„Das wilde Denken“ (*La pensée sauvage*, 1962) zählt zu den einflussreichsten Texten des französischen Strukturalismus und markiert einen wichtigen Brückenschlag zwischen Ethnologie, Soziologie und Kulturwissenschaft. Claude Lévi-Strauss hinterfragt in diesem Werk die herkömmliche Unterscheidung zwischen „primitivem“ und „zivilisiertem“ Denken. Anhand zahlreicher ethnologischer Beispiele zeigt er, dass sogenannte „wilde“ Denkmuster – etwa in Mythen, Ritualen oder Klassifikationssystemen – einer eigenen Logik folgen, die der wissenschaftlichen Rationalität in struktureller Hinsicht ebenbürtig ist. Für die Soziologie eröffnet das Werk grundlegende Perspektiven auf die Analyse symbolischer Ordnung, kultureller Logiken und kollektiven Wissens.
Wissenschaftlicher und historischer Kontext
Das Werk entstand in einer Zeit intensiver theoretischer Umbrüche in den französischen Geistes- und Sozialwissenschaften. Lévi-Strauss, ursprünglich Ethnologe, entwickelte seine strukturalistische Perspektive im Anschluss an linguistische Modelle von Ferdinand de Saussure. Mit Das wilde Denken formulierte er eine Kritik an evolutionistischen Vorstellungen der Aufklärung, die indigene oder vormoderne Gesellschaften als „unterentwickelt“ darstellten. Stattdessen zeigt er, dass alle Gesellschaften über hochdifferenzierte Systeme der Weltdeutung verfügen. Der Text wurde nicht nur in der Ethnologie, sondern auch in Soziologie, Philosophie und Kulturtheorie breit rezipiert.
Merkzettel
Das wilde Denken nach Claude Lévi-Strauss
Hauptvertreter: Claude Lévi-Strauss (1908–2009)
Erstveröffentlichung: 1962
Land: Frankreich
Idee/ Annahme: Mythisches und sogenannt „primitives“ Denken folgt eigenen, strukturierten Logiken – es ist nicht irrational, sondern anders organisiert als moderne Wissenschaft.
Grundlage für: Strukturalistische Kultur- und Wissenssoziologie, Diskursanalyse (Foucault), Symboltheorie (Douglas), Bourdieu (Feld- und Klassifikationstheorie)
Zentrale Fragestellung
Die zentrale Frage des Werks lautet: Wie denken Menschen in verschiedenen kulturellen Kontexten – und welche Strukturen liegen diesem Denken zugrunde? Lévi-Strauss interessiert sich für die universellen Muster symbolischer Ordnung: Wie klassifizieren Menschen Tiere, Pflanzen, Farben oder Verwandtschaftsbeziehungen? Und was verraten diese Klassifikationen über das Verhältnis von Natur, Kultur und Gesellschaft?
Hauptthesen und theoretische Konzepte
Strukturalismus als Methode
Der Strukturalismus ist ein theoretischer Ansatz, der davon ausgeht, dass soziale, kulturelle und sprachliche Phänomene nicht isoliert, sondern als Teil eines tieferliegenden Systems verstanden werden müssen. Dieses System besteht aus Strukturen, die oft unbewusst sind, aber das Denken, Wahrnehmen und Handeln der Menschen prägen.
Claude Lévi-Strauss überträgt diese Denkweise, die ursprünglich aus der Sprachwissenschaft (Ferdinand de Saussure) stammt, auf die Anthropologie und Kulturtheorie. Dabei gilt er als einer der wichtigsten Wegbereiter des kulturellen Strukturalismus. Er geht davon aus, dass das Denken aller Menschen – unabhängig von Zeit und Kultur – nach grundlegenden Mustern funktioniert, etwa durch binäre Oppositionen wie roh/gekocht, Natur/Kultur, männlich/weiblich.
Diese Grundstrukturen symbolischer Ordnung äußern sich in Mythen, Ritualen, Klassifikationen, Verwandtschaftssystemen oder sprachlichen Mustern. Die Aufgabe der Wissenschaft besteht darin, diese tiefenstrukturellen Muster zu entschlüsseln – vergleichbar mit der Analyse einer Grammatik, die das Sprechen ermöglicht, ohne bewusst präsent zu sein.
