Mit seinem Essay „Sozialstruktur und Anomie“, erschienen 1949 im Sammelband Social Theory and Social Structure, legte Robert K. Merton einen Schlüsseltext der modernen Soziologie vor. Aufbauend auf Durkheims Anomiebegriff entwickelte er eine strukturfunktionale Theorie sozialer Abweichung, die weit über die Kriminalsoziologie hinausweist. Das Werk verbindet makrosoziologische Strukturbetrachtungen mit einer Theorie sozialer Handlungsmuster – und zeigt, wie gesellschaftliche Ungleichheiten abweichendes Verhalten systematisch hervorbringen können. Merton formulierte damit ein zentrales Beispiel seiner Konzeption von „Theorien mittlerer Reichweite“: analytisch präzise, empirisch anschlussfähig und theoretisch produktiv.
Wissenschaftlicher und historischer Kontext
Der Text entstand in den 1930er- und 1940er-Jahren im Umfeld des US-amerikanischen Funktionalismus. Merton, Schüler von Talcott Parsons, stand dem Strukturfunktionalismus nicht unkritisch gegenüber: Er forderte eine empirisch besser überprüfbare, weniger spekulative Theorie – ohne die große Systematik preiszugeben. Der Begriff der Anomie geht zurück auf Émile Durkheim, der ihn als Zustand normativer Desintegration beschrieb. Merton griff dieses Konzept auf, verband es aber mit Fragen nach sozialer Ungleichheit, gesellschaftlichem Aufstieg und normativem Druck – zentralen Themen der US-amerikanischen Nachkriegsgesellschaft.
Wissenschaftlicher und historischer Kontext
Der Text entstand in den 1930er- und 1940er-Jahren im Umfeld des US-amerikanischen Funktionalismus. Merton, Schüler von Talcott Parsons, stand dem Strukturfunktionalismus nicht unkritisch gegenüber: Er forderte eine empirisch besser überprüfbare, weniger spekulative Theorie – ohne die große Systematik preiszugeben. Der Begriff der Anomie geht zurück auf Émile Durkheim, der ihn als Zustand normativer Desintegration beschrieb. Merton griff dieses Konzept auf, verband es aber mit Fragen nach sozialer Ungleichheit, gesellschaftlichem Aufstieg und normativem Druck – zentralen Themen der US-amerikanischen Nachkriegsgesellschaft.
Merkzettel
Sozialstruktur und Anomie nach Robert K. Merton
Hauptvertreter: Robert K. Merton (1910–2003)
Erstveröffentlichung: 1949
Land: USA
Idee/ Annahme: Abweichendes Verhalten entsteht, wenn kulturelle Ziele und legitime Mittel sozial ungleich verteilt sind. Anomie ist Folge struktureller Spannung.
Grundlage für: Strukturfunktionalismus, Kriminalsoziologie, Subkulturtheorien, Jugendforschung, Theorie mittlerer Reichweite
Zentrale Fragestellung
Mertons zentrale Frage lautet: Was geschieht, wenn in einer Gesellschaft kulturell anerkannte Ziele (wie Erfolg oder Wohlstand) propagiert werden, der Zugang zu den dafür legitimen Mitteln aber ungleich verteilt ist? Seine Antwort: Es entsteht ein Zustand der Anomie – ein struktureller Widerspruch zwischen Zielorientierung und Mittelausstattung, der sozialen Druck erzeugt und unterschiedliche Reaktionsformen hervorbringt.
Hauptthesen und Konzepte
Anomie als strukturelle Spannung
Merton erweitert Durkheims Begriff der Anomie: Nicht der vollständige Normverlust steht im Zentrum, sondern das Auseinanderfallen von kulturell vorgegebenen Zielen und den sozialstrukturell verfügbaren Mitteln zu deren Erreichung. In Gesellschaften mit starker Erfolgsideologie, aber ungleicher Chancenstruktur, entsteht ein Spannungsverhältnis, das den sozialen Zusammenhalt gefährdet.
Die fünf Anpassungstypen
Besonders bekannt ist Mertons Typologie sozialer Anpassungsformen an diesen strukturellen Druck:
- Konformität: Ziele und Mittel werden akzeptiert – dominante Form in stabilen Gesellschaften.
- Innovation: Ziele werden bejaht, aber Mittel abgelehnt (z. B. illegale Wege zur Statussteigerung).
- Ritualismus: Mittel werden befolgt, ohne die Ziele wirklich anzustreben.
- Rückzug: Weder Ziele noch Mittel werden anerkannt (z. B. bei Suchtverhalten, Obdachlosigkeit).
- Rebellion: Alte Ziele und Mittel werden abgelehnt – neue sollen etabliert werden.
Diese Typologie ist kein Persönlichkeitsmodell, sondern ein Versuch, strukturell bedingte Handlungsmuster in normativ widersprüchlichen Gesellschaften zu erfassen.
Mertons Anpassungstypen bei Anomie
Merton beschreibt fünf idealtypische Reaktionen auf die Diskrepanz zwischen kulturellen Zielen und strukturell verfügbaren Mitteln:
- Konformität: Ziele und Mittel werden akzeptiert und verfolgt (z. B. Bildung → Beruf → Aufstieg).
- Innovation: Ziele werden anerkannt, aber illegitime Mittel genutzt (z. B. Steuerbetrug, Drogenhandel).
- Ritualismus: Mittel werden befolgt, aber die Ziele aufgegeben (z. B. überkorrekte Bürokraten).
- Rückzug: Weder Ziele noch Mittel werden anerkannt (z. B. Obdachlose, Drogenabhängige).
