Mit Policing the Crisis: Mugging, the State and Law and Order (1978) legten Stuart Hall und seine Ko-Autoren ein bahnbrechendes Werk der Kritischen Kriminologie und Cultural Studies vor. In der Untersuchung des „Mugging“-Diskurses im Großbritannien der 1970er-Jahre zeigen sie eindrucksvoll, wie Kriminalität als gesellschaftliches Konstrukt fungiert – politisch produziert, medial verstärkt und ideologisch instrumentalisiert.
Die Analyse stützt sich auf eine Kombination aus qualitativer Inhaltsanalyse, politökonomischer Kontextualisierung und Fallstudien aus Gerichtsprozessen und Medienberichterstattung.
Stuart Hall (1932–2014) war einer der bedeutendsten Kulturtheoretiker des 20. Jahrhunderts – und einer der wenigen prominenten schwarzen Intellektuellen in der britischen Soziologie und Kriminologie. Geboren in Jamaika und seit den 1950er-Jahren in Großbritannien tätig, prägte Hall maßgeblich die Cultural Studies am Centre for Contemporary Cultural Studies (CCCS) in Birmingham.Seine Perspektive als Schwarzer Wissenschaftler in einer von Rassismus und sozialer Ungleichheit geprägten Gesellschaft beeinflusste nicht nur seine Themenwahl, sondern auch seine Analyse gesellschaftlicher Macht- und Repräsentationsverhältnisse. In Policing the Crisis analysiert Hall gemeinsam mit seinem Team, wie schwarze Jugendliche zum Projektionsraum gesellschaftlicher Ängste wurden – eine Erfahrung, die er selbst in vielfacher Weise kannte.
Die Verbindung von wissenschaftlicher Reflexion und gelebter Erfahrung macht Hall zu einer der wichtigsten Stimmen kritischer Sozialforschung im 20. Jahrhundert.
Merkzettel
Policing the Crisis (1978)
Hauptvertreter: Stuart Hall, Chas Critcher, Tony Jefferson, John Clarke, Brian Roberts
Erstveröffentlichung: 1978
Land: Vereinigtes Königreich
Disziplin: Kritische Kriminologie, Cultural Studies
Zentrale Ideen:
- Kriminalität ist ein ideologisch aufgeladener Diskurs, nicht nur ein objektives Phänomen.
- Das Konzept der Moralischen Panik wird erweitert und mit rassistischen und hegemonialen Strukturen verknüpft.
- Der Staat agiert nicht nur repressiv, sondern auch hegemonial durch kulturelle Zustimmung (Gramsci).
- Medien, Justiz und Politik wirken bei der symbolischen Konstruktion von Bedrohung mit.
- Die Inszenierung von Kriminalität dient der Legitimierung autoritärer Politik und lenkt von sozialen Ursachen (z. B. Armut, Arbeitslosigkeit) ab.
Verwandte Ansätze:
Gesellschaftlicher Kontext und theoretische Einordnung
Das Werk entstand im Umfeld des Centre for Contemporary Cultural Studies (CCCS) an der Universität Birmingham, das als Zentrum der britischen Cultural Studies gilt. Die 1970er-Jahre waren geprägt von Wirtschaftskrise, Massenarbeitslosigkeit und wachsender sozialer Unsicherheit – insbesondere in der britischen Arbeiterklasse. In diesem Klima wurde das Phänomen des sogenannten „Muggings“ (eine Form des Straßenraubs) zum Symbol eines angeblichen „Verbrechensanstiegs“, der eine massive öffentliche Debatte auslöste.
Hintergrund: Centre for Contemporary Cultural Studies (CCCS)
Das Centre for Contemporary Cultural Studies (CCCS) wurde 1964 an der Universität Birmingham gegründet und entwickelte sich unter der Leitung von Richard Hoggart und später Stuart Hall zu einem einflussreichen Zentrum der britischen Cultural Studies. Das CCCS kombinierte marxistische Theorie, Subkulturforschung, Medientheorie und Kritische Kriminologie.