In diesem Sinne ist Lévi-Strauss nicht „Erfinder“, aber der entscheidende Wegbereiter des Strukturalismus in den Sozialwissenschaften. Er beeinflusste maßgeblich die französische Theorielandschaft der 1960er- und 1970er-Jahre und bereitete den Boden für poststrukturalistische Ansätze (etwa bei Foucault oder Derrida).
Was ist Strukturalismus?
Der Strukturalismus ist ein theoretischer Ansatz, der davon ausgeht, dass Phänomene wie Sprache, Kultur oder Denken auf tiefenliegenden Strukturen beruhen. Diese Strukturen bestehen meist aus binären Gegensätzen (z. B. roh/gekocht, männlich/weiblich, Natur/Kultur), durch die Menschen ihre Welt ordnen und Bedeutung erzeugen.
- Ursprung: Linguistik (Ferdinand de Saussure), später übertragen auf Anthropologie, Literatur, Soziologie
- Zentrale Annahme: Bedeutung entsteht nicht isoliert, sondern durch Relationen im System
- Individuum: nicht Hauptakteur, sondern Träger kultureller Regeln und Strukturen
- Ziel: unbewusste Muster symbolischer Ordnung sichtbar machen
Claude Lévi-Strauss gilt als einer der bedeutendsten Vertreter des Strukturalismus in den Sozialwissenschaften. Seine Analysen zeigen, wie tief verwurzelte Denkstrukturen das kulturelle Handeln prägen – unabhängig von der jeweiligen Gesellschaftsform.
Im Unterschied zu handlungs- oder interaktionsorientierten Theorien der Soziologie (z. B. bei Weber oder Goffman), richtet sich der Blick des Strukturalismus auf die symbolischen Ordnungen, die Denken und Kultur unbewusst strukturieren. Die folgende Tabelle zeigt zentrale Unterschiede:
Aspekt | Strukturalismus (z. B. Lévi-Strauss) | Handlungsorientierte Theorien (z. B. Weber, Goffman) |
---|---|---|
Analyseebene | Strukturen und Systeme | Individuelles Handeln und soziale Interaktion |
Menschenbild | Individuum als Träger kultureller Strukturen | Individuum als interpretierender und handelnder Akteur |
Zentrale Frage | Welche unbewussten Strukturen ordnen Denken und Kultur? | Wie handeln Menschen in sozialen Situationen und mit welcher Bedeutung? |
Begriffsapparat | Binäre Oppositionen, symbolische Systeme, kulturelle Codes | Soziales Handeln, Rolle, Sinn, Impression Management |
Methode | Strukturanalyse, vergleichende Kulturforschung | Interpretative Rekonstruktion, teilnehmende Beobachtung |
Beispielhafte Vertreter | Claude Lévi-Strauss, Michel Foucault (früh) | Max Weber, Erving Goffman, Herbert Blumer |
Gegenüberstellung: Strukturalismus und handlungsorientierte Theorien im Vergleich
„Wildes“ und „wissenschaftliches“ Denken
Im Zentrum steht die Rehabilitation des sogenannten „wilden Denkens“ (pensée sauvage). Dabei handelt es sich um eine konkrete, klassifikatorische Form des Denkens, die stark an die sinnlich erfahrbare Welt gebunden ist. Es ist nicht irrational, sondern funktioniert nach anderen Prinzipien als die abstrakt-formalisierte Wissenschaft. Lévi-Strauss argumentiert, dass beide Denkweisen strukturell vergleichbar sind – sie unterscheiden sich lediglich in ihren Ausdrucksformen.
„Wildes“ und „wissenschaftliches“ Denken
Claude Lévi-Strauss unterscheidet zwei Formen menschlicher Welterfassung:
- Wildes Denken: konkret, klassifikatorisch, an die sinnlich erfahrbare Welt gebunden; arbeitet mit Mythen, Symbolen, Analogien und praktischer Erfahrung.
- Wissenschaftliches Denken: abstrakt, theoretisch, formalisiert; basiert auf Logik, Experiment und systematischer Erkenntnisgewinnung.
Beide Denkformen folgen strukturellen Regeln – keine ist der anderen überlegen. Das „wilde Denken“ ist nicht irrational, sondern eine kreative und strukturierte Form symbolischer Weltdeutung.
Bricolage (Basteln mit Bedeutungen)
Ein zentrales Bild für das wilde Denken ist der Bricoleur – der Bastler, der mit dem arbeitet, was gerade zur Verfügung steht. Anders als der Ingenieur, der für ein Problem gezielt neue Mittel entwirft, kombiniert der Bricoleur vorhandene Symbole, Bedeutungen und Objekte, um eine Situation zu deuten oder zu lösen. Damit wird kulturelles Handeln als schöpferischer, aber strukturierter Umgang mit Bedeutungen verstanden.
