„Überwachen und Strafen“ von Michel Foucault zählt zu den einflussreichsten Werken der kritischen Gesellschaftsanalyse im 20. Jahrhundert. Das 1975 erschienene Buch markiert den Beginn von Foucaults „genealogischer“ Phase und untersucht die historischen Transformationen von Macht, Strafe und Subjektivität. Im Zentrum steht der Wandel von der körperlichen Bestrafung hin zu subtilen, allgegenwärtigen Disziplinartechniken – und damit ein neues Verständnis moderner Machtformen. Foucault zeigt, wie sich in Gefängnissen, Schulen, Kasernen und Kliniken nicht nur Kontrolle, sondern auch das moderne Subjekt selbst herausbildet.
Wissenschaftlicher und historischer Kontext
„Überwachen und Strafen“ erschien in einer Zeit intensiver gesellschaftlicher Umbrüche. Die 1970er-Jahre waren geprägt von Kritik an autoritären Institutionen, Polizeigewalt und Gefängnissystemen – nicht zuletzt in Frankreich, wo Foucault selbst als Aktivist tätig war (u. a. im „Groupe d’information sur les prisons“). Zugleich ist das Werk ein Bruch mit klassischen Geschichtsschreibungen: Foucaults Methode der „Genealogie“ folgt nicht dem Fortschrittsnarrativ, sondern rekonstruiert historische Praktiken als Ergebnis komplexer Machtkonstellationen. Der Einfluss von Friedrich Nietzsche, besonders dessen „Genealogie der Moral“, ist dabei unübersehbar.
Merkzettel
Überwachen und Strafen nach Michel Foucault
Hauptvertreter: Michel Foucault (1926–1984)
Brazilian National Archives, Public domain, via Wikimedia Commons
Erstveröffentlichung: 1975
Land: Frankreich
Idee/ Annahme: Die moderne Macht operiert nicht mehr primär durch Gewalt, sondern durch Überwachung, Disziplinierung und Normierung – verkörpert im Panoptismus.
Grundlage für: Machtanalytische Soziologie, Diskursanalyse, Polizeiforschung, digitale Kontrolltheorien, Queer Theory, Governance-Studien, Kriminologie.
Zentrale Fragestellung
Foucault geht der Frage nach, wie sich im Laufe der Moderne ein neues Verständnis von Strafe und Macht herausgebildet hat. Warum wurden öffentliche Hinrichtungen durch das Gefängnissystem ersetzt? Wie gelang es der Gesellschaft, Individuen nicht mehr nur zu bestrafen, sondern sie aktiv zu formen und zu disziplinieren?
Vom Spektakel zur Disziplin
Ausgangspunkt ist ein radikaler Kontrast: Am Beginn des Buches steht die öffentliche Hinrichtung Damiens (1757) – ein blutiges Spektakel körperlicher Strafe. Demgegenüber beschreibt Foucault die nüchternen Regeln eines modernen Gefängnisses hundert Jahre später. Der Wechsel von der physischen zur psychischen Kontrolle markiert eine neue Qualität: Strafe wird entpersonalisiert, bürokratisiert und zunehmend als Instrument zur Herstellung „normaler“ Bürger genutzt. Die Bestrafung des Körpers wird ersetzt durch die „Korrektur“ des Geistes.
Panoptismus: Das neue Machtmodell
Friman, CC BY-SA 3.0, via Wikimedia Commons
Zentral ist Foucaults Analyse des Panoptikums, eines Gefängnismodells des englischen Philosophen Jeremy Bentham. Dieses Gebäude erlaubt es, Häftlinge permanent potenziell zu beobachten – ohne dass diese wissen, ob sie gerade wirklich überwacht werden. Das Prinzip: Sichtbarkeit erzeugt Gehorsam. Foucault sieht darin das paradigmatische Modell moderner Macht:
- Unsichtbare Beobachter – sichtbare Kontrollierte
- Verinnerlichung der Überwachung – Disziplinierung durch Selbstkontrolle
- Anwendbarkeit auf alle Institutionen: Schulen, Fabriken, Kliniken, Kasernen, Behörden
Panoptismus
Panoptismus bezeichnet bei Foucault ein Machtprinzip, das auf asymmetrischer Beobachtung, normativer Kontrolle und der Verinnerlichung von Überwachung beruht. Es ersetzt offene Gewalt durch die permanente Möglichkeit der Kontrolle und bewirkt, dass Menschen sich selbst disziplinieren. Die Idee stammt vom Philosophen Jeremy Bentham und dient Foucault als Metapher für moderne Gesellschaften.
