Mit seinem Werk Symbolic Interaction: Perspective and Method (1969) legt Herbert Blumer die theoretische und methodische Grundlage des Symbolischen Interaktionismus. Als Schüler von George Herbert Mead prägte er nicht nur den Begriff dieser Schule, sondern formte eine der einflussreichsten mikrosoziologischen Theorien des 20. Jahrhunderts. Blumers Ansatz stellt die aktive Bedeutungskonstruktion durch Interaktion ins Zentrum und steht damit im Gegensatz zu behavioristischen, strukturfunktionalistischen oder deterministischen Theorien. Das Werk ist bis heute von zentraler Bedeutung für Soziologie, Ethnographie, Sozialpsychologie und interpretative Kriminologie.
Wissenschaftlicher und historischer Kontext
Blumers Theorie wurzelt in der pragmatistischen Philosophie (Peirce, James, Dewey) und in der Arbeit der Chicago School of Sociology. Dort etablierte sich in den 1920er- und 1930er-Jahren eine Forschungstradition, die den Alltag, die Stadt, deviante Gruppen und Interaktionsprozesse ins Zentrum stellte. Blumer formulierte den Symbolischen Interaktionismus in Abgrenzung zum damaligen Mainstream der Soziologie – insbesondere zum Strukturfunktionalismus eines Talcott Parsons, der soziale Ordnung als weitgehend stabil und systemisch organisiert betrachtete. Blumer hingegen interessiert sich für das situative Handeln, die Deutungsprozesse und die dynamische, offene Natur sozialer Realität.
Symbolischer Interaktionismus nach Herbert Blumer
Hauptvertreter: Herbert Blumer (1900–1987)
Erstveröffentlichung: 1969
Land: USA
Idee/ Annahme: Bedeutungen entstehen nicht von selbst, sondern werden im sozialen Austausch aktiv hergestellt, ausgehandelt und verändert. Handeln ist symbolisch vermittelt.
Grundlage für: interpretative Soziologie, qualitative Forschung, Rollentheorie, Identitätsforschung, Devianztheorie
Zentrale Fragestellung
Die Kernfrage lautet: Wie kommen Menschen in einer Welt voller Symbole, Bedeutungen und Situationen zu gemeinsamem Handeln? Blumer betont, dass die soziale Wirklichkeit nicht „gegeben“ ist, sondern in Interaktion entsteht. Bedeutung ist nicht fixiert, sondern wird durch Kommunikation hervorgebracht, bestätigt oder verändert. Soziale Ordnung ist das Ergebnis symbolisch vermittelter Verständigungsprozesse – nicht ihr Ausgangspunkt.
Grundannahmen des Symbolischen Interaktionismus
Herbert Blumer formulierte in seinem Werk Symbolic Interactionism: Perspective and Method (1969) drei zentrale Grundannahmen, die bis heute als Kern des Symbolischen Interaktionismus gelten. Sie stellen einen radikalen Bruch mit verhaltens- oder strukturdeterministischen Modellen dar und rücken Bedeutung, Interpretation und soziale Interaktion ins Zentrum soziologischer Analyse.
1. Menschen handeln Dingen gegenüber auf der Grundlage der Bedeutungen, die diese Dinge für sie haben.
Was für eine Person ein bloßer Gegenstand ist, kann für eine andere emotional, symbolisch oder moralisch aufgeladen sein. Die soziale Welt ist voller Symbole – und ihre Bedeutung ergibt sich nicht aus ihrer bloßen Existenz, sondern aus dem, was sie für jemanden bedeuten. Diese Dinge können physisch sein (z. B. eine Uniform), sozial (z. B. eine bestimmte Rolle), oder abstrakt (z. B. Freiheit, Gerechtigkeit).
2. Bedeutungen entstehen in der sozialen Interaktion.
Bedeutungen sind nicht individuell erfunden oder objektiv gegeben – sie sind Resultat von Austauschprozessen. Erst im Gespräch, in Gesten, Reaktionen und sozialen Routinen entstehen stabile Bedeutungszuschreibungen. Dabei sind es nicht nur Worte, sondern auch Mimik, Gestik, Tonfall oder Kontext, die Bedeutung tragen. Ohne Interaktion gäbe es keine geteilte symbolische Ordnung.
