Etablierte und Außenseiter gilt als Schlüsselwerk der Figurationssoziologie und als richtungsweisende Studie zur Erklärung sozialer Ungleichheit und Ausgrenzung auf Gruppenebene. Aufbauend auf Elias’ Zivilisationstheorie analysieren Elias und Scotson, wie in einer kleinen englischen Gemeinde Machtunterschiede und Abwertungsmechanismen zwischen zwei formal gleichgestellten Bevölkerungsgruppen entstehen und sich verfestigen. Die Studie liefert ein feinsinniges Modell für das Verständnis von Stigmatisierung, sozialer Kontrolle und Gruppenprozessen – und bleibt auch für heutige Debatten über Integration, Marginalisierung und soziale Kohäsion hochrelevant.
Wissenschaftlicher und historischer Kontext
Die Studie wurde Anfang der 1960er-Jahre in der englischen Kleinstadt „Winston Parva“ durchgeführt – ein Pseudonym für eine typische Mittelstandssiedlung. Ziel war es, empirisch zu untersuchen, wie soziale Ungleichheit in Form von Gruppenstatus entsteht, auch wenn objektiv nur geringe ökonomische Unterschiede bestehen. Norbert Elias, bekannt durch Über den Prozeß der Zivilisation, entwickelte gemeinsam mit dem Soziologen John L. Scotson ein Forschungsdesign, das das Verhältnis zweier Gruppen – der Etablierten und der Außenseiter – in ihrem alltäglichen Zusammenleben untersuchte.
Zentrale Fragestellung
Warum und wie gelingt es etablierten Gruppen, ihre Machtstellung zu behaupten – selbst dann, wenn objektive Unterschiede in Besitz, Bildung oder Einkommen nur gering sind? Elias und Scotson zeigen, dass sich soziale Überlegenheit nicht allein auf materielle Ressourcen stützt, sondern auf symbolische Ordnungen, Normdeutungshoheit und narrative Kontrolle.
Wie entsteht die Abwertung der Außenseiter?
Die Etablierten stützen ihre soziale Überlegenheit nicht auf materielle Ressourcen, sondern auf symbolisches Kapital: lange Ansässigkeit, moralische Selbstdisziplin, Netzwerkdichte und Normkonformität. Außenseiter werden durch Gerüchte, moralische Diskreditierung und stereotype Zuschreibungen abgewertet – etwa als „unzuverlässig“, „erziehungsunfähig“ oder „unsittlich“.
Dieser Prozess wirkt kollektiv: Abweichendes Verhalten wird generalisiert, Einzelne stehen stellvertretend für die ganze Gruppe. So entsteht eine strukturelle Stigmatisierung, die sich selbst verstärkt – auch durch institutionelle Ausschlüsse.
Vergleichbare Dynamiken finden sich in heutigen Debatten über Integration, soziale Milieus oder Jugenddelinquenz. Elias’ Analyse liefert ein Erklärungsmuster für die symbolische Produktion von Ungleichheit, das weit über den untersuchten Ort hinausreicht.
Obwohl Etablierte und Außenseiter die Verfolgung der Juden im Nationalsozialismus nicht explizit thematisiert, lassen sich Parallelen zu frühen Mechanismen der Ausgrenzung erkennen: moralische Abwertung, pauschale Abgrenzung, soziale Isolation. Elias selbst war als Jude von antisemitischer Verfolgung betroffen – seine Theorie liefert somit auch ein analytisches Instrument zur Deutung kollektiver Gewaltprozesse.
Etablierte – Außenseiter: Zwei Gruppen, ungleiche Macht
Die Etablierten sind eine lang ansässige Gruppe, die sich durch ein starkes „Wir-Gefühl“, interne Solidarität und moralische Kohärenz definiert. Sie haben eine gemeinsame Geschichte, eine höhere Reputation und die Definitionsmacht über das, was als „normales“ oder „respektables“ Verhalten gilt. Die Außenseiter hingegen sind neu zugezogen, weniger vernetzt, uneinheitlich in ihren Lebensstilen – und werden durch Gerüchte, Bewertungen und sozialen Druck von zentralen Positionen ausgeschlossen. Trotz vergleichbarer materieller Voraussetzungen entsteht ein stabiles Machtgefälle.