Panoptische Machtstrukturen zeigen sich heute in vielfältigen Formen – etwa in der flächendeckenden Videoüberwachung (CCTV) im öffentlichen Raum oder in digitalen Überwachungssystemen. Der durch Edward Snowden aufgedeckte NSA-Skandal verdeutlichte eindrücklich, wie sich staatliche Kontrolle im digitalen Zeitalter unsichtbar und umfassend organisieren lässt – ganz im Sinne der panoptischen Logik, in der nicht das tatsächliche Beobachten, sondern das Gefühl permanenter Beobachtbarkeit diszipliniert.
Disziplinarmacht, Normierung und das „gefügige Subjekt“
Moderne Macht ist bei Foucault nicht mehr primär repressiv, sondern produktiv. Sie schafft Subjekte, indem sie Körper und Verhalten formt. Der Mensch wird zum „docile body“ – einem trainierten, anpassungsfähigen, steuerbaren Subjekt. Dabei spielen Rituale, Zeitpläne, Bewertungssysteme und Normen eine zentrale Rolle. Wer sich der Norm widersetzt, wird nicht einfach bestraft, sondern abweichend etikettiert, überwacht und angepasst.
Eine interessante Parallele zeigt sich in der Soziologie Erving Goffmans, insbesondere in seinem Konzept der „totalen Institution“. Einrichtungen wie Gefängnisse, Psychiatrien oder Kasernen formen das Verhalten der Insassen durch rigide Zeitpläne, Regeln und Hierarchien – und spiegeln damit auf mikrosoziologischer Ebene, was Foucault als Disziplinarmacht aufzeigt.
Vergleich von Strukturalismus und Poststrukturalismus
Um Michel Foucaults theoretische Position besser einordnen zu können, hilft ein Blick auf die grundlegenden Unterschiede zwischen Strukturalismus und Poststrukturalismus. Während der Strukturalismus nach stabilen, universellen Mustern in Sprache, Kultur und Gesellschaft sucht, betont der Poststrukturalismus die Instabilität von Bedeutungen, die historische Kontingenz von Wissen und die Allgegenwart von Macht.
Was ist Poststrukturalismus?
Der Poststrukturalismus ist eine theoretische Strömung, die sich ab den 1960er-Jahren aus dem französischen Strukturalismus entwickelte – in kritischer Abgrenzung zu dessen Idee stabiler, universeller Strukturen. Poststrukturalistische Theorien betonen die Unbestimmtheit von Bedeutungen, die historische Kontingenz von Wissen und die diskursive Konstruktion von Wahrheit und Subjektivität.
Wichtige Themen des Poststrukturalismus sind:
- die Kritik an objektiven Wahrheitsansprüchen
- die Dekonstruktion von Macht-Wissen-Komplexen
- die Unauflösbarkeit von Subjektivität
- die Diskursanalyse als zentrale Methode
Michel Foucault zählt zu den einflussreichsten poststrukturalistischen Denkern. In Werken wie „Überwachen und Strafen“ oder „Die Ordnung des Diskurses“ zeigt er, dass Wissen nie neutral, sondern immer an Machtverhältnisse gebunden ist. Seine Diskursanalysen haben die Soziologie, Geschichtswissenschaft und Kulturtheorie tiefgreifend verändert.
Weitere wichtige Vertreter:innen sind Jacques Derrida, Gilles Deleuze und Judith Butler (in ihrer frühen Phase).
Die folgende Tabelle stellt zentrale Aspekte beider Denkrichtungen gegenüber und zeigt, warum Foucault als einer der wichtigsten poststrukturalistischen Denker gilt – auch wenn er selbst diese Bezeichnung nie ausdrücklich akzeptiert hat.
Aspekt | Strukturalismus | Poststrukturalismus |
---|---|---|
Grundannahmen | Suche nach universellen Strukturen hinter kulturellen Phänomenen | Dekonstruktion von Stabilitätsannahmen, Betonung von Differenz und Kontext |
Bedeutung von Sprache | Sprache als geschlossenes Zeichensystem mit festen Bedeutungen | Sprache ist instabil, Bedeutungen sind wandelbar und kontextabhängig |
Subjektverständnis | Das Subjekt ist durch überindividuelle Strukturen bestimmt | Das Subjekt ist ein Effekt von Diskursen und Machtverhältnissen |
Wahrheit & Wissen | Wissen ist objektivierbar, durch Regeln strukturiert | Wissen ist immer an Macht gebunden und historisch kontingent |
Machtbegriff | Macht spielt eine untergeordnete Rolle | Macht ist allgegenwärtig, durchzieht alle sozialen Verhältnisse |
Methodische Ausrichtung | Strukturanalyse, formale Regeln, Klassifikation | Diskursanalyse, Genealogie, Dekonstruktion |
Zentrale Vertreter | Claude Lévi-Strauss, Ferdinand de Saussure | Michel Foucault, Jacques Derrida, Judith Butler |
Zentrale Unterschiede zwischen Strukturalismus und Poststrukturalismus – anhand von Theorieverständnis, Machtkonzeption und methodischem Zugriff.