3. Bedeutungen werden in einem interpretativen Prozess verwendet und verändert.
Der Mensch ist kein mechanisch reagierendes Wesen, sondern ein interpretierender Akteur. Er reflektiert über Bedeutungen, deutet sie neu, passt sie an Situationen an oder stellt sie infrage. Dieser interpretative Spielraum macht soziales Handeln dynamisch und kontextabhängig. Aus diesem Grund ist Verhalten nie eindeutig aus einer Situation „ablesbar“ – sondern muss immer im sozialen Zusammenhang verstanden werden.
Beispiel: Deutung eines Symbols im Alltag
Daniel Schwen, CC BY-SA 2.5, via Wikimedia Commons
Nehmen wir das Beispiel einer Polizeiuniform:
- Für eine ältere Passantin kann sie Schutz und Ordnung symbolisieren.
- Für einen Jugendlichen mit Erfahrungen von Racial Profiling kann dieselbe Uniform Angst oder Misstrauen auslösen.
- Für die Trägerin der Uniform wiederum bedeutet sie Berufsethos, Autorität oder Verantwortung.
Dieses Symbol – die Uniform – trägt nicht eine feste Bedeutung in sich, sondern wird im jeweiligen sozialen Kontext neu interpretiert. Die Interaktion entscheidet darüber, ob sie als Zeichen von Sicherheit, Repression oder Pflichterfüllung gelesen wird.
Diese drei Annahmen zeigen: Der Symbolische Interaktionismus versteht soziale Realität als prozesshaft, aushandelbar und bedeutungsabhängig. Blumer rückt damit die Frage in den Vordergrund: Wie entsteht soziale Ordnung? Seine Antwort: durch symbolisch vermittelte Verständigung – nie ein für alle Mal fixiert, sondern immer wieder im Alltag neu hergestellt.
Beispiel: Bedeutungszuschreibung im Polizeialltag
Der Symbolische Interaktionismus geht davon aus, dass Bedeutungen im sozialen Austausch entstehen und sich kontextabhängig verändern. Das lässt sich auch im polizeilichen Alltag beobachten:
- Situation: Zwei Jugendliche sitzen spätabends in einem Park. Ein Streifenwagen hält an, die Beamt:innen steigen aus.
- Interaktion: Die Jugendlichen wirken nervös, weichen Blickkontakt aus. Die Polizist:innen interpretieren dies als „auffälliges Verhalten“.
- Deutung: Diese Zuschreibung (Devianzvermutung) basiert nicht auf objektiven Tatbeständen, sondern auf einer interaktiv erzeugten Bedeutung – in diesem Fall: „verdächtig“.
- Konsequenz: Es kommt zur Ausweiskontrolle und Durchsuchung – was wiederum auf Seiten der Jugendlichen das Bild der Polizei als kontrollierend oder misstrauisch bestärken kann.
Dieses Beispiel zeigt: Bedeutung (z. B. „auffällig“, „gefährlich“, „respektlos“) entsteht nicht automatisch durch Verhalten, sondern im Interpretationsprozess zwischen den Beteiligten. Blumers Theorie hilft, solche Dynamiken zu verstehen und zu reflektieren.
Methodische Implikationen
Blumer zieht aus seiner Theorie wichtige methodologische Konsequenzen:
- Soziologie darf keine objektivistischen Methoden verwenden, die Handeln als festgelegtes Reaktionsschema begreifen.
- Stattdessen braucht es qualitative, interpretative Methoden, z. B. teilnehmende Beobachtung, dichte Beschreibung, offene Interviews.
- Zentrale Kategorien wie Identität, Rolle, Status oder Devianz sind nur im konkreten sozialen Kontext verständlich.
Empirische Anwendungen und Forschungsbeispiele
Der Symbolische Interaktionismus hat eine Vielzahl empirischer Studien inspiriert – insbesondere in den Bereichen Kriminalität, Devianz, Identität und Alltagshandeln. Einige klassische und aktuelle Beispiele sind:
- Howard S. Becker – Outsiders (1963): Eine wegweisende Studie zur Etikettierung von abweichendem Verhalten, die zeigt, wie „Devianz“ durch soziale Zuschreibungen entsteht.
