaler Aufladung. Besonders deutlich zeigt sich das im Bereich der lokalen Brauereien, Biersorten und kulinarischen Regionalmarken, die nicht nur als Lebensmittel, sondern als kulturelle Marker sozialer Zugehörigkeit fungieren.
Esskultur ist somit auch ein Ort kultureller Aushandlung: zwischen globalem Angebot und lokalem Anspruch, zwischen Migration und Abgrenzung, zwischen kulinarischem Austausch und symbolischer Verteidigung des Eigenen.
6. Normen und Werte rund ums Essen
Kaum ein Lebensbereich ist so eng mit sozialen Normen und kulturellen Werten verbunden wie das Essen. Schon früh lernen wir, wie man „sich beim Essen benimmt“: nicht schmatzen, nicht mit vollem Mund sprechen, nicht mit den Fingern essen – es sei denn, die Kultur oder Situation erlaubt es. Solche Verhaltensregeln sind Ausdruck sozialer Normierung und tragen zur sozialen Kontrolle bei.
Werte prägen auch, was als „gutes“ oder „richtiges“ Essen gilt – und was nicht. In verschiedenen Kulturen existieren teils sehr unterschiedliche Wertvorstellungen: Rohes Fleisch ist in Japan (Sashimi) eine Delikatesse, in vielen westlichen Gesellschaften jedoch ein Tabu. In Indien gilt die Kuh als heilig, in Europa ist Rindfleisch ein Grundnahrungsmittel. Diese Unterschiede zeigen, wie stark Essen mit kultureller Bedeutung aufgeladen ist.
Auch in säkularen Gesellschaften lassen sich quasi-religiöse Wertungen beobachten: Veganismus, Bio-Konsum oder regionale Ernährung werden häufig nicht nur als praktische, sondern als ethisch überlegene Lebensweise inszeniert. Wer gegen diese Normen verstößt – etwa durch Fast-Food-Konsum oder billiges Fleisch – riskiert symbolische Abwertung. Hier wird deutlich: Werte und Normen beim Essen regulieren nicht nur Verhalten, sondern auch Zugehörigkeit, Anerkennung und soziale Ordnung.
Ein oft ausgeblendeter Aspekt im Zusammenhang mit Essensnormen ist der Toilettengang – die unausweichliche Folge jeder Nahrungsaufnahme. Obwohl das Thema in vielen Kulturen mit Scham und Diskretion belegt ist, unterliegt es ebenfalls einer Vielzahl an sozialen Normen und Ritualen: vom „stillen Örtchen“ bis zu höflichen Umschreibungen („Ich muss mal…“). Interessanterweise ist der Toilettengang der große Gleichmacher: Alle Menschen sind davon betroffen, unabhängig von sozialem Status, Klasse oder Geschmack.
Gerade deshalb wirken die distinktiven Unterschiede beim Essen umso paradoxer: Während kulinarische Unterschiede – vom Superfood über die Sterne-Küche bis zur Designerküche – oft zelebriert werden, bleibt das Ausscheiden dieser Nahrung verhüllt, privat, stillschweigend. Zwar gibt es auch hier Versuche der Distinktion (vierlagiges Klopapier, automatische Bidets, Duftsprays), doch sie erreichen nicht die kulturelle Symbolkraft der Essensinszenierung. Wer über soziale Normen beim Essen spricht, sollte deshalb auch jene Normen reflektieren, die sich auf das Verlassen des Körpers beziehen – denn auch sie sind sozial geregelt, kulturell kodiert und von sozialer Relevanz.
7. Devianz und Kriminalität rund ums Essen
Auch aus kriminologischer und devianzsoziologischer Perspektive ist Essen ein hochrelevantes Thema. Immer wieder geraten Akteur:innen entlang der Lebensmittelkette ins Visier der Öffentlichkeit – sei es durch Lebensmittelskandale, Täuschung, Ausbeutung oder Tierquälerei. Die Soziologie des Essens erweitert damit den Blick auf Grauzonen zwischen Legalität, Moral und Marktlogik.
