Das dem griechischen Philosophen Sokrates zugeschriebene Zitat verdeutlicht, dass vermutlich zu allen Zeiten ältere Generationen das Verhalten und Benehmen der jüngeren Gesellschaftsmitglieder kritisiert haben.
Das Jugendalter ist charakterisiert durch einerseits ein relatives hohes Maß an Abhängigkeit von den Eltern und anderen Erziehungspersonen und andererseits einem Streben nach Unabhängigkeit von der Welt der Erwachsenen. Jugendliche wenden sich vermehrt Gleichaltrigen (Peers) zu und bewerten die Erwachsenenwelt kritisch. Etablierte gesellschaftliche Werte werden kritisch betrachtet und alternative Wertvorstellungen verfolgt. Ein Streben nach zunehmender Verantwortungsübernahme konfligiert mit einer noch mangelnden Erfahrung. Das Jugendalter ist zudem gekennzeichnet durch eine sexuelle Reifung (Pubertät) und dem (vorläufigen) Endpunkt der (sekundären) Sozialisation (vgl. Clages & Zeitner, 2016: 122).
Insbesondere die Autonomiebestrebungen junger Menschen ziehen Verhaltensweisen nach sich, die den Jugendlichen (noch) nicht erlaubt sind (z.B. Autofahren, Rauchen, Trinken etc.) oder die die Älteren als unvernünftig und unziemlich tadeln (z.B. Mutproben, ausgelassen feiern etc.). Die benannten Beispiele sind dem Bereich der DelinquenzDelinquenz beschreibt die Neigung, strafbare Handlungen zu begehen. zuzuordnen. Jedoch ist auch die Begehung von Straftaten für das Jugendalter typisch. Gemäß verschiedener Dunkelfeldbefragungen (s.u.) werden bis zu achtzig Prozent der Jugendlichen im Jugendalter mindestens einmal kriminell. Die Spannbreite der Delikte reicht hierbei von Schwarzfahren (Leistungserschleichung) über den Download von Filmen und Musik (Verstoß gegen das Urheberrechtegesetz) bis hin zu Sachbeschädigung (z.B. Graffiti), Körperverletzung und den Umgang mit illegalen Drogen. Dieses Verhalten ist dabei keineswegs eine Eigenart deutscher Jugendlicher, sondern lässt sich in unterschiedlichen Kulturen, gesellschaftliche Schichten übergreifend und zu allen Zeiten beobachten. Jugendkriminalität ist demnach ein normales – da ubiquitäres (allgegenwärtiges) Phänomen.
Jugendkriminalität im polizeilichen Hell- und Dunkelfeld
Einzelne schwere Taten (insbesondere Körperverletzungsdelikte) haben in der Vergangenheit immer wieder für ein großes mediales Interesse an dem Thema Jugendkriminalität gesorgt. Auffällig ist hierbei, dass insbesondere Taten, von denen zum einen Bilder aus Überwachungskameras vorlagen und bei denen zum anderen ein deutsches, zumeist älteres Opfer von jugendlichen Personen mit Migrationshintergrund geschädigt wurde, öffentliche Aufmerksamkeit erregt. Die Presseberichte tragen ihren Anteil an der Mär von der Zunahme von Jugendkriminalität in Häufigkeit und/ oder Schwere bei.
Die Daten zum sog. Hellfeld der Jugendkriminalität speisen sich aus der polizeilichen KriminalstatistikSammlung und Auswertung von Daten über polizeilich registrierte Straftaten und Tatverdächtige.. Aus der Darstellung der langfristigen Entwicklung der Jugendkriminalität (siehe unten) ist ersichtlich, dass die Zahl der tatverdächtigen Kinder und Jugendlichen in den 1990er Jahren anstieg. Im Jahr 1998 erreichte dieser Anstieg seinen Höhepunkt mit 302.413 tatverdächtigen Jugendlichen. Seither ist ein weitgehend konstanter Abstieg zu verzeichnen. Im Jahr 2019 wurden 177.082 tatverdächtige Jugendliche registriert, was in etwa dem Niveau des Jahres von 1992 entspricht. Die Jahre 2020 und 2021 waren durch Hygienemaßnahmen und soziale Kontaktbeschränkungen im Zusammenhang mit der Corona-Pandemie geprägt. Der Einfluss dieser Maßnahmen auf die Tatgelegenheitsstruktur zeigt sich im Allgmeinen (und nicht nur mit Blick auf Jugendkriminalität) in einem Rückgang der Kriminalität. Im Jahr 2022 ist ein deutlicher Anstieg der registrierten Tatverdächtigen festzustellen auf ein Niveau oberhalb des „Vor-Corona-Niveaus“ 2019.