- Erving Goffman – Stigma (1963): Analysiert, wie Individuen mit abweichender sozialer Identität ihre Außenwirkung managen.
- Fred Davis – Passages Through Crisis (1963): Eine Untersuchung zur Verarbeitung chronischer Krankheit als symbolisch strukturierter Prozess.
- Sherry Turkle – Life on the Screen (1995): Wendet symbolisch-interaktionistische Konzepte auf digitale Selbstinszenierung und Online-Identitäten an.
Auch in der Polizeiforschung finden sich Anknüpfungspunkte, etwa in Studien zum „doing policing“ oder zur Interaktion zwischen Polizei und Bürger:innen im Streifendienst. Hier wird untersucht, wie Rollenbilder, Autorität und Deeskalation im situativen Handeln hergestellt werden.
Rezeption und Wirkung
Blumers Theorie wurde zu einem Grundpfeiler der interpretativen Soziologie. Sie beeinflusste zentrale Werke der Rollen-, Identitäts- und Abweichungsforschung – etwa Erving Goffmans Dramaturgische Soziologie oder Howard S. Beckers Labelling-Ansatz. Auch in der Kriminologie, Jugendforschung, Gender Studies oder Ethnographie bildet der Symbolische Interaktionismus bis heute einen theoretischen Rahmen.
Kritik kam vor allem von strukturalistischen oder marxistischen Theorien: Sie warfen Blumer vor, Machtverhältnisse, materielle Bedingungen und soziale Ungleichheit zu vernachlässigen. Auch die fehlende historische Kontextualisierung wurde moniert. Dennoch bleibt der Symbolische Interaktionismus ein mächtiges Werkzeug zur Analyse von Alltagsinteraktion, Identitätsarbeit und Bedeutungswandel.
Verhältnis zu verwandten Theorien
Der Symbolische Interaktionismus steht in enger Verbindung zu:
- Mead: Konzept des „Self“ und der Rolle des Anderen.
- Goffman: Alltagsinteraktion als Theater – impression management.
- Berger & Luckmann: Wirklichkeit als Produkt von Kommunikation und Institutionalisierung.
Theoretiker | Zentrale Idee | Beitrag zum Symbolischen Interaktionismus | Fokus der Analyse | Tooltip Theoretiker |
---|---|---|---|---|
George H. Mead | Das Selbst entsteht im sozialen Prozess | Begründer der Theorie, Konzept des „Self“ | Sozialisation, Entwicklung des Selbst | George H. Mead legte die theoretische Grundlage für die Entstehung des Selbst im sozialen Kontext. |
Herbert Blumer | Bedeutung wird durch Interaktion erzeugt | Prägte den Begriff, formulierte die Grundannahmen | Bedeutungsgebung, Interaktionsregeln | Herbert Blumer formulierte die drei Grundprinzipien des Symbolischen Interaktionismus. |
Erving Goffman | Soziale Rollen als Inszenierung im Alltag | Dramaturgische Erweiterung des Ansatzes | Impression Management, Mikrosituationen | Erving Goffman interpretierte soziale Interaktion als Theaterinszenierung. |
Abzugrenzen ist Blumers Ansatz von:
- Systemtheorien (z. B. Parsons, Luhmann), die auf Makroebene operieren,
- Strukturalistischen Ansätzen, die Bedeutung aus Diskursen oder Tiefenstrukturen ableiten.
Aspekt | Klassische Makrotheorien (z. B. Marx, Durkheim, Parsons) | Symbolischer Interaktionismus (z. B. Blumer) |
---|---|---|
Fokus der Analyse | Strukturen, Institutionen, soziale Systeme | Alltagsinteraktion, Bedeutungsprozesse |
Menschenbild | Strukturell determiniert, rollengebunden | Interpretierender Akteur, handlungsfähig |
Begriff von Gesellschaft | Objektive Ordnung mit funktionalen Erfordernissen | Soziale Realität als Aushandlungsprozess |
Zentrale Fragestellung | Wie funktioniert Gesellschaft als Ganzes? | Wie entsteht Bedeutung im sozialen Miteinander? |
Methodischer Zugang | Quantitativ, systemisch, theoriegeleitet | Qualitativ, interpretativ, alltagsnah |
Begriff von Handlung | Reaktion auf äußere Einflüsse, funktional | Sinngeleitet, durch Symbole vermittelt |
Beispielhafter Vertreter | Karl Marx, Émile Durkheim, Talcott Parsons | Herbert Blumer, George H. Mead, Erving Goffman |
Was unterscheidet den Symbolischen Interaktionismus von früheren Theorien?