Bricolage – Denken mit dem, was da ist
Claude Lévi-Strauss verwendet den Begriff Bricolage, um eine bestimmte Form kulturellen Denkens und Handelns zu beschreiben: das „Basteln“ mit vorhandenen Mitteln. Im Gegensatz zur geplanten, systematischen Vorgehensweise des Ingenieurs improvisiert der Bricoleur mit dem, was gerade zur Verfügung steht – er setzt bestehende Symbole, Objekte oder Bedeutungen neu zusammen, um aktuelle Probleme zu lösen oder Sinn herzustellen.
Dieses Prinzip gilt nicht nur für vormoderne Gesellschaften, sondern auch für moderne Kultur- und Symbolpraktiken. Ein anschauliches Beispiel ist die Sicherheitsnadel: Ursprünglich ein alltäglicher, funktionaler Gegenstand mit bürgerlich-praktischem Charakter (Ordnung, Sicherheit, Nützlichkeit), wurde sie in der Punk-Subkultur ihrer ursprünglichen Bedeutung entzogen und neu kontextualisiert – als Körperschmuck, Protestsymbol und ästhetischer Bruch. Die Funktion bleibt formal erhalten, doch der kulturelle Sinn wird durch die neue Verwendung radikal verändert.
Solche Formen der Bricolage zeigen, dass kulturelle Bedeutungen nie fest sind, sondern ständig neu kombiniert, umgewertet und interpretiert werden können – ein zentrales Motiv strukturalistischer Kulturtheorie.
Relevanz für die Soziologie
Obwohl Lévi-Strauss formal kein Soziologe war, ist Das wilde Denken ein grundlegender Text für die symbolische Ordnung in der Soziologie. Sein Werk steht in enger Verbindung zur Kultursoziologie, Wissenssoziologie und Soziologie der Klassifikation. Seine strukturalistische Denkweise beeinflusste später Michel Foucault (Diskursanalyse), Pierre Bourdieu (Feld und Habitus) und Mary Douglas (Reinheit und Gefährdung). Lévi-Strauss zeigt, dass soziale Ordnung nicht nur institutionell oder ökonomisch, sondern auch symbolisch und kulturell verankert ist.
Kritik und Rezeption
Das Werk wurde sowohl gefeiert als auch kontrovers diskutiert. Kritiker bemängelten vor allem die Ahistorizität des Ansatzes: Lévi-Strauss’ Strukturen wirken zeitlos und überkulturell, wodurch soziale Dynamik, Machtverhältnisse und historische Veränderungen in den Hintergrund treten. Auch postkoloniale und feministische Theorien warfen dem Strukturalismus vor, von einer vermeintlich neutralen Beobachterposition aus über andere Kulturen zu sprechen. Dennoch bleibt Das wilde Denken ein Meilenstein der Theorieentwicklung – und ein Schlüsseltext für das Verständnis kultureller Logik jenseits westlicher Rationalität.
Bedeutung für aktuelle Debatten
Heute erfährt Lévi-Strauss’ Denken neue Aktualität – etwa in der Anthropologie des Wissens, der Debatte um alternative Epistemologien oder der Anerkennung indigener Wissensformen. Auch in der Soziologie gewinnt das Interesse an symbolischer Klassifikation, kulturellen Skripten und nicht-westlichen Deutungsmustern an Bedeutung. Das Werk hilft, eurozentrische Blickwinkel zu hinterfragen und die Vielfalt menschlicher Ordnungslogiken besser zu verstehen.
Fazit
Mit Das wilde Denken legt Claude Lévi-Strauss ein theoretisch ebenso anspruchsvolles wie provozierendes Werk vor. Er bricht mit abwertenden Vorstellungen vormoderner Kulturen und eröffnet eine neue Sichtweise auf die Gleichwertigkeit unterschiedlicher Denkformen. Für die Soziologie ist das Werk insofern bedeutsam, als es den Blick auf kulturelle Strukturen lenkt, die unser Weltverhältnis ebenso tiefgreifend prägen wie Institutionen oder Machtverhältnisse. Lévi-Strauss‘ Beitrag bleibt somit ein wichtiger Impuls für alle, die sich mit der symbolischen Dimension sozialer Ordnung auseinandersetzen.