Edgework ist ein sozialpsychologisches Konzept, das freiwillig unternommene, risikobehaftete Handlungen (voluntary risk taking) als zeitweiligen Ausbruch aus gesellschaftlichen Bezügen und Suche nach mentalen und/ oder körperlichen Grenzerfahrungen versteht.
Merkzettel
Edgework (Stephen Lyng)
Hauptvertreter:
Stephen Lyng
Erstveröffentlichung: 1990
Land: USA
Idee/ Annahme: Die Edgework-Theorie beschreibt risikoreiche Aktivitäten, bei denen Individuen bewusst die Grenze zwischen Ordnung und Chaos, Leben und Tod, Legalität und Illegalität aufsuchen. In diesen „Grenzräumen“ (Edgework) erfahren sie Kontrolle, Selbstwirksamkeit und Identität. Kriminalität erscheint hier nicht als Folge sozialer Desintegration oder Rationalität, sondern als Ausdruck von Subjektivität, Erfahrungssuche und Stil.
Abgrenzung zu:
Im Unterschied zu rationalen Modellen wie der
Rational Choice Theory,
die Kriminalität als Nutzen-Kosten-Kalkül begreift, betont Edgework emotionale Intensität und die Suche nach Risiko und Selbstbestätigung. Anders als sozialstrukturelle Erklärungen (z. B. Anomietheorie) stellt Edgework nicht Defizite, sondern Agency und Selbstinszenierung in den Vordergrund.
Verwandte Theorien:
Seductions of Crime (Jack Katz),
Cultural Criminology,
Labeling Approach
Theorie
Edgework ist keine Kriminalitätstheorie im eigentlichen Sinne. Es handelt sich hierbei vielmehr um ein Konzept der Soziologie des Risikos, das Anfang der 1990er Jahre vom amerikanischen Soziologen Stephen Lyng entwickelt wurde. Lyng versteht unter Edgework das Suchen und/oder Erleben von physischen oder psychischen Grenzerfahrungen.
Der Begriff „Edgework“ geht zurück auf den Schriftsteller und Journalisten Hunter S. Thompson. In seinem 1966 erschienen Buch Hell’s Angels: The Strange and Terrible Saga of the Outlaw Motorcycle Gangs beschreibt er das Leben der Mitglieder der Motorradgang als Grenzerfahrung:
But with the throttle screwed on there is only the barest margin, and no room at all for mistakes. It has to be done right … and that’s when the strange music starts, when you stretch your luck so far that fear becomes exhilaration and vibrates along your arms … until the next dark stretch and another few seconds on the edge … The Edge … the edge is still Out There. Or maybe it’s In. The association of motorcycles with LSD is no accident of publicity. They are both means to an end, to the place of definitions.
(Thompson, 1967, S. 345; zitiert nach Ferrell: The Only Possible Adventure: Edgework and Anarchy. In: Lyng, 2005, S. 76)
In der theoretischen Fundierung seines Edgework-Konzeptes bezieht sich Lyng auf Arbeiten von Karl Marx (u.a.: The German Ideology, 1932) und George Herbert Mead (Mind, Self, and Society, 1934). Die Marx-Mead Synthese dient der Rückführung des individuell erlebten Risikoverhaltens auf eine makrotheoretische Erklärungsebene. Demnach sind die risikobehafteten Handlungen als Ausbruch aus einer von Rationalen und Beschränkungen auferlegenden Verpflichtungen zu verstehen. Edgework als vornehmlich in der Freizeit vollzogene Aktivität („play“ i.S.v. Mead) ist ein kompensatorischer Gegenpol zum (fremdbestimmten) von Bürokratie und wirtschaftlichen Zwängen durchdrungenem Alltag.
Kriminalpolitische Implikationen
Die Edgework-Theorie stellt eine Herausforderung für klassische kriminalpolitische Ansätze dar, die Kriminalität primär als rationales Kosten-Nutzen-Kalkül oder als Resultat sozialstruktureller Benachteiligung begreifen. Wenn delinquentes Verhalten vielmehr Ausdruck einer bewussten Grenzüberschreitung und sinnstiftenden Risikopraxis ist, greifen repressive oder generalpräventive Maßnahmen oft ins Leere. Abschreckung funktioniert nur bedingt, wenn das Risiko selbst als Reiz erlebt wird.
Kriminalpolitisch eröffnet die Theorie eine neue Perspektive auf Jugenddelinquenz, Gewaltakte im Freizeitkontext oder urbane Subkulturen, die mit Normverstößen experimentieren. Statt bloßer Strafverschärfung könnten hier alternative Interventionsformen gefragt sein, die risikobezogene Bedürfnisse in konstruktive Bahnen lenken – etwa durch Extremsportangebote, kreative Ausdrucksformen oder pädagogisch begleitete Grenzerfahrungen.
Kritische Würdigung und Aktualitätsbezug
Die Edgework-Theorie hat das Verständnis von Devianz und Kriminalität um eine subjektzentrierte, erfahrungsorientierte Perspektive erweitert. Ihr innovativer Zugang liegt in der Verbindung von Soziologie, Psychologie und Kulturtheorie – mit einem Fokus auf Erleben, Kontrolle und Emotion. Gleichwohl wird der Ansatz auch kritisch betrachtet. So bemängeln einige Autor:innen eine Tendenz zur Romantisierung riskanter Verhaltensweisen sowie eine unzureichende Berücksichtigung sozialer Ungleichheiten.
Kritisch bleibt zudem die eingeschränkte empirische Fundierung: Viele Beispiele entstammen Nischenmilieus (z. B. Extremsport), sodass die Übertragbarkeit auf alltägliche Kriminalität begrenzt sein kann. Dennoch ist der Ansatz hochaktuell: In einer Gegenwart, die von Sicherheitsdiskursen, jugendlichen Selbstinszenierungen in sozialen Medien und einer Suche nach Authentizität geprägt ist, liefert Edgework wichtige Impulse – etwa für die Analyse von Protestaktionen, Urban-Exploring oder riskantem Verhalten im digitalen Raum.
Literatur
- Stephen Lyng (1990): Edgework: A Social Psychological Analysis of Voluntary Risk Taking. American Journal of Sociology 95(4): 851-886.
- Stephen Lyng (ed.) (2005): Edgework: the sociology of risk taking. Routledge. New York.