Die Voluntaristische Kriminalitätstheorie von Dieter Hermann erklärt abweichendes Verhalten als Folge individueller Wertorientierungen und normativer Bindung. Sie verbindet handlungstheoretische Annahmen mit einer norm- und wertzentrierten Erklärungsperspektive und erweitert klassische Kriminalitätstheorien um eine dynamische Mikro-Makro-Verknüpfung.
Merkzettel
Voluntaristische Kriminalitätstheorie – Dieter Hermann
Hauptvertreter: Dieter Hermann
Erstveröffentlichung: 2003 („Werte und Kriminalität“)
Land: Deutschland
Idee/Annahme: Kriminalität entsteht in Abhängigkeit von individuellen Wertorientierungen und der Akzeptanz sozialer Normen. Personen mit materialistischer Wertorientierung und niedriger Normenakzeptanz begehen häufiger Delikte. Alter, Bildung und sozialer Kontext beeinflussen die Wertestruktur und damit die Delinquenzbereitschaft.
Knüpft an: Handlungstheorie (Parsons), Norm- und Wertetheorien, Rational Choice
Kritik an: Monokausale Subkulturtheorien, einseitige Fokussierung auf Unterschichtkriminalität, defizitäre Strafpraxis (z. B. durch negativen Einfluss harter Sanktionen)
Theorie
Hermann geht in seiner Theorie und in Anlehnung an Parsons von einem Menschen aus, der sich als ein produktiv realitätsverarbeitendes Subjekt darstellt. Jede Handlung basiert auf der subjektiven Situationswahrnehmung sowie der Auswahl von Zielen und Mitteln – stets vermittelt durch Normen und Werte.
Eingebunden in eine äußerst komplexe Umwelt, greift nun der Mensch auf Stereotype, Normen und Werte zurück, um Wichtiges von Unwichtigem zu trennen, also die Komplexität zu reduzieren und dadurch die erlangten Informationen besser verarbeiten zu können.
Normen und Werte strukturieren sowohl die Wahrnehmung als auch die Auswahl von Handlungszielen und -mitteln. Werte definieren, was als erstrebenswert gilt; Normen regulieren die zulässigen Mittel zur Zielerreichung.
Die Wertorientierung kann nach Annahme der Voluntaristischen Kriminalitätstheorie zwischen einer traditionellen Orientierung an Leistung, Religion und konservativer Konformität und einer materialistischen Orientierung an hedonistischen und subkulturell materialistischen Zielen unterschieden werden.
Die Normenakzeptanz ist wiederum stark von Alter und Bildung abhängig.
Es ergeben sich für Hermann daher folgende, empirisch auch gut gestützte Hypothesen:
1. Normenebene
Je ausgeprägter die Akzeptanz von Rechtsnormen ist, desto geringer sind die Delinquenzbelastungen der entsprechenden Personen.
Implikation: Normverinnerlichung wirkt kriminalitätspräventiv.
2. Wertorientierungsebene
Je ausgeprägter die Orientierung an traditionellen Werten ist, desto höher ist die Normakzeptanz; je ausgeprägter die Orientierung an modernen, materialistischen Werten ist, desto geringer ist die Normakzeptanz.
Implikation: Wertestrukturen beeinflussen das Verhalten über die Normenbindung.
3. Strukturmerkmalsebene
Je älter eine Person ist, desto stärker ist die Orientierung an traditionellen Werten. Je höher der Bildungsstatus, desto stärker ist die Orientierung an modernen, materialistischen Werten.
Implikation: Soziodemografische Merkmale wirken über Wertevermittlung auf die Delinquenzbereitschaft.
Demnach kann geschlussfolgert werden, dass ältere Menschen seltener kriminell werden als jüngere Menschen, weil ihre Akzeptanz von Rechtsnormen aufgrund traditionellerer Werte höher ist. Zudem lässt sich festhalten, dass besser gebildete Personen häufiger kriminell werden als Menschen mit einem niedrigeren Bildungsstatus, da sie häufiger einer weniger Rechtsnorm akzeptierenden, materialistischen Wertorientierung anhängen.
Hermann ist bei all dem in der Lage, sowohl auf Mikro- als auch auf Makroebene zu argumentieren: Demnach ändere sich die Wertorientierung innerhalb des individuellen Lebenslaufs, abhängig von Alter, Bildung und dem Wertewandel des eigenen sozialen Umfeldes (Mikroebene). Außerdem könne eine steigende Kriminalitätsrate durch die Veränderung gesamtgesellschaftlicher Werte zugunsten einer modern-materialistischen Orientierung erklärt werden (Makroebene).
Schließlich beschreibt die Voluntaristische Kriminalitätstheorie des Einfluss von Strafen und Sanktionen auf das Individuum, und zwar erneut bezüglich dynamischer Prozesse innerhalb persönlicher Wertorientierung und Normakzeptanz. Nach Hermann führen insbesondere schwere Sanktionen zum Ausbau materialistischer Werte und zum Abbau traditioneller Werte, was wiederum zu einer Verringerung der Akzeptanz geltender Rechtsnormen, also zu erhöhter Wahrscheinlichkeit, erneut kriminell zu werden, führt.
