Der Soziologe Fritz Sack entwickelte Anfang der 1970er Jahre eine besonders radikale Variante der Labelling-Theorien. Ihm zufolge ist KriminalitätKriminalität bezeichnet gesellschaftlich normierte Handlungen, die gegen das Strafgesetz verstoßen. nicht das Resultat individueller Dispositionen oder sozialer Ursachen, sondern entsteht ausschließlich durch gesellschaftliche Zuschreibungsprozesse. Um die politische Dimension von KriminalisierungDer Prozess, durch den bestimmte Handlungen oder Verhaltensweisen durch gesetzliche Bestimmungen als kriminell definiert und strafrechtlich verfolgt werden. hervorzuheben, schlug Sack vor, den Begriff „Labelling“ durch den Ausdruck marxistisch-interaktionistisch zu ersetzen.
Theoretische Fundierung: Marxistisch-interaktionistischer Ansatz
Fritz Sacks Theorie verbindet zwei zentrale Perspektiven: den Symbolischen Interaktionismus und die Marxistische Gesellschaftstheorie. Während der Symbolische Interaktionismus betont, dass Kriminalität durch soziale Zuschreibungsprozesse entsteht, rückt die marxistische Perspektive die ungleiche Machtverteilung in den Vordergrund.
Nach Sack sind Zuschreibungen (Labelings) nicht neutral, sondern Ausdruck gesellschaftlicher Machtverhältnisse. Wer als „kriminell“ gilt, wird durch soziale Positionen und Klasseninteressen bestimmt. Das Strafrecht dient dabei als Instrument der sozialen Kontrolle durch die herrschenden Klassen gegenüber den sozial Schwächeren.
Damit radikalisiert Sack klassische Labelling-Theorien, indem er die Makrostrukturen gesellschaftlicher Ungleichheit systematisch in seine Theorie integriert.
Radikaler Labeling-Ansatz – Fritz Sack
Hauptvertreter: Fritz Sack
Erstveröffentlichung: 1972 („Definition von Kriminalität als politisches Handeln: Der labeling approach“)
Land: Deutschland
Idee/ Annahme: Kriminalität entsteht ausschließlich durch gesellschaftliche Zuschreibungsprozesse. ZuschreibungEin sozialer Prozess, bei dem bestimmten Personen oder Gruppen bestimmte Eigenschaften oder Merkmale zugeschrieben werden – oft unabhängig von deren tatsächlichem Verhalten. ist die einzige Ursache für die Existenz von Kriminalität. Das Recht dient als Instrument sozialer Herrschaft („Klassenjustiz“).
Knüpft an: Symbolischer Interaktionismus, Marxistische Gesellschaftstheorie, Kritische Kriminologie (in Abgrenzung zu Becker und Lemert)
Theorie
Im Zentrum von Sacks Ansatz steht die These, dass Kriminalität vollständig als Ergebnis sozialer Zuschreibungsprozesse verstanden werden muss. Er geht von einer Ubiquitätsthese aus: Abweichendes Verhalten kommt in allen gesellschaftlichen Gruppen gleichermaßen vor (vgl. Durkheims Normalitätsthese der Kriminalität).
Damit grenzt sich Sack deutlich von früheren Labelling-Theoretikern wie Howard S. Becker und Edwin M. Lemert ab. Während diese davon ausgingen, dass es neben gesellschaftlicher Zuschreibung eine objektive Ebene (primäre DevianzVerhalten, das von gesellschaftlichen NormenVerhaltensregeln und Erwartungen, die innerhalb einer Gesellschaft oder sozialen Gruppe als verbindlich gelten. abweicht und als regelverletzend wahrgenommen wird – unabhängig von seiner strafrechtlichen Relevanz. oder Normbruch) gebe, bestreitet Sack dies: Jede kriminelle Handlung entsteht einzig und allein durch den Akt der Zuschreibung.
Nach Sack durchläuft ein physikalisches Geschehen eine soziale Karriere: Es wird durch soziale Akteure interpretiert, bewertet und schließlich kriminalisiert. Welche Verhaltensweisen als kriminell gelten, ist demnach rein definitorischer Natur und keine inhärente Eigenschaft bestimmter Handlungen.
