Hauptvertreter
Richard Quinney, William Chambliss
Theorie
Die Inhalte der marxistischen Kriminalitätstheorien gehen nicht immer automatisch auf den Gesellschaftstheoretiker Karl Marx zurück. Vielmehr haben Gedanken neomarxistischer Philosophen diese Ansätze beeinflusst. So ist für eine kriminalitätsfreie Gesellschaft eine klassenlose Gesellschaft unabdingbar. Gesetze sind hier Ausdruck des freien Willens und dienen nicht der Durchsetzung von Klasseninteressen.
Der marxistische Denkansatz konzentriert sich daher auf die Konflikte zwischen den drei sozioökonomischen Klassen Kapitalisten (Besitzer von Produktionsmitteln und ökonomischen Werten), Bourgeoisie (Mittelschicht) und Proletariat (Arbeiterklasse).
Zentraler Gegenstand ist die Analyse des Zusammenhangs zwischen Wirtschaft und Politik, Wirtschaft und Staat sowie dem Rechtssystem. Aus marxistischer Sicht ergeben sich vier große Themenfelder:
- die ideologische Steuerung durch die Beeinflussung bzw. Manipulation von Wertvorstellungen (z.B. im Zuge der Sozialisation), die eine Stützung des kapitalistischen Gesellschaftssystems im Allgemeinen und der herrschenden Klasse im Besonderen gewährleistet
- die Entstehung von Gesetzen, die die Interessen der herrschenden Klasse widerspiegeln
- die Strafverfolgung, die verschiedene soziale Gruppen in unterschiedlichem Maße betrifft
- der kriminogene Charakter des Kapitalismus: Kapitalismus als Einflussfaktor auf die individuelle Motivation, Verbrechen zu begehen
1976 veröffentlichte William Chambliss seine Theorie, nach der Kriminalisierung Teil der politischen Ökonomie, des politischen Machtkampfes und der bürokratischen Organisation ist. In seinen Ausführungen über Machtverhältnisse bezieht er sich auf die Kategorien „soziale Klasse“ und „soziale Ungerechtigkeit“. Allein die Tatsache, dass es verschiedene soziale Klassen gibt, schafft soziale Konflikte. Regeln und Gesetze werden nur erlassen, damit die Etablierten Gefahren kontrollieren und abwehren können.
Die Kriminellen gehören demnach zur machtlosen Klasse, über die die mächtige Klasse bestimmt und ihnen den Status des Kriminellen zuweist.
Weiterführend war es Richard Quinney, der 1977 die bisherigen konflikttheoretischen Auffassungen spezifizierte, indem er marxistisches Gedankengut als konflikttheoretische Grundlage heranzog. Für ihn stellte jede Form von Dissidenz einen bewussten Widerstand gegen gesellschaftliche Unterdrückung dar. In seinen Ausführungen beschreibt er verschiedene Arten von Kriminalität, die von den Kapitalisten verursacht werden, um ihre Kontrolle über die Gesellschaft aufrechtzuerhalten. Im Gegensatz dazu beschreibt er die Kriminalität der Unterschicht als Überlebenshandlung. Quinney gilt als einer der einflussreichsten radikalen Kriminologen der USA. Er verfasste zunächst Konflikttheorien in den 60er Jahren, radikale Theorien in den 70er und 80er Jahren und später Ausführungen zum Peace-Making-Ansatz.
Insbesondere die instrumentalistische Analyse des Staates (Instrumentaler Marxismus: Gesetze und Strafjustizsystem sind Instrumente der kapitalistischen Klasse) steht im Vordergrund seiner Schriften: – Kriminalität als Ausdruck und Waffe im Klassenkampf – als Bedrohung des kapitalistischen Systems.
Kritische Würdigung
Radikale Ansätze werden aus unterschiedlichen Gründen kritisiert. Zum einen wird ihnen vorgeworfen, dass die von ihnen vertretene Annahme von Kriminalität als „normales“ und ubiquitäres Phänomen nicht neu sei (diese Feststellung fände sich bereits bei Durkheim).
Zum anderen wird kritisiert, dass die radikale Kriminalitätstheorie – ebenso wie der Labeling-Ansatz – den Blick einseitig auf die Normgenese richte und dabei den Normbruch aus dem Blick verliere. Teilweise wird argumentiert, dass es den radikalen Vertretern lediglich gelungen sei, traditionelle kriminologische Inhalte zu politisieren.
Weiterhin wird kritisiert, dass radikale Ansätze es versäumen, die kapitalistische Klasse und ihren Einfluss auf Normbildungsprozesse genauer zu analysieren.
Darüber hinaus wird thematisiert, dass die radikalen Vertreter ein idealisiertes Bild des Kriminellen als Rebellen geschaffen hätten und diese Rolle des Unterdrückten jede Form von Kriminalität entschuldige.
Literatur
Primärliteratur
- William Chambliss, Milton Mankoff (Hrsg.) (1976): Whose law? what order? : a conflict approach to criminology. New York: Wiley.
- Richard Quinney (1974): Critique of legal order : Crime control in capitalist society. Boston : Little, Brown and Co.
- Richard Quinney (1980): Class, State, and Crime. New York: Longman.
Sekundärliteratur