Hypothesenebenen und Perspektiven
Ebene | Hypothese | Implikation |
---|---|---|
Normenebene | Je höher die Akzeptanz von Rechtsnormen, desto geringer die Delinquenzbelastung. | Normverinnerlichung wirkt kriminalitätspräventiv. |
Wertorientierungsebene | Traditionelle Werte → höhere Normenakzeptanz; materialistische Werte → geringere Normenakzeptanz. | Wertestrukturen beeinflussen Normenbindung und damit das Verhalten. |
Strukturmerkmalsebene | Alter ↑ → traditionelle Werte ↑; Bildung ↑ → materialistische Werte ↑. | Soziodemografische Merkmale wirken auf Delinquenz über Wertevermittlung. |
Mikro- und Makroperspektive
- Mikroebene: Individuelle Wertorientierung verändert sich mit Alter, Bildung, Sozialisation und situativer Erfahrung (z. B. Sanktionserfahrung).
- Makroebene: Gesellschaftlicher Wertewandel (z. B. Zunahme materialistischer Werte) kann kollektive Anstiege der Kriminalitätsrate erklären.
Kriminalpolitische Implikationen
Hermanns Hinweis zu einem möglichen Wertewandel durch Sanktionen kann durchaus als Kritik an derzeit geltenden Strafpraxen angesehen werden.
Insbesondere lange Haft- und hohe Geldstrafen hätten selten resozialisierende Effekte, da sie einen Wertewandel hin zu egoistischen, hedonistischen und materialistischen Bestrebungen der Bestraften hervorrufen. Kriminalpräventiv wirksam wären Sanktionen, die prosoziale Wertorientierungen stärken, anstatt materialistische Haltungen zu fördern – etwa durch Restorative-Justice-Ansätze oder werteorientierte Bildungsmaßnahmen im Strafvollzug.
Hermann zeigt mit seiner Voluntaristischen Theorie zudem, dass Kriminalität kein Phänomen der Unterschicht ist, sondern vielmehr mit einem höheren Bildungsstatus und einer modernen Wertorientierung korreliert. Die allgemein geläufige Vorstellung, abweichendes Verhalten habe zumeist mit geringer Intelligenz oder mangelnder Bildung zu tun, wird hier konsequent verneint. Kriminalpolitisch kann demnach geschlussfolgert werden, dass der Blick mehr auf höhere Schichten und deren möglicherweise recht hohen Anteil an Kriminalität im Dunkelfeld zu richten ist. Kriminalpolitik sei nicht einfach mit Sozialpolitik gleichzusetzen, da es sich bei Kriminalität heute mehrheitlich nicht mehr um nur um Unterschichtkriminalität handelt.
Implizit steht hier also auch der Hinweis ganz nach Tradition des Kriminologie, die die Bedeutung gesellschaftlicher Zuschreibungsprozesse für die Entstehung von abweichendem Verhalten und Kriminalität betont.">Labeling Approach im Raum, dass Verbrechen vor allem dann publik gemacht und bestraft werden, wenn dies für die Mächtigen oder Herrschenden von Vorteil ist, wohingegen den so genannten repressiven Verbrechen und den kriminellen Handlungen von Mächtigen – entgegen ihrer mehr und mehr nachweisbaren kriminalpolitischen Relevanz – zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt wird.
Kritische Würdigung /Aktualitätsbezug
Die hier nur sehr knapp zusammengefasste Voluntaristische Kriminalitätstheorie kann in ihrer Gesamtkonzeption als eine äußerst umfassende, sowohl Kriminalität als auch Kriminalisierung berücksichtigende, sowohl makrosoziologisch als auch mikrosoziologisch dynamische, und zudem empirisch gut belegte Theorie (Hermann konnte nämlich innerhalb seiner eigenen Studien die Annahme eines Zusammenhangs zwischen materialistischen Werten und Kriminalität bestätigen) gewürdigt werden. Somit handelt es sich bei vorliegender Theorie um einen recht erfolgreichen Versuch, Kriminalität, aber auch Kriminalisierung, sehr allgemein und generell auf alle Delikte und Personengruppen bezogen zu erklären.
Der Rückgriff auf Normen und Werte zur Erklärung von Delinquenz ist zwar keinesfalls neu, doch gelingt es Hermann im Gegensatz zu beispielsweise Merton oder Hirschi, konkret zu umschreiben, welche Form der gesellschaftlichen Wertvorstellungen mit kriminellen Handlungen in Verbindung zu bringen sind und wie jene durch dynamische Prozesse sowie individuell als auch gesamtgesellschaftlich Veränderungen durchlaufen.
Es bleibt nun noch die Frage offen, ob es nicht dennoch Formen von Kriminalität gibt, die in keiner Weise mit Normen und Werten in Verbindung stehen.