Das Unbehagen der Geschlechter (Originaltitel: Gender Trouble, 1990) von Judith Butler zählt zu den einflussreichsten Werken der Geschlechterforschung und Queer Theory. Butler bricht mit traditionellen Annahmen über Geschlecht und Identität, dekonstruiert binäre Geschlechterordnungen und macht deutlich, dass Geschlecht nicht „natürlich“, sondern gesellschaftlich hervorgebracht ist – performativ und wiederholbar. Das Werk hat die feministische Theorie und die Sozialwissenschaften grundlegend beeinflusst.
Wissenschaftlicher Kontext
Butlers Werk entstand in einem theoretischen Spannungsfeld: Zwischen feministischer Theorie (z. B. Simone de Beauvoir), poststrukturalistischer Philosophie (z. B. Michel Foucault, Jacques Derrida) und der Psychoanalyse (insbesondere Jacques Lacan). Ihre Kritik richtet sich gleichermaßen gegen biologische Essentialismen wie gegen stabile Identitätskategorien innerhalb feministischer Bewegungen.
Das Unbehagen der Geschlechter nach Judith Butler
Hauptvertreterin: Judith Butler (geb. 1956)
Erstveröffentlichung: 1990 (dt. 1991)
Land: USA
Idee/Annahme: Geschlecht (Gender) ist nicht natürlich oder stabil, sondern wird durch soziale Praktiken und Sprache hervorgebracht – es ist performativ.
Grundlage für: Queer Theory, Gender Studies, feministische Theorie, kritische Identitätstheorien
Zentrale Begriffe und Theoriekern
Geschlecht als Konstruktion
Butler unterscheidet zwischen biologischem Geschlecht (sex), sozialem Geschlecht (gender) und Begehren (desire) – und problematisiert diese Unterscheidung zugleich. Sie argumentiert, dass bereits „sex“ nicht naturgegeben ist, sondern kulturell interpretiert und diskursiv hervorgebracht wird. Geschlecht ist nicht etwas, das wir „sind“, sondern etwas, das wir tun – immer wieder aufs Neue.
Performativität
Mit dem Begriff Performativität beschreibt Butler, dass Geschlecht durch wiederholte Handlungen hervorgebracht wird. Diese Handlungen folgen kulturellen Normen und Erwartungen – z. B. durch Kleidung, Sprache, Körpersprache, soziale Rollen.
„Mann“ oder „Frau“ zu sein ist kein inneres Wesen, sondern ein sozialer Akt, der durch ständige Wiederholung stabil erscheint. Dadurch wird die Illusion erzeugt, Geschlecht sei natürlich oder gegeben.
Heteronormativität
Butler kritisiert die gesellschaftliche Heteronormativität – also die Annahme, dass es nur zwei Geschlechter gibt, die in einer heterosexuellen Beziehung zueinander stehen. Diese Norm erzeugt „intelligible“ Subjekte – Menschen, die sozial als verständlich und legitim gelten. Wer davon abweicht, wird marginalisiert oder pathologisiert.
Subversion und Handlungsspielraum
Obwohl Geschlecht durch soziale Normen hervorgebracht wird, bleibt Raum für Widerstand und Subversion. Die Wiederholung von Normen ist nie vollkommen – es gibt immer Spielräume, die Norm durch Parodie, Übertreibung oder Brechung zu unterlaufen. Butlers berühmtes Beispiel ist die Drag-Performance, die Geschlecht als Spiel mit Normen sichtbar macht.
Drag als Subversion
Judith Butler verwendet Drag als Beispiel für die Performativität von Geschlecht. Drag zeigt, dass Geschlecht nicht authentisch oder natürlich ist, sondern inszeniert wird. In der Übertreibung und Parodie werden die Regeln der Geschlechterdarstellung sichtbar – und unterlaufen. So entsteht Widerstand gegen Heteronormativität im Modus des Spiels.
Relevanz für Soziologie und Praxis
Polizeiliche Praxis
Im polizeilichen Alltag sind Geschlechterzuschreibungen häufig handlungsleitend – etwa bei der Einschätzung von Gefahr, dem Einsatz von Zwang oder der Anrede von Personen. Butlers Theorie sensibilisiert dafür, dass Geschlecht keine objektive Kategorie, sondern ein sozialer Konstruktionsprozess ist. Dies betrifft z. B.:
- den Umgang mit trans* und nichtbinären Personen,
- die Gestaltung geschlechtsspezifischer Polizeimaßnahmen,
- die Reflexion eigener Rollenvorstellungen im Beruf.
Soziale Rollen und Sozialisation
Butlers Werk knüpft implizit an soziologische Rollentheorien an, wie etwa Ralf Dahrendorfs Homo Sociologicus. Doch während klassische Rollentheorien von relativ stabilen Erwartungen an soziale Positionen ausgehen, zeigt Butler, dass auch diese Rollen diskursiv hervorgebracht und veränderbar sind. Ihre Theorie überschreitet damit die klassischen Grenzen von Sozialisationstheorien – hin zu einer dekonstruktiven Analyse von Identitätskategorien.
Querverbindungen
- Erving Goffman: Goffmans Analyse von Interaktionen und der „Inszenierung des Selbst“ lässt sich mit Butlers Performativitätsbegriff in Beziehung setzen – allerdings ohne Goffmans essentialistische Tendenzen.
- Michel Foucault: Butler greift Foucaults Macht- und Diskurstheorie auf. Wie bei Foucault entstehen Identitäten durch normative Diskurse und Machtverhältnisse.
- Pierre Bourdieu: Bourdieus Konzept des Habitus kann ergänzend zu Butlers Performativität gelesen werden – beide beschreiben die Verkörperung sozialer Normen, wenn auch mit unterschiedlichem Fokus.
Fazit
Das Unbehagen der Geschlechter ist ein theoretisch anspruchsvolles, aber wegweisendes Werk. Butler gelingt es, Geschlecht als soziale Praxis zu entnaturalisieren und die Grundlagen heteronormativer Gesellschaften zu hinterfragen. Die These, dass Identitäten gemacht, nicht gefunden werden, eröffnet neue Perspektiven auf Selbst, Gesellschaft und Macht. Das Werk hat nicht nur die Geschlechterforschung revolutioniert, sondern stellt eine grundlegende Herausforderung an jede Theorie des Sozialen dar, die von stabilen Kategorien ausgeht.
Literatur
- Butler, J. (1990). Gender Trouble: Feminism and the Subversion of Identity. New York: Routledge.
- Butler, J. (1991). Das Unbehagen der Geschlechter. Frankfurt am Main: Suhrkamp.
- Foucault, M. (1977). Überwachen und Strafen. Frankfurt am Main: Suhrkamp.
- Goffman, E. (1959). Wir alle spielen Theater. München: Piper.