Rezeption und Anschlussfähigkeit
„Überwachen und Strafen“ hat weit über die Soziologie hinaus Wirkung entfaltet. Besonders stark ist der Einfluss in den Bereichen der Kriminologie und Strafsoziologie, wo Foucaults Begriff der Disziplinarmacht und seine Institutionenanalyse neue Perspektiven auf Gefängnisse, Strafrecht und Devianz eröffneten. Auch die Soziologie des Körpers griff seine Idee auf, dass Machtverhältnisse in körperlichen Praktiken, Disziplinen und Routinen eingeschrieben sind. In der Polizeiforschung und Governance-Theorie trug Foucault zur Entstehung kritischer Ansätze bei, die Macht nicht nur als repressiv, sondern auch als produktiv und normierend analysieren. Schließlich wurden seine Überlegungen zentral für die Gender Studies und die Queer Theory, insbesondere hinsichtlich der Frage, wie Subjektivität durch Diskurse und Normen hervorgebracht wird – z. B. in den Arbeiten von Judith Butler.
Auch die Anschlussfähigkeit an andere soziologische Theorien ist vielfältig:
- Pierre Bourdieu teilt mit Foucault die Perspektive, dass Macht nicht nur offen ausgeübt, sondern in Symbolen, Praktiken und sozialen Strukturen verankert ist. Foucaults Disziplinarmacht lässt sich mit Bourdieus Konzept der symbolischen Gewalt und Habitusbildung in Beziehung setzen – etwa wenn Individuen gesellschaftliche Normen verinnerlichen, ohne sich ihrer Fremdbestimmtheit bewusst zu sein.
- Erving Goffman untersuchte mit seinem Begriff der totalen Institution (z. B. Gefängnisse, Psychiatrien, Kasernen) Orte, an denen Individuen einem umfassenden Regime der Kontrolle und Überwachung unterworfen sind. Seine Studien zu Stigma und sozialer Identität lassen sich hervorragend mit Foucaults Analyse disziplinierender Praktiken kombinieren.
- Norbert Elias beschrieb in seiner Zivilisationstheorie langfristige Prozesse der Selbstkontrolle und Verhaltensregulierung, die auf einen inneren Zwang zur Konformität hinauslaufen. Diese Entwicklung des „zivilisierten“ Subjekts weist deutliche Parallelen zur Foucaultschen Disziplinierung auf – insbesondere in Bezug auf die Verinnerlichung sozialer Normen.
- Niklas Luhmann geht von einem völlig anderen theoretischen Ansatz aus, betont jedoch ebenfalls, wie Kontrolle in komplexen Gesellschaften funktioniert – bei ihm nicht durch Akteure, sondern durch Systeme, die Kommunikation strukturieren. Foucaults Konzept der Dispositive oder Diskurse lässt sich mit Luhmanns Theorie funktionaler Differenzierung fruchtbar vergleichen.
Kritisch wurde Foucaults Ansatz vor allem dort diskutiert, wo er eine allumfassende Machtanalyse ohne normativen Gegenentwurf formuliert. Wenn Macht alle gesellschaftlichen Bereiche durchdringt – von der Sprache bis zur Selbstwahrnehmung –, stellt sich die Frage, wie Widerstand, Emanzipation oder gerechte Gesellschaftsmodelle überhaupt denkbar sind. Foucault selbst bietet keine klaren Antworten, doch genau darin liegt auch das Potenzial seiner Theorie: Viele seiner Leser:innen – etwa in der Queer Theory, den Disability Studies oder der Postcolonial Theory – haben aus seiner Diagnostik von Machtverhältnissen neue Formen kritischer Praxis und Selbstermächtigung entwickelt.
Aktualität und gesellschaftlicher Bezug
Von der Überwachung zur Selbstoptimierung
Foucaults Analyse ist heute aktueller denn je. Die von ihm beschriebene Verschiebung von repressiver zu disziplinierender Macht lässt sich in der Gegenwart auf vielfältige Weise beobachten – insbesondere im digitalen Raum. Panoptische Prinzipien wirken längst nicht mehr nur in Gefängnissen oder Schulen, sondern durchdringen unsere Alltagspraktiken, Mediennutzung und sogar unser Konsumverhalten.
Ein zentrales Beispiel ist das Phänomen von Social Scoring und Self-Tracking. In China etwa erprobt der Staat mit dem „Sozialkreditsystem“ eine umfassende digitale Bewertung von Bürger:innen, die individuelles Verhalten auf Grundlage von Gehorsam, Zahlungsmoral oder Konformität sanktioniert oder belohnt. Auch im Westen zeigen sich ähnliche Tendenzen: Schrittzähler, Schlaftracker und Gesundheits-Apps fördern eine Selbstoptimierung, die auf ständiger Beobachtung und Normerfüllung basiert – oft freiwillig, aber wirksam.
