Kriminalitätstheorien als wissenschaftliche Theorien liefern individuelle oder gesellschaftliche Erklärungsansätze für normativ abweichendes Verhalten. Was aber genau macht eine wissenschaftliche Theorie aus?
Was ist eine Theorie?
Die Wissenschaften befassen sich mit Theorien. Was aber ist eine Theorie genau? Wir alle verfügen natürlich über eine Vorstellung davon, was eine Theorie ist. In unserem Alltag operieren wir täglich – bewusst oder unbewusst – mit theoretischen Annahmen; bezeichnen Sachverhalte als „theoretisch“ oder grenzen eine theoretische von einer praktischen Herangehensweise ab („Also mal ganz praktisch gedacht …“). Jedoch werden diese alltagstheoretischen Annahmen selten ausgesprochen oder erklärt. Das ist in den Wissenschaften anders:
Das Wort Theorie leitet sich aus dem Griechischen ab (von griech. theoria = das Schauen, das Anschauen; theorein = betrachten) und steht hier als Gegenpol zum Begriff Praxis (griech. praxis = Tätigkeit; praxein = agieren, handeln).
Wissenschaftliche Theorien grenzen sich vor allem hinsichtlich ihrer Komplexität von Alltagstheorien ab. Erstere stellen ein System von Begriffen, Definitionen und Aussagen dar und basieren auf Überlegungen, denen zumeist eine Abstraktion eines komplexeren Zusammenhanges zugrunde liegt. Auf diese Art und Weise lassen sich hypothetische Annahmen aufstellen, die durch wiederholte empirische Überprüfung verallgemeinert, verifiziert und als Gesetzmäßigkeit formuliert werden können (z.B. „Immer wenn A, dann ist auch B“). Die so aufgestellte Theorie besitzt so lange Gültigkeit, bis ein Anwendungsfall gefunden wird, der von der angenommenen Gesetzmäßigkeit abweicht (z.B. „Wenn X, dann ist, wenn A, nicht immer auch B“). Nunmehr ist die Ausgangstheorie falsifiziert und muss durch weitere Aussagen oder einschränkende Bedingungen präzisiert werden („Wenn nicht X, dann immer wenn A, dann ist auch B“).
Am (vorläufigen) Ende der Theoriebildung stehen eine Reihe von aufeinander bezogene Aussagen (das Explanans), die alle denkbaren und beobachtbaren Alternativen des beschriebenen Sachverhaltes (das Explanandum) abdecken. Im Idealfall erlaubt die formulierte Theorie auch eine Vorhersage zukünftiger Abläufe und Ereignisse.
Was ist eine Kriminalitätstheorie?
Kriminalitätstheorien dienen der Erklärung von normabweichendem/ kriminellem Verhalten. Die theoretischen Überlegungen werden in der Regel in empirischen Studien überprüft. Aus vielen der Kriminalitätstheorien lassen sich Schlussfolgerungen ableiten, wie Kriminalität präventiv verhindert werden kann und finden somit Einzug in die kriminalpolitische Praxis.
Kriminalitästheorien sind „mehr oder weniger gesicherte, methodisch geordnete Versuche, Entstehungszusammenhänge individueller/ oder der Kriminalität der Gesellschaft zu erklären und hinsichtlich ihrer (der Kriminalität) sozialen Kontrolle Rückschlüsse für die Praxis in Prävention und Repression zu ziehen.“
(Breuer 1998, S. 56; zitiert nach: Pientka 2014, S. 190)
Zu Beginn einer Kriminalitätstheorie steht zumeist die Frage, warum Menschen kriminell werden. Manche Kriminalitätstheorien kehren die Fragestellung allerdings um und erkunden, weshalb die meisten Menschen nicht (dauerhaft) von einer Norm abweichen und sich stattdessen gesetzeskonform verhalten. Die ersten Kriminalitätstheorien wurden im 18. Jahrhundert aufgestellt (siehe: Klassische Schule der Kriminologie). Seither sind unzählige Erklärungen hinzugekommen. Manche Theorien erklären Kriminalität als das Ergebnis individueller Pathologien. Vor allem biologische Kriminalitätstheorien sehen das Verhalten krimineller Menschen in ihren Anlagen bedingt. Andere Theorien wiederum erklären Kriminalität als das Ergebnis von Umweltbedingungen, wie z.B. als Folge sozialstruktureller Ungleichheiten. Anomietheorien gehen beispielsweise davon aus, dass Kriminalität das Ergebnis einer gesellschaftlichen Erwartungssituation ist. Das Individuum kann diesen Erwartungen auf legitimen Wege nicht gerecht werden und verfällt in kriminelle Verhaltensweisen. Wiederum andere Theorien wie die herrschaftskritischen Kriminalitätstheorien, verneinen, dass es individuell bedingte Pathologien sind, die ursächlich für Kriminalität sind. Sie machen vielmehr das Gesellschaftssystem und darin bedingte Ungleichheiten verantwortlich. Aus dieser Perspektive existiert ein krimineller Akt nicht per se, sondern ist das Ergebnis einer gesellschaftlichen Definition. Diese Definitionsmacht, die zwischen Recht und Unrecht unterscheidet, ist Ausdruck einer gesellschaftlichen Machtposition. Als Kriminalität wird häufig das Verhalten bezeichnet, das diese Machtpositionen gefährdet.
Kriminalitätstheorien stellen zeit- und ortsabhängige Erklärungen dar und sind somit abhängig von gesellschaftlichen Wert- und Moralvorstellungen. Zudem unterscheiden sich die unterschiedlichen Kriminalitätstheorien gemäß ihrer fachspezifischen Zugänge (z.B. (Neuro-)Biologie, Psychologie, Sozialpsychologie/ Pädagogik, Soziologie usw.). Eine weitere Differenzierung der unterschiedlichen Theorien ist hinsichtlich Ihres Geltungsanspruchs festzumachen. Die Mehrzahl der Kriminalitätstheorien lassen sich als „Theorien mittlerer Reichweite“ (Robert K. Merton) beschreiben. Ihr Erklärungspotential geht über raumzeitlich eng begrenzte Phänomene hinaus, sie stellen jedoch auch keine umfassenden Gesellschaftstheorien dar. Dem Anspruch eine Totaltheorie (grand theory) der Kriminalität zu entwerfen, wurde bis heute nicht gerecht. Eine solche Theorie müsste in der Lage sein raumzeitlich unabhängig alle Formen der jeweils auftretenden normativen Abweichungen zu erklären. Auch die General Theory of Crime (Gottfredson & Hirschi), die mit diesem Anspruch antrat, konnte dieses Versprechen letztendlich nicht erfüllen (siehe: kritische Würdigung und Aktualitätsbezug) .
Zur besseren Übersicht ist den Erläuterungen der einzelnen Kriminalitätstheorien ein eigenständiger Bereich gewidmet. Eine Übersicht über alle Theorien und somit ein guter Startpunkt für Erkundungen ist die Seite Kriminalitätstheorien.
Weiterführende Literatur zum Thema
- Bernard, T. J.; Snipes, J. B.; Gerould, A. L. (2010). Vold’s Theoretical Criminology (6. Aufl.). New York, Oxford: Oxford University Press.
- Krimlex – Kriminalitätstheorien. Online unter: http://www.krimlex.de/artikel.php?BUCHSTABE=K&KL_ID=108
- Krimpedia – Theorie. Online unter: http://www.kriminologie.uni-hamburg.de/wiki/index.php/Theorie
- Pientka, M. (2014). Kriminalwissenschaften II. München: C.H. Beck.