Etablierte – Außenseiter-Konfiguration
Die Unterscheidung zwischen Etablierten und Außenseitern bildet das Herzstück von Elias’ und Scotsons Analyse. Sie zeigen, wie soziale Ungleichheit auch dort entsteht, wo objektiv kaum materielle Unterschiede bestehen. Entscheidend ist nicht nur der Besitz ökonomischer Ressourcen, sondern die Kontrolle über Deutungsmacht, moralische Standards und soziale Netzwerke. Elias und Scotson schreiben:
Wie die Untersuchung in Winston Parva lehrte, neigt eine Etabliertengruppe dazu, der Außenseitergruppe insgesamt die ’schlechtesten‘ Eigenschaften der ’schlechtesten‘ ihrer Teilgruppe, ihrer anomischen Minorität zuzuschreiben. Und umgekehrt wird das Selbstbild der Etabliertengruppe eher durch die Minorität ihrer ‚besten‘ Mitglieder, durch ihre beispielhafteste oder ’nomischste‘ Teilgruppe geprägt. Diese pars-pro-tot-Verzerrung in entgegengesetzter Richtung erlaubt es den Etablierten, ihre Glaubensaxiome vor sich und anderen als begründet zu erweisen: sie haben immer Belege dafür parat, daß die eigene Gruppe ‚gut‘ ist und die andere ’schlecht‘. (Elias & Scotson, 1993, S. 13).
Dieser Mechanismus lässt sich auch in heutigen gesellschaftlichen Debatten beobachten – etwa im Kontext von Migration und kultureller Zugehörigkeit.
Von Goethe bis zum „Sozialschmarotzer“ – Pars-pro-toto-Denken in aktuellen Debatten
Ein zentrales Ergebnis der Studie Etablierte und Außenseiter ist das sogenannte pars-pro-toto-Prinzip: Die Etablierten neigen dazu, sich über ihre „besten“ Mitglieder zu definieren, während sie die Außenseiter über deren „schlechteste“ Mitglieder wahrnehmen – unabhängig davon, wie repräsentativ diese tatsächlich sind.
Diese Verzerrung lässt sich auch in aktuellen gesellschaftlichen Debatten beobachten. So wird im Kontext von Migration und Integration häufig auf die „deutsche Leitkultur“ verwiesen – verbunden mit Verweisen auf Dichter und Denker wie Goethe oder Schiller, technologische Exzellenz oder wirtschaftlichen Erfolg.
Zugleich werden Migrant:innen – insbesondere muslimisch markierte Gruppen – nicht selten mit negativen Ausnahmefällen wie islamistischen Gefährdern, „Clankriminalität“ oder Sozialleistungsmissbrauch assoziiert. Damit entsteht ein symbolisches Ungleichgewicht, das bestehende Macht- und Statusunterschiede nicht nur rechtfertigt, sondern reproduziert.
Was Elias & Scotson am Beispiel zweier Nachbarschaften analysieren, findet sich so auch im großen Maßstab moderner Migrationsgesellschaften wieder – als mechanismusgeleitete Abwertung unter dem Deckmantel kultureller Differenz.
Etablierte Gruppen verfügen über hohes soziales Prestige, langjährige lokale Verankerung und starke interne Normbindung. Sie prägen die dominanten Diskurse über Ordnung, Anstand und Zugehörigkeit – und grenzen sich dadurch symbolisch von anderen ab. Außenseiter hingegen sind häufig neu zugezogen, sozial fragmentierter und weniger einflussreich. Sie werden durch Gerüchte, Pauschalurteile und symbolische Abwertungen stigmatisiert.
Die folgende Tabelle stellt zentrale Merkmale der Etablierten-Außenseiter-Konfiguration gegenüber. Sie macht deutlich, dass es sich hierbei nicht um eine singuläre Fallstudie handelt, sondern um ein strukturell wiederkehrendes Muster sozialer Ungleichheit, das auch in heutigen Gesellschaften wirksam ist.
