Herbert Meads Werk Geist, Identität und Gesellschaft (Mind, Self, and Society) gilt als ein Schlüsseltext des symbolischen Interaktionismus und zählt zu den einflussreichsten Beiträgen zur Sozialisationstheorie. Das 1934 posthum veröffentlichte Werk ist keine klassische Monografie, sondern eine Zusammenstellung von Vorlesungsmitschriften, die zentrale Gedanken Meads systematisch zusammenführen.
Wissenschaftlicher Kontext
Mead lehrte an der University of Chicago im Umfeld des amerikanischen Pragmatismus. Sein Denken war geprägt von John Dewey und Charles Sanders Peirce. Anders als individualistische Theorien betont Mead die soziale Verfasstheit des Selbst: Identität entsteht durch Interaktion, nicht im isolierten Bewusstsein.
Geist, Identität und Gesellschaft nach Herbert Mead
Hauptvertreter: Herbert Mead (1863–1931)Erstveröffentlichung: 1934 (posthum)
Land: USA
Idee/ Annahme: Mead entwickelt mit seiner Theorie des Symbolischen Interaktionismus eine prozessorientierte Vorstellung von Identitätsentwicklung. Das Selbst entsteht durch soziale Interaktionen – insbesondere über die Übernahme von Rollen. Die Fähigkeit, sich selbst aus der Perspektive anderer zu betrachten („generalized other“), ist zentral für normgerechtes Verhalten.
Grundlage für: Symbolischer Interaktionismus, Rollentheorie, Sozialisationstheorie sowie zahlreiche Konzepte zur Entstehung sozialer Normen, abweichenden Verhaltens und Identitätsbildung – insbesondere im mikrosoziologischen und pädagogischen Kontext.
Zentrale Konzepte und Begriffe
- „Self“ (Selbst): Das Selbst ist bei Mead kein angeborenes Wesen, sondern entsteht durch soziale Interaktionen. Es entwickelt sich im Prozess der wechselseitigen Kommunikation und durch die Übernahme von Rollen. Erst indem ein Individuum sich selbst aus der Perspektive anderer betrachtet, kann es ein Bewusstsein seiner selbst entwickeln – ein Vorgang, den Mead als „Reflexivität“ beschreibt.
- „Me“ und „I“: Mead unterscheidet zwei Komponenten des Selbst. Das „Me“ steht für die internalisierte gesellschaftliche Ordnung – also für Erwartungen, Normen und Rollen, die das Individuum übernommen hat. Das „I“ hingegen ist der kreative, spontane Anteil des Selbst, der auf gesellschaftliche Anforderungen reagiert und sie auch infrage stellen kann. Das Zusammenspiel von „Me“ und „I“ macht individuelle Identität dynamisch und entwicklungsfähig.
- „Signifikante Andere“: Gemeint sind konkrete Bezugspersonen wie Eltern, Lehrkräfte oder Freund:innen, die im Sozialisationsprozess eine prägende Rolle spielen. Durch die Übernahme ihrer Rollen lernt das Kind, sich selbst zu sehen, wie andere es sehen – eine Voraussetzung für die Entwicklung des Selbst.
- „Generalized Other“: In einem späteren Stadium der Sozialisation übernehmen Individuen nicht mehr nur die Perspektive einzelner Bezugspersonen, sondern die eines „verallgemeinerten Anderen“ – also die normative Sichtweise der gesamten Gesellschaft oder einer bestimmten sozialen Gruppe. Diese Fähigkeit ist entscheidend für die Internalisierung von Normen, moralischem Verhalten und die Orientierung am Gemeinwohl.
Sowohl George Herbert Mead als auch Sigmund Freud entwickelten Modelle, um das menschliche Selbst bzw. die Psyche als mehrschichtige Struktur zu erklären. Trotz methodischer und theoretischer Unterschiede lassen sich interessante Parallelen feststellen:
- Freuds Über-Ich steht für internalisierte gesellschaftliche Normen und Werte – eine moralische Instanz, die durch Erziehung und soziale Erwartungen geprägt ist. Dies entspricht in gewisser Weise Meads „Me“, das ebenfalls die verinnerlichte gesellschaftliche Perspektive repräsentiert.