Marxistisch-interaktionistischer Ansatz
Sack betont, dass Kriminalisierung immer im Kontext von Machtverhältnissen erfolgt. Die Etikettierung als „kriminell“ betrifft überproportional Angehörige der Unterschichten, während Herrschende eher von Strafverfolgung verschont bleiben. Das Rechtssystem wird damit zum Instrument sozialer Herrschaft und zur Durchsetzung bestehender Machtverhältnisse („Klassenjustiz“).
Für die KriminologieKriminologie ist die interdisziplinäre Wissenschaft vom VerbrechenEin Verbrechen ist eine besonders schwerwiegende Form rechtswidrigen Handelns, die im Strafrecht mit einer Mindestfreiheitsstrafe von einem Jahr oder mehr bedroht ist – zugleich ist es ein sozial und historisch wandelbares Konstrukt., seinen Ursachen, Erscheinungsformen, gesellschaftlichen Reaktionen und der sozialen Kontrolle von abweichendem Verhalten. hat diese Sichtweise weitreichende Folgen: Fragestellungen der positivistischen Schule – etwa warum Menschen kriminell werden – werden aus Sacks Perspektive obsolet. Entscheidend ist nicht das Verhalten selbst, sondern der gesellschaftliche Definitionsprozess.
Kritische Würdigung
Fritz Sacks radikaler Labelling-Ansatz markiert einen Paradigmenwechsel in der deutschen Kriminologie, dessen Einfluss bis heute spürbar ist. Besonders in den 1970er Jahren stieß seine Theorie auf erheblichen Widerstand und polarisierte die Fachwelt.
In seinen Schriften wird deutlich, dass Sack die wissenschaftliche Auseinandersetzung als politisch motivierten Konflikt verstand. So warf er seinen Kritikern vor, sie würden keine rational überprüfbaren Argumente liefern, sondern sich auf „Spruchweisheiten und Allerweltsformeln“ stützen (Sack, 1972, S. 4).
Gleichzeitig wird aus heutiger Perspektive die Radikalität seines Ansatzes vielfach als zu einseitig kritisiert. Insbesondere der Vorwurf, dass Täter vollständig zu Opfern gesellschaftlicher Prozesse gemacht und deren eigenes Handeln vernachlässigt werde, gehört zu den häufigsten Einwänden gegen den radikalen Labelling-Ansatz.
Stärken und Schwächen des radikalen Labelling-Ansatzes
- Stärke: Radikale Entnaturalisierung des Kriminalitätsbegriffs und Betonung der politischen Dimension von Strafverfolgung.
- Schwäche: Vernachlässigung individueller Handlungsmotive und realer Schädigungen durch bestimmte Delikte.
Vergleich: Becker, Lemert und Sack
- Edwin M. Lemert: Unterscheidung zwischen primärer (erste Regelverletzung) und sekundärer Devianz (abweichendes Selbstkonzept nach Etikettierung). Fokus auf individuelle Reaktionen auf soziale Zuschreibungen.
- Howard S. Becker: Devianz ist keine Eigenschaft der Handlung selbst, sondern entsteht durch soziale Zuschreibung (Labeling). Schwerpunkt auf den gesellschaftlichen Prozessen der Normsetzung und Normdurchsetzung.
- Fritz Sack: Radikale Erweiterung: Zuschreibung ist die einzige Ursache von Kriminalität. Kriminalisierung wird als Ausdruck von Macht- und Klassenverhältnissen verstanden. Betonung marxistischer Gesellschaftsanalyse.
Literatur
Primärliteratur
- Fritz Sack, René König (Hrg.): Kriminalsoziologie, 1. Auflage, 1968,Frankfurt a.M.: Akad-Verl.-Ges.
- Fritz Sack: Zu einem Forschungsprogramm für die Kriminologie, Kriminologisches Journal 4/1973: 251.
- Fritz Sack : Definition von Kriminalität als politisches Handeln: Der labeling approach, in: Kriminologisches Journal, Jg. 4 (1972), H. 1, S. 3-31.