Merkmal | Etablierte | Außenseiter |
---|---|---|
Zentrale Dimension des Gruppenvergleichs | Etablierte gelten als moralisch überlegene Normsetzer. | Außenseiter gelten als moralisch unterlegen und abweichend. |
Historische Dauer der Ansässigkeit in der Gemeinschaft | Die Etablierten verweisen auf ihre lange Zugehörigkeit zur Gemeinschaft. | Als Neuzugezogene fehlt ihnen kollektive Geschichte und Anerkennung. |
Innere Verbundenheit und Gruppenidentität | Hoher Gruppenzusammenhalt stützt das Wir-Gefühl. | Geringe Bindung macht sie anfälliger für soziale Isolation. |
Grad der Anpassung an etablierte Normen | Konformes Verhalten gilt als Ausweis zivilisierter Selbstkontrolle. | Normabweichung wird ihnen oft pauschal unterstellt. |
Deutungsmacht über moralische und soziale Standards | Sie bestimmen, was als normal, respektabel oder abweichend gilt. | Sie werden von den Etablierten negativ etikettiert. |
Art und Funktion gruppeninterner Kommunikation | Gerüchte zementieren den sozialen Status und schützen die Gruppe. | Gerüchte dienen ihrer Abwertung und sozialen Kontrolle. |
Möglichkeit zur Nutzung gesellschaftlicher Ressourcen | Bessere Netzwerke sichern Einfluss und privilegierten Zugang. | Sie haben erschwerten Zugang zu Macht und Einfluss. |
Grad an öffentlicher Präsenz und Einfluss | Etablierte prägen den öffentlichen Raum und dominieren Diskurse. | Auffälligkeit wird oft als Bestätigung von Vorurteilen gedeutet. |
Theoretische Fundierung: Figuration, Selbstzwang und soziale Kontrolle
Die Studie ist tief in Elias’ Theorie sozialer Figurationen verwurzelt. Gesellschaft besteht aus dynamischen Netzwerken wechselseitiger Abhängigkeiten – sogenannte Figurationen. Innerhalb dieser Beziehungsgeflechte entwickeln sich Machtbalancen, kollektive Normen und Verhaltensanforderungen. Die Etablierten zeichnen sich durch ein hohes Maß an Selbstdisziplinierung aus – eine Form von „zivilisatorischem Kapital“, das ihnen moralische Überlegenheit und soziale Kontrolle verleiht.
Aktualität und gesellschaftlicher Bezug
Die Ergebnisse der Studie lassen sich auf viele gegenwärtige soziale Konfliktlagen übertragen – etwa auf Spannungen zwischen Mehrheits- und Minderheitsgruppen, Alteingesessenen und Zugewanderten oder zwischen verschiedenen Milieus in städtischen Räumen. Auch im Kontext von Polizei und öffentlicher Ordnung ist das Modell relevant: Hier lassen sich etablierte Berufskulturen, Gruppendynamiken oder Abwertungsmechanismen gegenüber Außengruppen (z. B. marginalisierten Jugendlichen) mit Elias’ Ansatz analysieren.
Vergleichbare Studie: Die Arbeitslosen von Mariental (1933)
Die berühmte österreichische Studie von Jahoda, Lazarsfeld und Zeisel untersuchte die Folgen von Langzeitarbeitslosigkeit auf das soziale Leben einer Gemeinde. Sie zeigt ähnlich wie Elias & Scotson, wie Desintegration, Normverlust und soziale Marginalisierung durch kollektive Dynamiken verstärkt werden können – ein frühes Beispiel empirischer Sozialforschung mit figurationalem Bezug.
Fazit
Mit Etablierte und Außenseiter haben Elias und Scotson eine theoretisch tief fundierte und empirisch dichte Studie vorgelegt, die soziale Ungleichheit jenseits ökonomischer Kategorien erklärt. Ihr Beitrag liegt in der Verbindung von Gruppenanalyse, Zivilisationstheorie und Stigmatisierungsforschung – und liefert ein analytisches Instrumentarium, das auch in gegenwärtigen Gesellschaften hochaktuell bleibt. Das Werk ist damit ein Schlüsseltext für das Verständnis struktureller Exklusionsprozesse.
- Elias, N., & Scotson, J. L. (1965). The Established and the Outsiders. London: Frank Cass.
- Elias, N., & Scotson, J. L. (1993). Etablierte und Außenseiter. Suhrkamp.
- Elias, N. (1976). Über den Prozeß der Zivilisation. Frankfurt am Main: Suhrkamp.
- Jahoda, M., Lazarsfeld, P. F., & Zeisel, H. (1933). Die Arbeitslosen von Mariental. Leipzig: Hirzel.