Ferdinand Tönnies’ Werk „Gemeinschaft und Gesellschaft“ (1887) gilt als eines der frühesten und wichtigsten Schlüsselwerke der Soziologie. Tönnies prägt mit diesem Werk die grundlegende Unterscheidung zwischen zwei Formen des sozialen Zusammenlebens: der traditionell verankerten, emotional gebundenen Gemeinschaft und der rational kalkulierten, zweckorientierten Gesellschaft. Diese Differenzierung beeinflusst bis heute soziologische Analysen von sozialen Strukturen, sozialen Rollen und gesellschaftlichem Wandel.
Wissenschaftlicher und historischer Kontext
Das Werk entsteht in einer Zeit tiefgreifender gesellschaftlicher Umbrüche: Die Industrialisierung, Urbanisierung und Modernisierung verändern die traditionellen Lebenswelten und sozialen Bindungen Europas. Ferdinand Tönnies (1855–1936), Mitbegründer der deutschen Soziologie und langjähriger Präsident der Deutschen Gesellschaft für Soziologie, greift diese Entwicklungen auf und versucht, den Übergang von einer vorindustriellen, gemeinschaftlich geprägten Gesellschaft zu einer modernen, funktional differenzierten Gesellschaft theoretisch zu fassen. Dabei steht er in der Tradition philosophischer und rechtssoziologischer Denkweisen und beeinflusst später auch Theoretiker wie Max Weber und Talcott Parsons.
Merkzettel
Gemeinschaft vs. Gesellschaft nach Tönnies
Hauptvertreter: Ferdinand Tönnies (1855 – 1936)
Erstveröffentlichung: 1887
Land: Deutschland
Idee/ Annahme: Tönnies unterscheidet zwei grundlegende Formen sozialen Zusammenlebens: die emotionale, traditionsgebundene Gemeinschaft und die rational-zweckorientierte Gesellschaft. Er beschreibt den sozialen Wandel von persönlicher Nähe hin zu anonymen, funktionalen Beziehungen als zentrales Merkmal der Moderne.
Grundlage für: Tönnies’ Idealtypen prägen die Soziologie bis heute und bilden die Grundlage für spätere Theorien sozialer Ordnung (z. B. bei Max Weber), die Stadtsoziologie, die Sozialstruktur- und Modernisierungstheorie sowie aktuelle Diskussionen über sozialen Zusammenhalt und Glokalisierung.
Zentrale Fragestellung des Werks
Im Mittelpunkt von Tönnies’ Werk steht die Frage: Wie organisieren Menschen ihr Zusammenleben, und welche sozialen Bindungen stiften Stabilität? Er untersucht, welche Formen sozialer Beziehungen existieren und wie diese sich unter dem Einfluss von Industrialisierung und Rationalisierung verändern. Seine Antwort lautet: Es lassen sich zwei Idealtypen sozialen Zusammenlebens unterscheiden – Gemeinschaft und Gesellschaft.
Gemeinschaft und Gesellschaft: Zwei Idealtypen sozialen Zusammenlebens
Gemeinschaft
Die Gemeinschaft beschreibt Tönnies als eine Form des sozialen Zusammenlebens, die durch Nähe, emotionale Verbundenheit und natürliche Solidarität geprägt ist. Sie entsteht „wesenswillentlich“ – das heißt, aus einem inneren Antrieb zur Zugehörigkeit und Zusammengehörigkeit. Typische Beispiele sind die Familie, das Dorf oder traditionelle Nachbarschaften. In der Gemeinschaft regieren Vertrauen, Tradition und persönliche Verantwortung.
Gesellschaft
Im Gegensatz dazu steht die Gesellschaft. Sie ist geprägt von rationalem Kalkül, Zweckorientierung und formalen Regeln. Menschen treten hier in Beziehungen, die „kürwillentlich“ – also absichtsvoll und interessengeleitet – eingegangen werden. Beispiele sind moderne Großstädte, Märkte, Staaten oder Organisationen. Beziehungen sind hier oft anonym, auf Nutzen orientiert und durch Verträge geregelt.
Merkmale | Gemeinschaft | Gesellschaft |
---|---|---|
Bindungsform | Wesenswille (natürlich, emotional) | Kürwille (rational, zweckorientiert) |
Beziehungsart | Persönlich, vertraut, dauerhaft | Anonym, vertraglich, zeitlich begrenzt |
Typische Beispiele | Familie, Nachbarschaft, Dorf | Staat, Markt, Organisation |
Handlungsgrundlage | Tradition, Sitte, Solidarität | Rationales Kalkül, individuelle Interessen |
Soziale Kontrolle | Soziale Nähe, direkte Sanktionen | Gesetze, Verträge, Bürokratie |
Emotionale Komponente | Stark ausgeprägt (Nähe, Verbundenheit) | Schwach ausgeprägt (Distanziertheit) |
Idealtypen als analytische Werkzeuge
Wichtig ist: Tönnies versteht Gemeinschaft und Gesellschaft als Idealtypen – analytische Konstrukte, die es ermöglichen, unterschiedliche Formen sozialen Handelns und Zusammenlebens zu beschreiben. In der Realität finden sich immer Mischformen. Dennoch helfen diese Idealtypen, die grundlegenden Unterschiede zwischen traditionellen und modernen Gesellschaftsformen zu verstehen.
Exkurs: Wer prägte den Begriff des Idealtypus?
Der Begriff des Idealtypus stammt aus der Methodologie von Max Weber. Er bezeichnet ein gedankliches Konstrukt, das in seiner Reinform in der Wirklichkeit nicht vorkommt, aber hilft, soziale Phänomene systematisch zu analysieren und zu vergleichen.
