Mit seinem Werk Class, State, and Crime: On the Theory and Practice of Criminal Justice (1977) liefert Richard Quinney eine der einflussreichsten marxistischen Analysen zur Kriminalität und sozialen Kontrolle in den USA. Das Buch verbindet eine materialistische Gesellschaftsanalyse mit einer radikalen Kritik am staatlichen Strafsystem und ist ein Schlüsseltext der radikalen und kritischen Kriminologie.
Gesellschaftlicher Kontext und theoretische Grundlage
Quinney verfasst sein Werk vor dem Hintergrund wachsender sozialer Ungleichheit, staatlicher Repression (insbesondere gegen die Black Power- und Anti-Kriegs-Bewegungen) und eines allgemeinen Vertrauensverlustes in die Institutionen der liberalen Demokratie. Inspiriert durch Marx, Engels und kritische Gesellschaftstheorie richtet er den Blick auf die Strukturbedingungen kapitalistischer Gesellschaften und deren Einfluss auf die Konstruktion von Kriminalität und das Funktionieren des Strafrechts.
Cheat Sheet: Richard Quinney – Class, State, and Crime
Hauptvertreter: Richard Quinney
Erstveröffentlichung: 1977
Land: USA
Idee/Annahme: Kriminalität ist ein gesellschaftliches Machtverhältnis – nicht Ausdruck individueller Moral, sondern Ergebnis von Klassenverhältnissen, Repression und ideologischer Konstruktion. Strafrecht und Kriminalpolitik dienen der Aufrechterhaltung kapitalistischer Herrschaft.
Typische Begriffe: Klassenherrschaft, ideologische Funktion von Kriminalität, selektive Strafverfolgung, Repression, staatliches Gewaltmonopol
Einordnung: Kritische Kriminologie / Marxistische Kriminalitätstheorie
Verwandte Werke:
- Taylor, Walton & Young – The New Criminology (1973)
- Überblick: Kritische Kriminologie
- Fritz Sack – Neue Perspektiven in der Kriminologie (1968)
Zentrale Thesen
- 1. Kriminalität ist ein Klassenphänomen:
Quinney argumentiert, dass kriminelle Handlungen nicht losgelöst vom gesellschaftlichen Kontext verstanden werden können. Sie entstehen in einem sozioökonomischen Umfeld, das durch Ausbeutung, Entfremdung und soziale Ungleichheit geprägt ist. Insbesondere Menschen in prekären Lebenslagen begehen Delikte oft aus Not, Perspektivlosigkeit oder sozialer Marginalisierung heraus – etwa Diebstahl, Schwarzfahren oder Drogenhandel.Beispiel: Ein Jugendlicher aus einem verarmten Stadtteil wird wegen wiederholter Ladendiebstähle strafrechtlich verfolgt – ein Verhalten, das Ausdruck seiner materiellen Lage ist und nicht primär moralischem Versagen entspringt.
- 2. Der Staat schützt die herrschenden Klassen:
In Quinneys Perspektive ist der Strafrechtsapparat kein neutraler Schiedsrichter, sondern ein Instrument der Klassenherrschaft. Die Auswahl dessen, was als „kriminell“ gilt, spiegelt politische Machtverhältnisse wider. Gesetze sind demnach nicht universell, sondern orientieren sich an den Interessen ökonomisch und politisch dominanter Gruppen.Beispiel: Der Besitz von kleinen Mengen Cannabis wird mit Haft bedroht, während systematische Steuervermeidung durch Großunternehmen oft juristisch legalisiert oder nur symbolisch verfolgt wird.
- 3. Kriminalpolitik als Klassenpolitik:
Die Strafverfolgung konzentriert sich auf bestimmte Deliktsbereiche – vor allem auf die Kriminalität der unteren Klassen (z. B. Eigentums-, Verkehrs- oder Betäubungsmitteldelikte). Demgegenüber bleiben Wirtschaftsverbrechen, Umweltvergehen oder politische Korruption oft unterverfolgt. Strafrechtliche Selektion dient also der Disziplinierung sozialer Randgruppen.Beispiel: Während Armutsdelikte mit polizeilicher Präsenz und Freiheitsstrafen sanktioniert werden, werden nachgewiesene Umweltschäden durch Großkonzerne häufig mit Geldauflagen abgegolten – ohne strafrechtliche Konsequenz für verantwortliche Führungskräfte.
- 4. Die ideologische Funktion von Kriminalität:
Die öffentliche Debatte über Kriminalität erfüllt eine ideologische Funktion: Sie fokussiert auf individuelle Verfehlungen statt auf strukturelle Ursachen wie Arbeitslosigkeit, Bildungsungleichheit oder Wohnungsnot. „Law and Order“-Diskurse erzeugen moralische Empörung und legitimieren repressive Maßnahmen, die primär die sozial Schwachen treffen.Beispiel: Medienberichte über „kriminelle Ausländer“ oder „Clankriminalität“ lenken von den Ursachen sozialer Ausgrenzung ab – und fördern gesellschaftliche Spaltung statt solidarische Problemlösungen.
„Law and legal repression are, and continue to serve as, the means of enforcing the interests of the dominant class in the capitalist state. Through the legal system, then, the state forcefully protects its interests and those of the capitalist ruling class. Crime control becomes the coercive means of checking threats to the existing social and economic order, threats that result from a system of oppression and exploitation.
(Quinney, 1977, S. 45f.)