- Freuds Ich vermittelt zwischen den Impulsen des Es, den Forderungen des Über-Ichs und der Realität. Es hat eine reflexive, abwägende Funktion – ähnlich wie Meads „Self“, das im Spannungsverhältnis zwischen „I“ (Impulsivität) und „Me“ (gesellschaftliche Erwartung) entsteht.
- Freuds Es steht für Triebe, Impulse und unbewusste Wünsche – es ist spontan, unkontrolliert und sucht unmittelbare Befriedigung. Diese Funktion lässt sich näherungsweise mit Meads „I“ vergleichen, das für das kreative, spontane Moment des Handelns steht – wobei Mead das „I“ nicht triebhaft, sondern schöpferisch-bewusst versteht.
Beide Theorien verdeutlichen: Das menschliche Selbst ist kein monolithisches Gebilde, sondern ein Produkt innerer Spannungsverhältnisse – sei es zwischen Trieb und Moral (Freud) oder zwischen Spontanität und sozialer Erwartung (Mead).
Sozialisation als Rollenübernahme
Sozialisation verläuft nach Mead in zwei Phasen:
- Play: Kinder übernehmen Rollen einzelner Personen.
- Game: Sie lernen, mehrere Rollen gleichzeitig zu koordinieren – etwa im Mannschaftssport.
Daraus entsteht das reflektierte Selbst, das sich am „generalized other“ orientiert.
Meads Phasen der Rollenübernahme – erklärt am Beispiel Mannschaftssport:
Play: Kinder übernehmen spielerisch einzelne Rollen – etwa die der Mutter, eines Lehrers oder Superhelden. Sie ahmen Verhaltensweisen nach, ohne dabei die Gesamtstruktur sozialer Beziehungen zu erfassen.
Game: Kinder lernen, mehrere Rollen gleichzeitig zu koordinieren – wie im Fußball: Sie verstehen, dass Mitspieler unterschiedliche Aufgaben haben (z. B. Torwart, Abwehr, Sturm) und dass sie ihr eigenes Verhalten an den Erwartungen des Teams ausrichten müssen. Die Regeln des Spiels fungieren dabei als gemeinsamer Bezugsrahmen.
Dieses koordinierte Rollenverständnis führt zur Ausbildung des „generalized other“: Das Kind entwickelt ein Selbstbild, das sich an den Normen und Erwartungen der sozialen Gemeinschaft orientiert.
Der generalized other und soziale Ungleichheit
George Herbert Mead beschreibt den generalized other als die verallgemeinerte Perspektive der Gesellschaft, an der sich Individuen orientieren, um ihr Verhalten zu regulieren und ein reflektiertes Selbst auszubilden. Dieses Konzept impliziert jedoch eine gewisse Einheitlichkeit gesellschaftlicher Normen und Werte, die in der Realität sozial ungleich verteilter Gesellschaften nicht gegeben ist.
Tatsächlich ist die Ausprägung des generalized other stark davon beeinflusst, in welchem sozialen Milieu ein Individuum aufwächst. Die soziale Lage der Eltern – etwa ihr Bildungsstand, Beruf, Einkommen und kulturelles Kapital – prägt maßgeblich, mit welchen Normen, Erwartungen und Rollenbildern ein Kind sozialisiert wird.
Einige Beispiele:
- In bürgerlich-akademischen Haushalten wird häufig ein generalized other internalisiert, der Autonomie, Leistungsorientierung und Selbstverwirklichung betont.
- In sozial benachteiligten Milieus dominieren dagegen oft Anpassung an institutionelle Autoritäten, pragmatische Überlebensstrategien oder auch Gruppensolidarität innerhalb subkultureller Kontexte.
- Kinder aus migrantischen Familien können sich in einem Spannungsverhältnis zwischen unterschiedlichen generalized others befinden – etwa den Normen der Herkunftskultur und denen der Mehrheitsgesellschaft.