Auch Ferdinand Tönnies hat mit seinen Kategorien von Gemeinschaft und Gesellschaft solche analytischen Konstruktionen geschaffen, spricht jedoch selbst nicht von Idealtypen. Seine Konzepte können aber aus heutiger Perspektive als Idealtypen verstanden werden, die das Spannungsfeld zwischen persönlicher Bindung und rational-zweckorientierten Beziehungen verdeutlichen.
Max Weber griff später Tönnies’ Differenzierung auf und entwickelte den Begriff des Idealtypus methodisch weiter.
Sozialer Wandel bei Tönnies
Der Wandel von Gemeinschaft zu Gesellschaft beschreibt für Tönnies den Übergang von einer vormodernen, agrarisch geprägten Gesellschaft hin zur anonymen, urban-industriellen Moderne. Dieser Wandel geht einher mit dem Verlust traditioneller Bindungen, der Auflösung gemeinschaftlicher Strukturen und dem Vormarsch rational-bürokratischer Institutionen. Tönnies beklagt diesen Verlust nicht nur, sondern beschreibt ihn als folgerichtiges Ergebnis des sozialen und wirtschaftlichen Fortschritts. Gleichwohl bleibt in seinem Werk eine gewisse Melancholie über den Zerfall der gewachsenen Gemeinschaft spürbar.
Rezeption und Kritik
Tönnies’ Begriffsprägung ist bis heute zentral für die Soziologie. Seine Unterscheidung von Gemeinschaft und Gesellschaft beeinflusste insbesondere die Arbeiten von Max Weber (in dessen Kategorien von traditionaler und rationaler Herrschaft) sowie spätere Theorien des Strukturfunktionalismus und der Modernisierung. Auch für die Stadtsoziologie und die Analyse sozialer Kohäsion bleibt sein Werk grundlegend.
Kritisiert wurde Tönnies für die starke Dichotomie zwischen Gemeinschaft und Gesellschaft, die in der Realität häufig fließender verläuft. Zudem wurde ihm vorgeworfen, Gemeinschaft romantisierend zu idealisieren und gesellschaftliche Entwicklungen zu pessimistisch zu deuten. Dennoch wird seine Differenzierung bis heute genutzt, um soziale Wandlungsprozesse und Veränderungen in sozialen Beziehungen zu analysieren.
Bedeutung für die Soziologie heute
Gemeinschaft“ wieder lauter – sei es in Debatten um sozialen Zusammenhalt, Integration oder lokale Identität. Auch aktuelle Diskussionen über Vereinsamung in Großstädten oder die Entfremdung in digitalen Netzwerken lassen sich im Lichte von Tönnies’ Idealtypen deuten. Besonders deutlich wird dies im Konzept der Glokalisierung, das beschreibt, wie globale Entwicklungen lokal angepasst und emotional verankert werden. In urbanen Räumen entstehen so neue Formen von Gemeinschaft, die zugleich Teil globaler Strukturen sind. Tönnies’ Begriffe helfen, diese komplexe Spannung zwischen Nähe und Anonymität, Bindung und Flexibilität, globaler Rationalität und lokaler Verwurzelung zu erfassen und einzuordnen.
Was bedeutet Glokalisierung?
Glokalisierung ist ein Begriff, der die gleichzeitige Wirkung von Globalisierung und Lokalisierung beschreibt. Globale wirtschaftliche, technologische und kulturelle Entwicklungen werden dabei nicht einfach übernommen, sondern vor Ort angepasst und mit lokalen Traditionen, Werten und sozialen Praktiken verknüpft. Es entstehen hybride Formen sozialer Ordnung, die sowohl globale Rationalität als auch lokale Gemeinschaftselemente miteinander verbinden.
Beispiele für Glokalisierung sind lokale Nachbarschaftsinitiativen, die digitale Plattformen nutzen, oder Migrationsprozesse, bei denen globale Mobilität zu neuen lokalen Bindungen führt. Der Begriff hilft zu verstehen, wie moderne Gesellschaften den Spannungsbogen zwischen Gemeinschaft und Gesellschaft im globalen Kontext neu aushandeln.
Fazit
Mit „Gemeinschaft und Gesellschaft“ hat Ferdinand Tönnies ein grundlegendes Werk der Soziologie vorgelegt, das bis heute in Sozialstruktur-, Stadt- und Modernisierungsforschung Relevanz besitzt. Die von ihm geprägten Idealtypen bilden ein analytisches Fundament, um den Wandel sozialer Beziehungen und gesellschaftlicher Ordnung zu verstehen. Auch über 130 Jahre nach seiner Erstveröffentlichung bleibt das Werk eine unverzichtbare Lektüre für Soziologinnen und Soziologen sowie für alle, die die Dynamiken zwischen Nähe und Distanz, Tradition und Moderne, Gemeinschaft und Gesellschaft besser verstehen wollen.
Literaturverzeichnis
- Tönnies, F. (1887). Gemeinschaft und Gesellschaft. Leipzig: Fues’s Verlag.
- Schroer, M. (2006). Ferdinand Tönnies: Einführung in Leben und Werk. UTB.
- Clark, T. N. (Hrsg.) (1973). Community Structure and Decision-Making. New York: Elsevier.
- Weber, M. (1921). Wirtschaft und Gesellschaft. (zum Vergleich der Begriffsentwicklung)
Weiterführende Informationen
Die Ferdinand-Tönnies-Gesellschaft pflegt das geistige Erbe von Ferdinand Tönnies und gibt die Ferdinand Tönnies Gesamtausgabe heraus.