Beispiele für deviante oder strafrechtlich relevante Praktiken sind zahlreich:
- Subventionsbetrug in der Agrarwirtschaft
- Verkauf von verdorbenem oder falsch deklariertem Fleisch (z. B. Pferdefleischskandal)
- Verwendung ökologisch und ethisch bedenklicher Zutaten wie Palmöl oder Käfereier
- Gammelfleisch-Importe, Etikettenschwindel, Kükenschreddern
Solche Fälle werfen grundlegende Fragen auf: Wer definiert, was als moralisch oder kriminell gilt? Welche Normen gelten im Bereich Ernährung – und wie werden sie durchgesetzt? Welche Verantwortung tragen Konsument:innen, Händler oder Staaten? Zwischen Green CriminologyGreen Criminology ist ein interdisziplinärer Ansatz in der Kriminologie, der sich mit Umweltkriminalität, Umweltzerstörung und den gesellschaftlichen Konsequenzen ökologischer Schäden auseinandersetzt., Labeling Theory und Konsumkritik eröffnet sich hier ein breites Feld für soziologische Analysen.
Auch marxistische Perspektiven werfen ein kritisches Licht auf das Lebensmittelsystem. Unter kapitalistischen Bedingungen wird Nahrung nicht primär als soziales Gut, sondern als Ware produziert – mit Fokus auf Profitmaximierung, Effizienz und Wachstum. Die Ökonomisierung von Saatgut, Wasser, Boden und Lebensmitteln führt zu Ausbeutung, Externalisierung von Umweltkosten und globaler Ernährungsungleichheit. Diese Sichtweise verbindet sich mit Kritikformen wie Food Justice, Green Criminology und Postwachstumspolitik.
8. Fazit: Warum die Soziologie des Essens relevant bleibt
Essen ist nie nur Nahrung. Es ist Ausdruck sozialer Zugehörigkeit, ein Instrument der Kontrolle, ein Medium der Kommunikation – und zunehmend ein Ort des gesellschaftlichen Konflikts. Die Soziologie des Essens macht sichtbar, wie sehr unser Alltag von kulturellen Bedeutungen, sozialen Erwartungen und politischen Rahmenbedingungen durchdrungen ist. Wer verstehen will, wie Gesellschaft funktioniert, sollte auf den Teller schauen.
Status und Habitus
Normen und Werte
Soziale Ungleichheit
Pierre Bourdieu – Die feinen Unterschiede
Andreas Reckwitz – Die Gesellschaft der Singularitäten
Erving Goffman – Wir alle spielen Theater
Ferdinand Tönnies – Gemeinschaft und Gesellschaft
Ralf Dahrendorf – Homo Sociologicus
Michel Foucault – Überwachen und Strafen
Karl Marx – Das kommunistische Manifest
Weiterführende Literatur

Eva Barlösius – Soziologie des Essens
Dieses Buch gilt als moderner Klassiker des Fachgebiets. Es behandelt zentrale Fragestellungen wie soziale Ungleichheit, symbolische Bedeutung von Nahrung, geschlechtsspezifische Rollenzuschreibungen, kulturelle Normen und historische Wandlungsprozesse rund ums Essen. Besonders hilfreich ist der systematische Aufbau, der theoretische Ansätze mit empirischen Beispielen verbindet.
Literatur
- Barlösius, E. (2016). Soziologie des Essens. Eine Einführung in Theorie und Geschichte der Ernährung (3. Aufl.). Weinheim: Beltz Juventa.
- Bourdieu, P. (1982). Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.
- Dahrendorf, R. (1977). Homo Sociologicus. Ein Versuch zur Geschichte, Bedeutung und Kritik der Kategorie der sozialen Rolle. Stuttgart: Enke.
- Douglas, M. (1991). Reinheit und Gefährdung. Eine Studie zu Vorstellungen von Verunreinigung und Tabu. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.
- Elias, N. (1939). Über den Prozeß der Zivilisation. Soziogenetische und psychogenetische Untersuchungen. Basel: Haus zum Falken.
- Foucault, M. (1975). Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.
- Goffman, E. (1956). Wir alle spielen Theater. Die Selbstdarstellung im Alltag. München: Piper.
- Marx, K. & Engels, F. (1848). Manifest der Kommunistischen Partei. In: MEW 4. Berlin: Dietz.
- Reckwitz, A. (2017). Die Gesellschaft der Singularitäten. Zum Strukturwandel der Moderne. Berlin: Suhrkamp.
- Ritzer, G. (1993). Die McDonaldisierung der Gesellschaft. Eine ethnographische Analyse. Wiesbaden: VS Verlag.
- Tönnies, F. (1887). Gemeinschaft und Gesellschaft. Grundbegriffe der reinen Soziologie. Leipzig: Fues’s Verlag.