Die Forschungen des Zentrums waren stark interdisziplinär ausgerichtet und verbanden empirische Sozialforschung mit ideologiekritischen Ansätzen. Besondere Aufmerksamkeit galt der symbolischen Repräsentation sozialer Konflikte – etwa in Jugendkulturen, Medien oder Diskursen über Kriminalität. Zu den bekanntesten Arbeiten zählen Resistance through Rituals (1976) sowie Policing the Crisis (1978). Während Resistance through Rituals die kulturelle Praxis von Jugend-Subkulturen analysierte, fokussiert Policing the Crisis stärker auf deren politische Kriminalisierung.
Das CCCS prägte eine ganze Generation linker Sozialwissenschaftler:innen und gilt als Geburtsstätte der Cultural Studies.
Zentrale Thesen und Argumente
- Moral Panic: Hall et al. analysieren die Entstehung einer moralischen Panik rund um das vermeintlich neue Phänomen des „Muggings“ (Straßenraubs). Dabei zeigen sie, wie ein Einzelfall von Jugendkriminalität medial aufgebauscht und als Symbol für eine tiefgreifende gesellschaftliche Krise dargestellt wurde. Die mediale Dramatisierung diente dazu, diffuse soziale Ängste – über Migration, Jugend, Klasse und Ordnung – auf eine klar benennbare Gruppe zu projizieren, insbesondere auf schwarze Jugendliche. Obwohl das Verhalten (Raub) nicht neu war, wurde es als neuartig und besonders bedrohlich konstruiert, um politische Reaktionen zu ermöglichen.
- Kriminalität als ideologischer Diskurs: Die Autoren zeigen, dass Kriminalität kein „objektives“ Phänomen ist, sondern sozial konstruiert wird – durch Interpretationen, Zuschreibungen und symbolische Kämpfe um Bedeutung. Polizei, Justiz, Politik und insbesondere die Massenmedien wirken hier als Diskursproduzenten, die bestimmte Gruppen – wie die schwarze Arbeiterjugend – als gefährlich und abweichend markieren. Kriminalität wird so zum Mittel, gesellschaftliche Konflikte kulturell und moralisch zu verhandeln und oppositionelle Stimmen zu delegitimieren.
- Repressive Staatsreaktion: Die inszenierte Bedrohungslage legitimiert politische Eingriffe und eine Verschärfung der Repressionspolitik: mehr Polizei auf den Straßen, härtere Urteile, gezielte Razzien in migrantischen Communities. Diese Maßnahmen sollen jedoch nicht reale Kriminalität bekämpfen, sondern symbolisch die Handlungsfähigkeit des Staates unter Beweis stellen. Dabei geraten gesellschaftliche Ursachen von Unsicherheit – wie Arbeitslosigkeit, ökonomische Ungleichheit und Rassismus – aus dem Blick.
- Ideologie und Hegemonie: In Anlehnung an Antonio Gramsci argumentieren Hall et al., dass der moderne Staat nicht allein durch physische Gewalt (Repression), sondern auch durch kulturelle Zustimmung (Hegemonie) herrscht. Diese Zustimmung wird nicht erzwungen, sondern über mediale Narrative, moralische Diskurse und symbolische Politik hergestellt. Die Inszenierung von Kriminalität spielt hierbei eine zentrale Rolle: Sie erlaubt es, neoliberale Umstrukturierungen und staatliche Härte als notwendig und gemeinwohlorientiert zu rechtfertigen.
Begriff erklärt: Hegemonie
In Anlehnung an Antonio Gramsci versteht Hall Hegemonie als die kulturell vermittelte Zustimmung zur Vorherrschaft einer sozialen Gruppe. Hegemonie entsteht nicht allein durch Zwang, sondern durch die Verankerung dominanter Werte, Normen und Narrative im Alltagsbewusstsein. In Policing the Crisis zeigt Hall, wie Kriminalitätsdiskurse zur Legitimation hegemonialer Ordnungen beitragen – etwa durch rassifizierende Stereotype oder den Ruf nach Law-and-Order-Politik.