Algorithmen, Vorhersage und digitale Disziplin
Auch in der Sicherheits- und Polizeiforschung lassen sich Foucaults Einsichten anwenden. Predictive Policing – also der Einsatz von Algorithmen zur Vorhersage von Straftaten – verlagert den Fokus weg von der Reaktion auf konkrete Delikte hin zur präventiven Steuerung von Risikozonen und Personengruppen. Hier stellt sich die Frage, wie Kontrolle, Macht und Diskriminierung neu zusammenspielen, wenn die Entscheidung nicht mehr durch Menschen, sondern durch „Black Boxes“ getroffen wird. Der Begriff des Überwachungskapitalismus (Shoshana Zuboff) greift Foucaults Überlegungen auf und erweitert sie um digitale Geschäftsmodelle, in denen Verhalten zur Ware wird.
Auch Plattformen wie Amazon, Google oder Instagram wirken durch Likes, Ratings, KPI-Logiken (Key Performance Indicators) als normative Disziplinierungssysteme. Sie definieren, was „sichtbar“, „erfolgreich“ oder „normal“ ist – und was nicht. Die Nutzer:innen internalisieren diese Metriken und passen ihr Verhalten an, um Reichweite, Sichtbarkeit oder soziale Anerkennung zu maximieren.
Nudging und die neue Sanftheit der Macht
Auch die sogenannte Verhaltenssteuerung (Behavioral Governance) hat in Politik und Wirtschaft an Bedeutung gewonnen. Durch Nudging, Gamification und Transparenzstrategien wird versucht, Menschen zu „besserem Verhalten“ zu motivieren – z. B. durch CO₂-Anzeigen auf Stromrechnungen oder Fortschrittsbalken bei Spendenaktionen. Diese Techniken wirken subtil, aber effektiv – ganz im Sinne Foucaults: Sie ersetzen Zwang durch Steuerung, Repression durch Einbindung.
Gouvernementalität und neoliberale Selbstführung
Foucaults spätere Arbeiten zur Gouvernementalität vertiefen diese Perspektive: Moderne Macht operiert nicht mehr primär durch Verbote, sondern durch die Aktivierung und Selbststeuerung der Subjekte. Der Einzelne wird nicht nur diszipliniert, sondern lernt, sich selbst im Sinne gesellschaftlicher Erwartungen zu regulieren – etwa durch Gesundheitsverhalten, Lebensführung oder Konsumentscheidungen. Dieses Konzept hat großen Einfluss auf die Analyse neoliberaler Machtverhältnisse genommen.
Relevanz für polizeiliche Kontexte
Besonders für polizeiliche Kontexte ist Foucaults Werk hoch relevant. Es sensibilisiert für die Grenzziehung zwischen legitimer Kontrolle und autoritärem Machtmissbrauch. Es zeigt auf, wie Normen entstehen, wie Verhalten etikettiert und wie soziale Abweichung produziert wird. Damit liefert es ein wichtiges Instrument zur kritischen Reflexion über die Rolle von Polizei, Staat und Gesellschaft im Umgang mit Devianz, Ordnung und Sicherheit.
Fazit
Mit „Überwachen und Strafen“ legt Michel Foucault eine radikale Kritik moderner Institutionen vor. Er zeigt, wie sich Macht in Routinen, Architekturen, Diskursen und Normen manifestiert – und dabei nicht nur unterdrückt, sondern produziert. Das Werk hat unser Verständnis von Strafe, Disziplin und Subjektivität nachhaltig verändert und bleibt eine unverzichtbare Lektüre für alle, die sich mit Machtverhältnissen in der Moderne auseinandersetzen wollen.
„Überwachen und Strafen“ bildet den Auftakt zu einer Reihe weiterer Schlüsselwerke, in denen Foucault die Mechanismen von Macht und Wissen vertieft. Besonders relevant sind dabei „Die Ordnung des Diskurses“ (1971), „Sexualität und Wahrheit“ (ab 1976) und „Der Wille zum Wissen“, in denen Foucault neue Formen der Biopolitik, der Selbsttechnologien und der diskursiven Subjektivierung untersucht.
- Foucault, M. (1975). Überwachen und Strafen: Die Geburt des Gefängnisses. Frankfurt am Main: Suhrkamp.
- Foucault, M. (1994). Die Ordnung des Diskurses. Frankfurt am Main: Fischer.
- Flynn, T. (2005). Foucault’s Mapping of History. In: Gutting, G. (Hrsg.): The Cambridge Companion to Foucault. Cambridge University Press.