Entwicklung jugendlicher Tatverdächtiger in Deutschland (1987-2022) (Quelle: PKS 2019, PKS 2020, PKS 2021, PKS 2022)
Die Entwicklung der Jugendkriminalität im Hellfeld ist im Kontext der Erfassungsmodalitäten zu betrachten. Das Eingangszitat und die Merkmale von Jugendkriminalität (insbesondere der spontane und gruppenbezogene Charakter, das Autonomiebestreben und die Hinwendung zu Peers) zeugen davon, das ein Großteil der Jugendkriminalität auf eine exponierte Tatbegehung zurückzuführen ist. Eine Gruppe Jugendlicher, die ein Kaufhaus betritt, wird eher die Aufmerksamkeit des Verkaufspersonals und des Ladendetektivs auf sich ziehen als ein allein agierender, erwachsener Ladendieb. Eine Drogen konsumierende Gruppe Jugendlicher auf der Parkbank wird eher ins Visier einer Polizeistreife geraten als der erwachsene Drogenkonsument, der in seinen eigenen vier Wänden Drogen gebraucht. Das AnzeigeverhaltenDas Anzeigeverhalten beschreibt die Bereitschaft von Opfern oder Zeugen, eine Straftat der Polizei zu melden. und die Kontrollintensität spielen demnach bei Jugendkriminalität eine besondere Rolle.
Im Gegensatz zu Daten aus dem polizeilichen Hellfeld, die jährlich im Rahmen der Polizeilichen Kriminalstatistik publiziert werden, sind Informationen im Kontext von Jugendkriminalität zur Täterschaft und Opferwerdung aus dem statistischen Dunkelfeld rar (siehe hier zu allgemeinen Informationen zum Hell- und Dunkelfeld). Dies hängt vor allem mit der methodischen Komplexität solcher Untersuchungen und den hiermit verbundenen finanziellen Kosten zusammen. Um repräsentative Aussagen treffen zu können, müssen eine große Anzahl von Jugendlichen in unterschiedlichen Städten und Gemeinden über ganz Deutschland verteilt befragt werden. Grundsätzlich liegen diesen Dunkelfeldanalysen selbstberichtete Delinquenz und Angaben zur eigenen ViktimisierungDer Prozess der Opferwerdung durch eine Straftat oder ein anderes schädigendes Ereignis. der Befragten zugrunde. Die hier erfassten Taten bilden demnach eine Schnittmenge mit der polizeilich registrierten Jugendkriminalität, gehen aber deutlich darüber hinaus (da eben nicht jeder Täter gefasst und nicht jede Tat zur Anzeige gebracht wird).
Das Kriminologische Forschungsinstitut Niedersachsen (KFN) führte 1998 eine großangelegte Schülerbefragung in der neunten Jahrgangsstufe in neun deutschen Städten durch. 2007/2008 erfolgte die erste repräsentative Schülerbefragung in Deutschland. Eine Übersicht über die thematischen Schwerpunkte der verschiedenen KFN-Schülerbefragungen und dazugehörige Forschungsberichte sind auf der Internetseite des KFN verfügbar.
Ein zentrales Ergebnis dieser Schülerbefragung ist der unten stehenden Grafik zu entnehmen:
Der Anteil der Jugendlichen, die angeben, mindestens eine Straftat innerhalb der letzten 12 Monate begangen zu haben, liegt bei über 70% (bei den Jungen bei 43,7% und den Mädchen bei 23,6%). Somit findet auch in dieser Studie die Annahme vom ubiquitären Charakter von Jugendkriminalität Bestätigung. Auffällig ist die Diskrepanz zwischen der selbstberichteten Delinquenz von Jungen und Mädchen. Lediglich beim Ladendiebstahl berichten die weiblichen Befragten annähernd so oft von einer Täterschaft. Bei allen anderen abgefragten Delikten liegt der Anteil der Mädchen höchstens ein Drittel so hoch wie bei den männlichen Befragten. Bei (schweren) Gewaltdelikten ist diese Diskrepanz am höchsten.
Bei den berichteten Delikten dominieren leichte Straftaten wie Vandalismus, einfache Körperverletzung und Ladendiebstahl. Schwere Straftaten wie Einbruch, Raub, sexuelle Gewalt und Erpressung werden sehr viel seltener berichtet.
Mit Blick auf die zur Verfügung stehenden Dunkelfelddaten zur Jugendkriminalität, stellt Heinz (2016) ferner fest, dass „entgegen den in der PKS ausgewiesenen Anstiegen […] sämtliche neueren, seit Ende der 1990er-Jahre durchgeführten Schülerbefragungen bei keinem der untersuchten Delikte einen Anstieg [zeigen], die Raten gehen überwiegend sogar zurück, teilweise deutlich“. Demnach ist der in den 1990er Jahren zu verzeichnende Anstieg der Jugendkriminalität im polizeilichen Hellfeld auf eine „eine Sensibilisierung gegenüber Gewalt und eine Erhöhung der Anzeigebereitschaft“ (ebd.) zurückzuführen.
