Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit von Peter L. Berger und Thomas Luckmann ist eines der einflussreichsten Werke der interpretativen Soziologie des 20. Jahrhunderts. Das Buch liefert nicht nur eine theoretische Fundierung der Wissenssoziologie, sondern beeinflusste weit über die Soziologie hinaus die Kommunikationswissenschaften, Medien- und Kulturtheorie. Berger und Luckmann zeigen, dass soziale Wirklichkeit keine objektiv gegebene Entität ist, sondern in Interaktion entsteht, gedeutet, stabilisiert und tradiert wird. Der Alltag erscheint dadurch als Bühne, auf der soziale Ordnung permanent hergestellt und verhandelt wird.
Wissenschaftlicher und historischer Kontext
Das Werk entstand Mitte der 1960er-Jahre in einem gesellschaftlichen Klima des Umbruchs: Demokratisierung, Subjektivierung, neue soziale Bewegungen und die Entstehung pluraler Öffentlichkeiten führten zu einer verstärkten Reflexion über die Grundlagen sozialer Ordnung. Berger und Luckmann knüpfen an die phänomenologische Soziologie von Alfred Schütz an, distanzieren sich zugleich aber vom Strukturfunktionalismus à la Parsons. Sie plädieren für eine Mikroperspektive auf Gesellschaft, in der das „Alltagswissen“ und die Interaktion im Zentrum stehen. Damit steht das Werk in enger Verbindung zum Symbolischen Interaktionismus (Mead, Blumer) und zur Ethnomethodologie (Garfinkel).
Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit nach Berger & Luckmann
Hauptvertreter: Peter L. Berger (1929–2017) & Thomas Luckmann (1927–2016)
Erstveröffentlichung: 1966
Land: USA (deutschsprachiger Hintergrund beider Autoren)
Idee/ Annahme: Wirklichkeit ist kein objektiv gegebenes Faktum, sondern entsteht durch soziale Interaktion, Sprache und institutionalisierte Wissensformen.
Grundlage für: Sozialkonstruktivismus, Medien- und Kommunikationsforschung, Wissenssoziologie, Diskurstheorie
Zentrale Fragestellung
Die Leitfrage lautet: Wie kommt es, dass Menschen soziale Wirklichkeit als objektiv gegeben und selbstverständlich erleben – obwohl sie diese Wirklichkeit selbst erzeugen? Berger und Luckmann untersuchen, wie im alltäglichen Handeln durch Sprache, Institutionen und Sozialisation stabile Ordnungsmuster entstehen, die sich als „Realität“ durchsetzen. Die Wirklichkeit des Alltags wird damit zu einem sozialen Konstrukt – allerdings nicht im Sinne beliebiger Erfindung, sondern als historisch und intersubjektiv geteilte Konstruktion.
Hauptthesen des Werks
1. Die Dialektik von Externalisierung, Objektivierung und Internalisierung
Gesellschaft entsteht in einem dreistufigen Prozess:
- Externalisierung: Menschen handeln, produzieren Bedeutungen und gestalten soziale Wirklichkeit.
- Objektivierung: Diese Bedeutungen werden verfestigt – etwa in Rollen, Normen oder Institutionen.
- Internalisierung: Die nachfolgenden Generationen übernehmen diese Bedeutungen als scheinbar objektive Wirklichkeit.
2. Institutionalisierung und Legitimation
Institutionen sind verfestigte Handlungsmuster, die durch Regeln, Symbole und Rollen abgesichert werden. Sie stabilisieren soziale Ordnung und erzeugen Erwartungssicherheit. Über Legitimationssysteme (z. B. Religion, Wissenschaft, Recht) wird diese Ordnung gerechtfertigt.
3. Sprache als Träger der Wirklichkeit
Sprache ist das zentrale Medium, durch das Wirklichkeit strukturiert und tradiert wird. Sie ermöglicht nicht nur Kommunikation, sondern auch die Speicherung und Weitergabe sozialen Wissens.
4. Sozialisation als Wirklichkeitsvermittlung
Im Sozialisationsprozess wird die soziale Ordnung verinnerlicht. Die primäre Sozialisation (Kindheit) schafft die grundlegende Wirklichkeitsstruktur; die sekundäre Sozialisation (z. B. Berufsrollen) differenziert diese weiter aus. Hier entsteht das, was Berger und Luckmann als „subjektive Wirklichkeit“ bezeichnen.
Beispiel 1: Wie wird eine Norm zur sozialen Wirklichkeit?
Berger und Luckmann zeigen, dass Normen nicht einfach „da“ sind, sondern in einem sozialen Prozess entstehen. Ein Beispiel:
- Externalisierung: Eine Gruppe von Menschen beginnt, eine bestimmte Verhaltensweise als wünschenswert zu behandeln – etwa, dass man beim Betreten eines Hauses die Schuhe auszieht.