Der Symbolische Interaktionismus markiert einen Paradigmenwechsel innerhalb der Soziologie – weg von strukturellen Erklärungsmodellen hin zu einer theoriegeleiteten Analyse des sozialen Handelns im Alltag. Herbert Blumer grenzt sich insbesondere von folgenden theoretischen Richtungen ab:
- Strukturfunktionalismus (z. B. Talcott Parsons): Dieser Ansatz betrachtet Gesellschaft als ein System stabiler Rollen und Funktionen. Blumer kritisiert, dass dabei die aktive Bedeutungsgebung durch Individuen übersehen wird.
- Behaviorismus: In psychologisch geprägten Modellen wird Verhalten häufig als Reaktion auf Reize verstanden. Blumer betont dagegen die Interpretation zwischen Reiz und Reaktion.
- Deterministische Theorien (z. B. Marxismus): Gesellschaftliches Handeln wird hier häufig aus ökonomischen Strukturen abgeleitet. Der Symbolische Interaktionismus hingegen fragt, wie soziale Realität konkret ausgehandelt wird.
Blumers Ansatz rückt damit Interaktion, Kommunikation und subjektive Bedeutungen ins Zentrum. Menschen sind für ihn keine passiven Rollenträger, sondern handelnde, deutende, interpretierende Akteure. Dieser Perspektivwechsel hat die Soziologie nachhaltig verändert – insbesondere in der qualitativen Forschung.
Fazit
Mit Symbolischer Interaktionismus hat Herbert Blumer ein Fundament für die interpretative Soziologie gelegt. Sein Werk rückt Bedeutung, Interaktion und Interpretation ins Zentrum soziologischer Analyse. Damit eröffnet er ein Verständnis von sozialer Wirklichkeit als fortwährendem Aushandlungsprozess – fluide, dynamisch und kontextabhängig. In einer Gesellschaft, die zunehmend durch digitale Kommunikation, Rollenflexibilität und kulturelle Vielfalt geprägt ist, bleibt Blumers Ansatz aktueller denn je.
Kritik am Symbolischen Interaktionismus
Trotz seiner großen Bedeutung wurde der Symbolische Interaktionismus vielfach kritisiert. Eine zentrale Einwendung lautet, dass der Ansatz strukturelle Machtverhältnisse, soziale Ungleichheit und institutionelle Zwänge vernachlässige. Kritiker bemängeln, dass Blumer und andere Vertreter zu stark auf subjektive Bedeutungen und Mikroprozesse fokussieren – während gesellschaftliche Makrostrukturen nur unzureichend berücksichtigt würden.
Zudem wird der Ansatz als methodologisch anspruchsvoll eingeschätzt, da er sich primär auf qualitative Verfahren stützt, deren Ergebnisse schwer verallgemeinerbar sind. Die Erhebung und Interpretation subjektiver Bedeutungen ist forschungspraktisch aufwendig und theoretisch nicht immer eindeutig.
Insbesondere Vertreter kritischer und strukturaler Theorien (z. B. Pierre Bourdieu, Jürgen Habermas) kritisieren die fehlende Berücksichtigung materialer Bedingungen, Herrschaftsverhältnisse und kollektiver Ideologien. Der Symbolische Interaktionismus bleibe, so der Vorwurf, zu sehr in der Perspektive des Individuums verhaftet.
Literatur
- Blumer, H. (1969). Symbolic Interactionism: Perspective and Method. Englewood Cliffs: Prentice Hall.
- Joas, H. (1987). Pragmatismus und Gesellschaftstheorie. Frankfurt am Main: Suhrkamp.
- Mead, G. H. (1934). Mind, Self, and Society. Chicago: University of Chicago Press.
- Goffman, E. (1956). The Presentation of Self in Everyday Life. New York: Doubleday.