Hier bieten sich auch Verknüpfungen zu Pierre Bourdieus Konzept des Habitus an: Die verinnerlichten gesellschaftlichen Erwartungen und Wahrnehmungsschemata unterscheiden sich je nach sozialer Herkunft fundamental – was zu ungleichen Startbedingungen im Bildungssystem, auf dem Arbeitsmarkt oder im Kontakt mit staatlichen Institutionen führt.
Bedeutung von Sprache und Symbolen
Für George Herbert Mead ist Sprache weit mehr als ein Mittel zur Informationsübertragung – sie ist die konstitutive Grundlage des sozialen Selbst. Erst durch sprachlich vermittelte Interaktionen wird es möglich, sich in andere hineinzuversetzen, Bedeutungen auszutauschen und gemeinsames Handeln zu koordinieren.
Im Zentrum steht dabei das Konzept des signifikanten Symbols (significant symbol): Ein Zeichen – etwa ein gesprochenes Wort, eine Geste oder ein Symbol – gilt dann als signifikant, wenn es für Sender:in und Empfänger:in dieselbe Bedeutung hat. Sprache fungiert somit als gemeinsamer Bedeutungsraum, in dem Bedeutungen nicht objektiv festgelegt, sondern in sozialen Prozessen ausgehandelt werden.
Ein prägnantes Beispiel bietet der polizeiliche Kontext:
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Die Abkürzung ACAB („All Cops Are Bastards“) oder der Zahlencode 1312 fungieren für viele als Ausdruck von Protest, Widerstand oder Ablehnung staatlicher Autorität – insbesondere gegenüber Polizeigewalt oder institutionellem Rassismus. Innerhalb subkultureller Gruppen sind diese Zeichen gelernte Codes mit hoher identitätsstiftender Wirkung.
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Gleichzeitig werden sie von Polizist:innen als pauschale Diffamierung und als Angriff auf ihre berufliche Identität wahrgenommen – nicht selten mit entsprechender emotionaler Reaktion.
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Umgekehrt symbolisiert das Emblem der Thin Blue Line – ein stilisierter blauer Streifen auf schwarzem Hintergrund – für viele Polizist:innen ein Gefühl von Zusammenhalt, Pflichtbewusstsein und der Rolle als „letzter Schutzwall“ zwischen Gesellschaft und Chaos. Für Kritiker:innen hingegen steht es teils für Abgrenzung, Militarisierung oder fehlende Rechenschaftspflicht.
Diese Beispiele zeigen: Symbole erzeugen Bedeutung, Zugehörigkeit und Abgrenzung – sie strukturieren, wie sich Menschen selbst und andere wahrnehmen. Im Sinne Meads formen solche Symbole nicht nur Kommunikation, sondern auch soziale Identität und kollektives Handeln.
Signifikante Symbole im Polizeikontext
Valeria Rojas Bruna, CC BY-SA 4.0, via Wikimedia Commons
George Herbert Mead spricht von „significant symbols“, wenn Zeichen eine gemeinsame Bedeutung für alle Beteiligten tragen und dadurch Kommunikation und Handlungskoordination ermöglichen. Auch im polizeilichen Kontext entfalten bestimmte Symbole eine starke soziale Wirkung – je nach Perspektive oft mit gegensätzlicher Bedeutung:
- ACAB / 1312: Für viele Jugendliche oder subkulturelle Gruppen Ausdruck von Protest gegen staatliche Autorität und Polizeigewalt. Für Polizist:innen hingegen häufig als pauschale Beleidigung wahrgenommen.
- Thin Blue Line: Symbolisiert für viele Angehörige der Polizei Zusammenhalt, Opferbereitschaft und Schutz der Gesellschaft. Für Kritiker:innen kann es hingegen Abgrenzung, Corpsgeist oder fehlende Transparenz signalisieren.
- Polizeiuniform: Steht für Recht und Ordnung, Sicherheit und Autorität – aber auch für Kontrolle, Zwang oder Unterdrückung, je nach sozialer Erfahrung der betroffenen Personengruppe.
- Blaulicht und Sirene: Als akustisch-visuelle Symbole markieren sie nicht nur Eile und Einsatz, sondern erzeugen auch Deutungsmuster: Hilfe naht – oder Gefahr droht – je nach Kontext und Erwartung.