- Rebellion: Ablehnung und Ersetzung von Zielen und Mitteln (z. B. revolutionäre Bewegungen).
Diese Typologie dient der Erklärung sozialer Anpassung in einer Gesellschaft mit hohem normativem Leistungsdruck und ungleicher Ressourcenverteilung.
Abweichung als systemische Normalität
Entscheidend ist Mertons Perspektivwechsel: Abweichendes Verhalten ist nicht per se pathologisch, sondern oft Folge struktureller Widersprüche. Insofern ist Kriminalität keine Randerscheinung, sondern ein systemisch erzeugtes Phänomen – ein Ausdruck sozialer Desintegration und Chancenungleichheit.
Rezeption und Weiterentwicklung
Mertons Analysemuster wurde wegweisend für viele Forschungsbereiche: die Kriminalsoziologie, die Bildungssoziologie, die Jugend- und Subkulturforschung. Es lieferte die theoretische Grundlage für spätere Theorien wie die subkulturelle Anomietheorie, den Labeling Approach und neuere Ungleichheitstheorien. Kritik wurde an der statischen, normbezogenen Modelllogik geäußert – insbesondere aus konflikttheoretischer und poststrukturalistischer Perspektive. Mertons Theorie beruht auf normativer Integration und übersieht Macht, Diskurs und Differenz.
Bezug zur Theorie mittlerer Reichweite
Merton wollte keine „Universaltheorie“, sondern theoretische Konzepte, die empirisch anschlussfähig sind und konkrete gesellschaftliche Phänomene erklären. Die Anomietheorie gilt als Prototyp dieser „Middle Range Theories“, die zwischen reiner Empirie und umfassender Systemtheorie vermitteln. Damit wurde Merton auch methodologisch zum Wegbereiter einer pragmatischeren Soziologie.
Weiterführend: Mertons Beitrag zur Kriminalitätstheorie
Vertiefende Darstellung zur kriminologischen Rezeption: Eine ausführliche Analyse der Anomietheorie im Kontext abweichenden Verhaltens und Kriminalität findet sich hier im Bereich Kriminalitätstheorien.
Bedeutung für die Soziologie heute
Mertons Konzept ist bis heute aktuell: Es lässt sich auf Fragen sozialer Ungleichheit, Marginalisierung, Bildungsungerechtigkeit und Prekarisierung anwenden. Auch in der Migrationsforschung oder der Untersuchung sozialer Mobilitätsbarrieren bietet es analytischen Mehrwert. Die Idee, dass Struktur Spannungen erzeugt, die soziale Anpassungslogiken formen, ist ein zentraler Baustein soziologischer Gegenwartsdiagnosen.
Kritik und Aktualisierungen
Obwohl Mertons Theorie als analytisches Modell hohe Erklärungskraft besitzt, wurde sie mehrfach kritisch hinterfragt. Eine zentrale Kritik betrifft die inhaltliche Engführung auf materiellen Erfolg als kulturelles Leitmotiv. Merton setzt voraus, dass alle Mitglieder einer Gesellschaft den „american dream“ teilen – also das Streben nach Wohlstand, Status und beruflichem Aufstieg. Diese normativen Zielsetzungen reflektieren jedoch stark die mittelständische Werteordnung der US-Gesellschaft der 1940er-Jahre.
In heutigen, pluralisierten Gesellschaften sind Lebensziele jedoch vielfältiger geworden. Für viele Menschen stehen nicht-monetäre Werte im Vordergrund: ein ausgewogenes Verhältnis von Arbeit und Freizeit, persönliche Entfaltung, soziale Beziehungen, Nachhaltigkeit oder psychische Gesundheit. Die Idee von „Nicht-Erreichbarkeit als Statussymbol“ oder „Postwachstumszielen“ lässt sich nur schwer mit Mertons normativem Modell erfassen.
Zudem wurde Merton vorgeworfen, machtkritische und soziale Differenzperspektiven zu vernachlässigen. Zwar beschreibt er strukturelle Ungleichheiten, problematisiert jedoch kaum, wie Diskriminierung, Rassismus oder Gender den Zugang zu legitimen Mitteln systematisch beschränken. Auch postkoloniale und intersektionale Ansätze sehen in Mertons Theorie eine problematische Universalität westlich-bürgerlicher Leitbilder.
Trotz dieser Kritik bleibt Mertons Typologie ein prägnantes Instrument zur Erklärung von Reaktionen auf gesellschaftliche Normkonflikte. Sie lädt geradezu dazu ein, neuere Zielsysteme, Wertemuster und Sozialisationsbedingungen zu analysieren und zu hinterfragen.
Fazit
Mit Sozialstruktur und Anomie liefert Robert K. Merton eine originelle Weiterentwicklung der funktionalistischen Tradition, die Struktur und Handlung auf innovative Weise verbindet. Seine Typologie sozialer Anpassung bleibt ein prägnantes Instrument zur Erklärung normativer Spannungen in modernen Gesellschaften. Der Text gehört zu den einflussreichsten Beiträgen der Nachkriegssoziologie – und steht exemplarisch für die produktive Verbindung von Theorie, Empirie und Gesellschaftskritik.
Literaturverzeichnis
- Merton, R. K. (1949). Social Theory and Social Structure. Glencoe: Free Press.
- Durkheim, É. (1897). Le Suicide. Paris: Félix Alcan.
- Lindenberg, S. (1996). Theorien mittelbarer Reichweite. In: G. Göhler et al. (Hrsg.), Theorien der Gesellschaft, Opladen: Westdeutscher Verlag.