Mit seinem provokanten Titel Wir sind nie modern gewesen stellt Bruno Latour die Selbstverständlichkeit der modernen Welt radikal infrage. Das Werk zählt zu den zentralen Texten der Wissenschaftssoziologie und markiert zugleich einen Wendepunkt im Denken über die Beziehungen zwischen Natur, Technik und Gesellschaft. Latour argumentiert, dass die Moderne eine Illusion sei – ein ideologisches Konstrukt, das auf der künstlichen Trennung zwischen Natur und Gesellschaft beruht. Seine Analyse greift weit über die Grenzen der Soziologie hinaus und ist für viele Disziplinen, von der Anthropologie über die Technikforschung bis zur politischen Theorie, relevant. Angesichts ökologischer Krisen, globaler Verflechtungen und technikvermittelter Alltagspraktiken gewinnt Latours Perspektive im Zeitalter des Anthropozäns zusätzlich an Aktualität.
Bruno Latour und der Entstehungskontext
Bruno Latour (1947–2022) war ein französischer Soziologe, Anthropologe und Philosoph. Er gilt als Mitbegründer der Akteur-Netzwerk-Theorie (ANT), die klassische Grenzen zwischen Subjekt und Objekt, Natur und Gesellschaft, Mensch und Technik auflöst. In den 1980er-Jahren beschäftigte sich Latour intensiv mit wissenschaftlichen Praktiken in Laboren (Labor Life, mit Steve Woolgar) und entwickelte eine eigenständige Perspektive auf die Produktion von Fakten. Wir sind nie modern gewesen ist das erste Buch, in dem er seine kritische Haltung gegenüber den Grundlagen der Moderne systematisch entfaltet – und zugleich ein Plädoyer für ein neues Verständnis von sozialen Ordnungen, in denen Normen, Technologien und Umweltbedingungen untrennbar miteinander verflochten sind.
Wir sind nie modern gewesen nach Bruno Latour
KOKUYO, CC BY-SA 4.0, via Wikimedia Commons
Hauptvertreter: Bruno Latour (1947–2022)
Erstveröffentlichung: 1991 (französisch), 1995 (deutsch)
Land: Frankreich
Idee/ Annahme: Die Moderne ist ein Mythos, der auf der künstlichen Trennung von Natur und Gesellschaft beruht. In Wirklichkeit handeln Menschen, Dinge, Technologien und Normen gemeinsam in hybriden Netzwerken.
Grundlage für: Akteur-Netzwerk-Theorie (ANT), Wissenschaftssoziologie, Techniksoziologie, Umweltsoziologie, Posthumanismus, Anthropozän-Debatten, kritische Polizeiforschung.
Zentrale Thesen des Werks
Im Zentrum von Latours Argumentation steht die These, dass die moderne Gesellschaft auf einem Widerspruch beruht: Sie trennt offiziell Natur und Gesellschaft, verwebt sie in der Praxis jedoch ständig. Diese „moderne Verfassung“, wie Latour sie nennt, sei geprägt durch zwei gegensätzliche Bewegungen:
- Trennung (Purifikation): Die Unterscheidung zwischen Natur (Wissenschaft) und Kultur (Politik, Gesellschaft).
- Vermittlung (Übersetzung): Die Erzeugung von sogenannten Hybriden – Mischformen aus Natur und Gesellschaft, wie technische Artefakte, medizinische Innovationen oder Umweltprobleme.
Latour kritisiert, dass die Moderne vorgibt, diese Mischformen nicht zu sehen. Seine Forderung lautet daher: Wir müssen die reale Verflechtung von Akteuren (Menschen, Dingen, Institutionen) ernst nehmen und sie in einer „symmetrischen Anthropologie“ untersuchen, die keine ontologische Hierarchie zwischen Natur und Gesellschaft voraussetzt. Gerade in einer zunehmend durch Digitalisierung und globale Netzwerke geprägten Welt werden diese hybriden Konstellationen zur zentralen Herausforderung für die soziologische Analyse.
Die Moderne war nie modern. Es ist an der Zeit, ihr den Rücken zu kehren. – nach Bruno Latour
Theoretische Einordnung
Latours Ansatz lässt sich schwer in klassische Kategorien einordnen. Er steht quer zu den makrosoziologischen Theorien von Marx oder Durkheim, aber auch zu interpretativen Ansätzen wie der Verstehenden Soziologie Webers. Seine Arbeit ist stark von der Wissenschafts- und Technikforschung geprägt und beeinflusst von poststrukturalistischen Denktraditionen. In der Soziologie lässt sich Wir sind nie modern gewesen am ehesten als Beitrag zur Akteur-Netzwerk-Theorie (ANT) verorten, die auf eine radikale Entgrenzung des Sozialen abzielt: Nicht nur Menschen handeln, sondern auch Objekte, Technologien und nichtmenschliche Akteure.