Diese Beispiele zeigen: Symbole schaffen Bedeutung, strukturieren Erwartungen und prägen soziale Identitäten. Sie sind nicht neutral, sondern Teil symbolischer Aushandlungsprozesse – ganz im Sinne von Meads Theorie.
Relevanz für die Soziologie
- Grundlage der symbolischen Interaktionismus
- Einfluss auf Sozialisationstheorien und die Soziologie der Kindheit
- Bezugspunkt für Erving Goffman und Howard S. Becker
- Relevanz für Identitätsforschung und Normeninternalisierung
Bezug zu Normen und Werten
Mead zeigt auf, dass Normen nicht bloß von außen auferlegte Verhaltensregeln sind, sondern im Rahmen sozialer Interaktionen erlernt, ausgehandelt und verinnerlicht werden. Zentral ist dabei der Prozess der Rollenübernahme: Indem Individuen lernen, sich in die Perspektiven anderer hineinzuversetzen, übernehmen sie zugleich deren normative Erwartungen. Diese verallgemeinerten Erwartungen – der generalized other – bilden das Fundament für die Herausbildung eines sozialen Selbst.
Normen und Werte werden so nicht mechanisch „angepasst“, sondern durch kommunikative Prozesse schrittweise zu Bestandteilen der eigenen Identität. Das Selbst handelt dann nicht nur aus Angst vor Sanktion, sondern weil es das als „richtig“ Erkannte mit der eigenen Person in Einklang bringt.
Ein Beispiel verdeutlicht diesen Prozess:
Ein Kind lernt im Klassenzimmer, dass man sich meldet, bevor man spricht. Zunächst geschieht dies aus Anpassung an die Lehrperson (eine spezifische Bezugsperson). Im weiteren Verlauf aber erkennt das Kind, dass diese Regel dem respektvollen Umgang in einer Gruppe dient – also einer übergeordneten sozialen Ordnung. Sobald das Kind diese Perspektive verinnerlicht hat, wird die Regel nicht mehr nur befolgt, sondern als eigene Haltung übernommen: Rücksichtnahme, Fairness und Respekt vor anderen werden zu Werten, die das Selbstbild mitprägen.
So tragen Interaktionen im Alltag – im Elternhaus, in der Schule, im Sportverein – dazu bei, dass gesellschaftliche Normen nicht nur eingehalten, sondern verinnerlicht und zur Grundlage selbstregulativen Handelns werden. Das macht Meads Perspektive besonders relevant für moderne Ansätze der sozialen Kontrolle, Sozialisation und Wertevermittlung.
Meads Theorie und die polizeiliche Sozialisation:
Auch angehende Polizist:innen durchlaufen im Verlauf ihrer Ausbildung einen Prozess der Rollenübernahme. In der Interaktion mit Ausbildern, Kollegen und Bürger:innen lernen sie nicht nur dienstliche Vorschriften, sondern übernehmen schrittweise die Perspektive des „generalized other“ innerhalb des Polizeiberufs.
Dabei wird deutlich: Normen wie Verhältnismäßigkeit, Neutralität oder Deeskalation wirken nicht allein durch äußeren Zwang – sie werden im Idealfall internalisiert und als Teil der eigenen beruflichen Identität verstanden.
Die Sozialisation im Polizeikontext zeigt somit exemplarisch, wie das Handeln „von innen“ durch geteilte Normen gesteuert wird – ganz im Sinne Meads symbolischen Interaktionismus.
Fazit
Meads Werk ist ein Meilenstein der Soziologie. Es verbindet Sozialisation, Identitätsbildung und Normenverständnis auf einzigartige Weise. Seine Theorie macht deutlich: Das Selbst ist kein natürlicher Ausgangspunkt des Handelns – es ist Produkt sozialer Prozesse.
Literatur
- Mead, H. (1934). Mind, Self, and Society. Chicago: University of Chicago Press.
- Joas, H. (1987). G. H. Mead: Eine Einführung. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.
- Jung, D. (2018). Einführung in den symbolischen Interaktionismus. Wiesbaden: Springer VS.