Dunkelfeldkriminalität – Selbstberichtete Delinquenz von Jugendlichen (Heinz, 2016)
Delinquenzbelastung im Lebensverlauf
Ich wollte, es gäbe gar kein Alter zwischen zehn und dreiundzwanzig, oder die jungen Leute verschliefen die ganze Zeit: Denn dazwischen ist nichts, als den Dirnen Kinder schaffen, die Alten ärgern, stehlen, balgen Shakespeare (1611) Wintermärchen, 3. Akt 3. Szene
Jugendkriminalität ist transitorisch, d.h., für die allermeisten Jugendlichen ist Kriminalität beschränkt auf eine kürzere Phase in ihrer Lebensspanne. Wie der unten stehenden Grafik zu entnehmen ist, steigt die Tatverdächtigenbelastungsziffer im Kindes- bzw. frühen Jugendalter rasch an und erreicht bei männlichen Jugendlichen ihren Höhepunkt in der Alsterspanne zwischen 18 bis unter 21 Jahren und bei weiblichen Jugendlichen bereits in der Alterspannen von 14 bis unter 16 Jahren. Nach Erreichen des Scheitelpunktes nimmt die Tatverdächtigenbelastungsziffer mit zunehmendem Alter ab. Dieser Zusammenhang zwischen Alter und Kriminalitätsbelastung wird auch als „aging-out-effect“ bezeichnet.
Wichtig anzumerken ist hierzu noch, dass es sich bei dem sprunghaften Rückgang der Kriminalitätsbelastung im Jugendalter i.d.R. um eine Spontanremission handelt. D.h., dass sich für die allermeisten Jugendlichen Kriminalität als selbst erledigendes Phänomen erweist und ohne Intervention von außen, kriminelle Verhaltensweise unterlassen werden.
Kriminalität im Altersverlauf (Heinz, 2016)Tatverdächtigenbelastungszahlen (je 100.000) für Deutsche, nach Geschlecht und Altersgruppe. 2015
Jugendliche Mehrfach- und Intensivtäter
Jugendliche Mehrfach- und Intensivtäter sind junge Menschen, die wiederholt und mit hoher Frequenz Straftaten begehen. Eine allgemein anerkannte Definition gibt es nicht, jedoch orientieren sich kriminalwissenschaftliche und polizeiliche Abgrenzungen meist an quantitativen Kriterien: MehrfachtäterPersonen, die wiederholt Straftaten begehen und dadurch in der Kriminalstatistik mehrfach in Erscheinung treten. haben in der Regel mindestens fünf registrierte Straftaten innerhalb eines bestimmten Zeitraums, während Intensivtäter durch eine besonders hohe Rückfallquote, Schwere der Delikte oder eine kriminelle Karriere mit zunehmender Eskalation gekennzeichnet sind.
Das Intensivtäterkonzept geht auf die sog. Philadelphia-Kohortenstudie von Wolfgang, Figlio und Sellin (1972) zurück. Die Forscher fanden seinerzeit heraus, dass 6% der Geburtskohorte verantwortlich für 52% der polizeilichen Festnahmen und Mehrzahl der Gewaltdelikte (u. a. 82% aller Raube, 69% der qualifizierten Körperverletzungsdelikte und 73% aller Vergewaltigungen) sind. Seither wurde dieser Befund in zahlreichen Folgestudien (u.a. Schülerbefragungen durch das KfN in Deutschland) bestätigt. Als grobe Faustregel gilt, dass ca. 6% der Jugendlichen eines Jahrgangs verantwortlich sind für 50% der Kriminalität, die von diesem Personenkreis ausgeht.
Erklärungsansätze für Jugenddelinquenz
Jugendarbeitslosigkeit
persönliches Gewalterleben (in der Erziehung – Elternhaus, Schule. Bundeswehr usw.)
Naplava, T. (2018). Jugendliche Intensiv- und Mehrfachtäter. In: B. Dollinger und H. Schmidt-Semisch (Hrsg.).Handbuch Jugendkriminalität (S. 337-356). Wiesbaden: Springer.DOI 10.1007/978-3-531-19953-5_17
Walsh, M. (2018) Effekte von Ansätzen und Maßnahmen im Umgang mit jungen „Intensiv“- und Mehrfachtätern. Systematische Übersichtsarbeit zu den Methoden und Ergebnissen von Studien zur Evaluation von Präventionsansätzen. Berichte des Nationalen Zentrums für Kriminalprävention, 2/2018. Bonn: Nationales Zentrum Kriminalprävention. Online verfügbar unter: https://www.nzkrim.de/synthese/themen/16/