Differenzierung der Kriminalitätsformen
Richard Quinney nimmt in Class, State, and Crime eine differenzierte Typologie von Kriminalität vor, die deutlich macht, dass nicht jede Form von Devianz gleichermaßen staatlich produziert oder politisch instrumentalisiert ist. Er unterscheidet unter anderem:
- Predatory crime: Eigentums- und Gewaltdelikte aus Armut und Marginalisierung, häufig repressiv verfolgt.
- White-collar und corporate crime: Delikte der ökonomischen Eliten, die oft unterverfolgt oder gar legitimiert sind.
- Political crime: Protest- oder Widerstandshandlungen, die als Bedrohung des Systems kriminalisiert werden.
- Lumpen crime: Formen unorganisierter, destruktiver Devianz ohne politisches Bewusstsein – oft von revolutionären Bewegungen selbst als regressiv betrachtet.
Diese Unterscheidung zeigt: Nicht jede Form von Kriminalität entsteht durch herrschaftliche Repression – entscheidend ist vielmehr, wie mit ihr umgegangen wird. Während Elitenkriminalität oft geduldet wird, reagiert der Staat auf politische und subalterne Kriminalität mit besonders scharfer Repression.
Quinney und die Marxistische Kriminologie
Quinney gilt als einer der zentralen Vertreter der marxistischen Kriminologie in den USA. Seine Argumentation basiert auf einem instrumentalistischen Verständnis des Staates: Der Staat handelt im Interesse der herrschenden Klasse und nutzt Kriminalpolitik als Mittel zur sozialen Kontrolle. In späteren Arbeiten wie The Problem of Crime (1985) entfernt sich Quinney jedoch zunehmend von dieser orthodox-marxistischen Perspektive und entwickelt eine spirituell-ethische Vision einer friedlichen Gesellschaft, in der Vergebung, soziale Gerechtigkeit und individuelle Transformation im Mittelpunkt stehen.
Einordnung in die Kritische Kriminologie
Quinneys Werk steht in enger Verbindung zur britischen New Criminology von Taylor, Walton und Young, unterscheidet sich jedoch durch seine stärkere Anbindung an die marxistische Staatstheorie und seine explizit politische Stoßrichtung. Während die britischen Autoren auf eine „vereinigte Theorie“ der Devianz abzielten, analysiert Quinney den Staat als institutionalisierten Agenten der Klassenherrschaft.
Kritik und Rezeption
Class, State, and Crime wurde vielfach rezipiert, aber auch kritisiert:
- Gelobt wurde Quinneys prägnante Kritik an Strafsystem und Klassengesellschaft sowie seine Fähigkeit, theoretische und empirische Argumente zu verbinden.
- Kritik entzündete sich an seinem deterministischen Klassenbegriff, der pluralistische und intersektionale Perspektiven (z. B. Gender, Race) vernachlässige.
- Spätere Werke Quinneys zeigen eine Entwicklung hin zu einer pazifistisch-humanistischen Ethik, die vom klassischen Marxismus abrückt – eine Entwicklung, die ebenfalls kritisch, aber auch als notwendige Erweiterung interpretiert wurde.
Weiterdenken: Die Aktualität von Quinneys Kritik
Quinney zeigte bereits in den 1970er-Jahren, dass Strafrecht und Kriminalpolitik nicht bloß Mittel zur Verbrechensbekämpfung sind, sondern Werkzeuge zur Reproduktion sozialer Ordnung im Interesse der Herrschenden. Diese Perspektive lässt sich mit Blick auf heutige Entwicklungen eindrucksvoll aktualisieren:
- Neoliberale Umstrukturierungen in Großbritannien seit Thatcher und in den USA seit Reagan (und erneut unter Trump) gingen mit dem Abbau sozialstaatlicher Sicherungssysteme, der Privatisierung öffentlicher Dienste und einer Expansion des Strafrechts einher – ganz im Sinne von Quinneys These, dass der Staat nicht neutral, sondern Klasseninteressen verpflichtet ist.
- Populistische und autoritäre Bewegungen in Europa inszenieren „innere Sicherheit“ als oberstes politisches Gut – verbunden mit migrationsfeindlichen Strafverschärfungen, Law-and-Order-Rhetorik und einer selektiven Anwendung des Rechts, die meist benachteiligte Gruppen trifft.
- Systematische Straflosigkeit bei Umweltvergehen, Steuervermeidung oder politischer Korruption (etwa unter Donald Trump oder durch Lobbyverflechtungen in der EU) verdeutlichen, dass ökonomische und politische Eliten häufig außerhalb des Blickfelds strafrechtlicher Kontrolle agieren.
In diesem Kontext erscheint Quinneys Analyse von Kriminalpolitik als Herrschafts- und Klassenpolitik heute relevanter denn je. Seine Forderung nach einer kritischen, an sozialen Ursachen orientierten Kriminologie bleibt ein dringendes wissenschaftliches und politisches Desiderat.
Weiterführend
- Taylor, Walton & Young – The New Criminology (1973)
- Kritische Kriminologie (Überblick)
- Fritz Sack – Neue Perspektiven in der Kriminologie (1968)
Literaturverzeichnis und weiterführende Informationen
- Quinney, R. (1977). Class, State, and Crime: On the Theory and Practice of Criminal Justice. New York: Longman.
- Quinney, R. (1985). The Problem of Crime. Newbury Park: Sage.
- Taylor, I., Walton, P. & Young, J. (1973). The New Criminology. London: Routledge.
- Sack, F. (1968). Neue Perspektiven in der Kriminologie. In: Sack, F./König, R. (Hrsg.): Kriminalsoziologie. Frankfurt a. M.: Athenäum, S. 431–475.