Die Akteur-Netzwerk-Theorie ist ein soziologischer Ansatz, der davon ausgeht, dass soziale Wirklichkeit durch Netzwerke von menschlichen und nicht-menschlichen Akteuren entsteht. Dabei werden Dinge, Technologien, Tiere oder Naturphänomene als gleichberechtigte Handlungsträger (Akteure) betrachtet. Die ANT verzichtet auf klassische Unterscheidungen wie Subjekt vs. Objekt oder Natur vs. Gesellschaft und untersucht stattdessen, wie stabile Ordnungen durch das Zusammenspiel vielfältiger Elemente in Netzwerken entstehen. Wichtige Vertreter:innen sind Bruno Latour, Michel Callon und John Law.Beispiel: Polizeikontrolle im Netzwerkdenken der ANT
- Technische Artefakte: Das Lasermessgerät, das die Geschwindigkeit misst, oder die Bodycam, die die Situation dokumentiert.
- Rechtliche Normen: Verkehrsregeln, Dienstvorschriften, Datenschutzrichtlinien – sie strukturieren das Verhalten aller Beteiligten.
- Materielle Umgebungen: Die Straße, das Wetter oder die Beleuchtung beeinflussen, wie die Kontrolle durchgeführt wird.
- Soziale Rollen: Die Uniform signalisiert Autorität, die kontrollierte Person reagiert entsprechend ihrer Rolle (z. B. Autofahrende, Migrant:in, Jugendlicher).
Aus ANT-Perspektive entsteht die soziale Realität der Polizeikontrolle nicht allein durch menschliche Interaktion, sondern durch das Zusammenspiel eines gesamten Netzwerks aus Menschen, Dingen, Normen und Kontexten.
Im Gegensatz zu systemtheoretischen Modellen (etwa bei Niklas Luhmann) betont Latour nicht die autopoietische Geschlossenheit sozialer Systeme, sondern deren offene, dynamische und stets neu zu verhandelnde Netzwerke. Seine Theorie verweist auf die Grenzen klassischer Gesellschaftsbilder und ist anschlussfähig an postmoderne und posthumanistische Perspektiven – ebenso wie an aktuelle Diskurse in der Umweltsoziologie, Technikethik oder Kriminalsoziologie.
Rezeption und Bedeutung
Latours Werk wurde sowohl gefeiert als auch kontrovers diskutiert. Besonders in der Wissenschaftsforschung und Techniksoziologie gilt Wir sind nie modern gewesen als Meilenstein. Die Kritik an der Trennung von Natur und Gesellschaft hat zahlreiche Debatten über das Verhältnis von Wissenschaft, Politik und Öffentlichkeit angestoßen – bis hin zur Klimaforschung und den sogenannten „postfaktischen“ Öffentlichkeiten. Auch in der Anthropologie, der STS-Forschung (Science and Technology Studies), der politischen Ökologie und zunehmend in der Migrations- und Risikoforschung hat das Werk tiefe Spuren hinterlassen. Latours Denkweise bietet Anknüpfungspunkte für die Analyse transnationaler Herausforderungen, digitaler Infrastrukturen und neuer Formen sozialer Ungleichheit.
Fazit
Wir sind nie modern gewesen ist ein Schlüsselwerk für eine reflexive Soziologie der Gegenwart. Latour dekonstruiert den Mythos der Moderne und entwirft eine neue Perspektive auf das Soziale, die technische Artefakte, Naturphänomene und menschliche Akteure gleichberechtigt behandelt. Sein Werk fordert dazu auf, die Verbindungen zwischen Dingen, Menschen und Institutionen ernst zu nehmen – eine Haltung, die angesichts ökologischer Krisen, technologischer Umbrüche und globaler Interdependenzen dringlicher ist denn je.
Literatur
- Latour, Bruno (1995): Wir sind nie modern gewesen. Versuch einer symmetrischen Anthropologie. Frankfurt a. M.: Fischer Taschenbuch Verlag. [Original: 1991]
- Latour, Bruno (1993): We Have Never Been Modern. Cambridge: Harvard University Press.
- Schäfer, Wolfgang (2006): Bruno Latour zur Einführung. Hamburg: Junius Verlag.
- Kalthoff, Herbert / Hirschauer, Stefan / Lindemann, Gesa (Hg.) (2008): Theoretische Empirie. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.