- Objektivierung: Diese Regel wird institutionalisiert: In Haushalten wird ein Bereich für Schuhe eingerichtet, Gäste werden freundlich darauf hingewiesen, „dass man das hier so macht“. Die Regel erscheint zunehmend selbstverständlich.
- Internalisierung: Kinder wachsen mit dieser Norm auf und erleben sie nicht mehr als soziale Konstruktion, sondern als „normal“. Sie fühlen sich unwohl oder sogar respektlos, wenn sie sie nicht einhalten – selbst in anderen kulturellen Kontexten.
Diese kleine alltägliche Praxis zeigt exemplarisch, wie soziale Wirklichkeit konstruiert wird: durch Wiederholung, sprachliche Absicherung und Sozialisierung.
Beispiel 2: Wie wird „respektvolles Verhalten“ gegenüber der Polizei zur sozialen Norm?
Auch im Bereich von Recht und Ordnung werden Normen nicht einfach verordnet, sondern in sozialen Prozessen konstruiert. Ein Beispiel aus dem polizeilichen Alltag:
- Externalisierung: In einer Gesellschaft wird der Polizei eine besondere Autorität zugeschrieben. Bürger:innen beginnen, ein bestimmtes Verhalten – z. B. aufrechte Haltung, freundlicher Tonfall, Einhalten von Anweisungen – als angemessen und respektvoll gegenüber Polizeibeamten zu betrachten.
- Objektivierung: Diese Erwartungen schlagen sich in Medien, Schulunterricht, Behördenkommunikation und Alltagsgesprächen nieder: „So benimmt man sich gegenüber der Polizei.“ Abweichungen davon (z. B. Weigerung, sich auszuweisen) gelten als verdächtig oder respektlos.
- Internalisierung: Junge Menschen übernehmen diese Erwartung in der Sozialisation. Wer sich nicht „respektvoll“ verhält, wird sanktioniert oder gesellschaftlich abgewertet – unabhängig davon, ob ein rechtlicher Verstoß vorliegt. So entsteht eine Norm, die nicht juristisch kodifiziert, aber sozial wirksam ist.
Dieses Beispiel verdeutlicht, dass auch staatliche Autorität nicht „naturgegeben“ ist, sondern auf symbolisch vermittelte und internalisierte Erwartungsmuster angewiesen ist – ein klassischer Fall sozial konstruierter Wirklichkeit.
Symbolischer Interaktionismus und phänomenologische Soziologie
Das Werk steht in enger Verbindung zu anderen mikrosoziologischen Ansätzen. Wie der Symbolische Interaktionismus (Mead, Blumer, Goffman) betonen Berger und Luckmann die Bedeutung von Interaktion, Sprache und geteilten Symbolen. Gleichzeitig greifen sie die phänomenologische Perspektive von Alfred Schütz auf: Wirklichkeit ist immer perspektivisch, kontextgebunden und in Handlung eingebettet. Im Unterschied zu makrotheoretischen Modellen (z. B. Strukturfunktionalismus, Systemtheorie, Marxismus) setzt dieser Ansatz auf eine bodenständige, alltagsnahe Gesellschaftsanalyse.
Rezeption und Wirkung
Das Werk wurde ein moderner Klassiker der Soziologie. Es prägte den Sozialkonstruktivismus, inspirierte Diskursanalysen (Foucault), Cultural Studies, Medienkritik und Theorien des Poststrukturalismus. Besonders in der Medien- und Kommunikationsforschung wird es bis heute rezipiert. Kritik wurde an der relativ machtneutralen Perspektive geübt: Machtverhältnisse, materielle Bedingungen oder Ideologie kommen nur am Rande vor – was später von kritischen und poststrukturalistischen Autor:innen korrigiert wurde.
Fazit
Mit Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit legen Berger und Luckmann ein Werk vor, das die Soziologie nachhaltig verändert hat. Ihre These, dass soziale Ordnung nicht gegeben, sondern gemacht ist, bleibt bis heute hochaktuell. In einer Zeit, in der sich Wirklichkeiten pluralisieren, konkurrieren und digital beschleunigen, ist der Blick auf die Prozesse ihrer sozialen Konstruktion wichtiger denn je. Das Werk ist ein Schlüsseltext für alle, die verstehen wollen, wie Gesellschaft sich alltäglich reproduziert – durch Worte, Routinen, Institutionen und geteilte Deutungsmuster.
- Berger, P. L., & Luckmann, T. (1966). The Social Construction of Reality. New York: Anchor Books.
- Berger, P. L., & Luckmann, T. (1980). Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Eine Theorie der Wissenssoziologie. Frankfurt am Main: Fischer.
- Schütz, A. (1971). Gesammelte Aufsätze zur phänomenologischen Soziologie. Den Haag: Nijhoff.
- Blumer, H. (1969). Symbolic Interactionism: Perspective and Method. Englewood Cliffs: Prentice Hall.