Weiterdenken: Ein Vergleich von Moral Panic bei Stanley Cohen und Stuart Hall
Sowohl Stanley Cohen als auch Stuart Hall analysieren das Konzept der Moralischen Panik – jedoch mit unterschiedlichen Schwerpunkten:
Aspekt | Stanley Cohen (1972) | Stuart Hall et al. (1978) |
---|---|---|
Beispiel | Mods und Rockers (Jugendkulturen) | Mugging (Straßenraub in Großbritannien) |
Fokus | Medienlogik, Eskalation, Stereotypisierung | Staatsapparate, Ideologie, Klassen- und Rassismusdimension |
Theoretischer Hintergrund | Symbolischer Interaktionismus | Marxismus, Gramsci, Cultural Studies |
Ziel der Analyse | Aufklärung über mediale Konstruktion von Devianz | Aufdeckung hegemonialer Machtstrategien durch Strafpolitik |
Beide Ansätze zeigen: Moral Panics sind gesellschaftlich hergestellte Krisenerzählungen, die zur Kontrolle, Ablenkung und Disziplinierung bestimmter Bevölkerungsgruppen dienen.
Weiterdenken: Foucaults Disziplinarmacht und Hall et al.
Die Analyse von Policing the Crisis lässt sich inhaltlich eng mit Michel Foucaults Überwachen und Strafen (1975) verknüpfen. Beide Werke kritisieren die Vorstellung, dass Strafrecht und Polizei primär auf tatsächliches Fehlverhalten reagieren. Stattdessen zeigen sie, dass Kriminalpolitik und Strafpraxis Teil umfassender Machttechniken sind, die auf die Formierung gesellschaftlicher Ordnung zielen.
Während Foucault den historischen Wandel von der körperlichen Bestrafung zur subtilen Disziplinarmacht (z. B. in Schulen, Fabriken oder Gefängnissen) untersucht, zeigen Hall et al., wie symbolische Macht über Medien, Diskurse und rassifizierende Narrative ausgeübt wird. In beiden Fällen ist Kontrolle nicht nur repressiv, sondern produktiv: Sie erzeugt Normalitätsvorstellungen, moralische Grenzen und soziale Kategorien wie „Kriminelle“, „Gefährder“ oder „Abweichler“.
Zudem verbindet beide Werke die kritische Perspektive auf Staatlichkeit: Polizei, Justiz und Medien erscheinen nicht als neutrale Institutionen, sondern als Akteure in einem politischen Spiel um Hegemonie, Ordnung und Legitimation.
Weiterdenken: Cultural Criminology und Policing the Crisis
Das Werk Policing the Crisis kann als frühe theoretische Grundlage der Cultural Criminology gelesen werden. Viele der hier entwickelten Einsichten – etwa zur symbolischen Konstruktion von Kriminalität, zur Rolle der Medien bei der Produktion von Bedrohungsbildern oder zur Bedeutung kultureller Hegemonie – prägen auch die spätere Cultural Criminology.
Insbesondere die Cultural Criminology knüpft an Halls Verständnis von Kriminalität als gesellschaftlich produziertes, medial inszeniertes und kulturell aufgeladenes Phänomen an. Dabei wird Kriminalität nicht als objektives Fehlverhalten, sondern als Ausdruck gesellschaftlicher Konflikte und Identitätskämpfe verstanden – ein Ansatz, der Halls Werk in die Gegenwart weiterführt.
Kritik und Rezeption
„Policing the Crisis“ wurde vielfach rezipiert und gilt bis heute als Meilenstein der Kritischen Kriminologie und Cultural Studies. Besonders hervorgehoben wurde die interdisziplinäre Methodik des Werks, das auf einzigartige Weise Diskursanalyse, politische Ökonomie und Ideologiekritik miteinander verbindet. Diese theoretische Breite ermöglichte eine umfassende Analyse gesellschaftlicher Machtverhältnisse und ihrer Reproduktion durch Kriminaldiskurse.
Kritische Stimmen monierten jedoch, dass die empirische Basis der Studie mitunter selektiv oder unterdeterminiert sei. So wurde etwa angemerkt, dass die konkrete Fallanalyse des „Mugging“-Diskurses nicht alle relevanten Perspektiven berücksichtigt und der theoretische Anspruch gelegentlich die empirische Fundierung überlagere. Dennoch überwiegt in der Rezeption die Anerkennung für die analytische Tiefenschärfe und die politische Relevanz des Werkes.
„Policing the Crisis“ inspirierte eine Vielzahl nachfolgender Studien zu Rassismus, Migration, Jugendkriminalität und Medienrepräsentationen in modernen Gesellschaften. Insbesondere die kritische Analyse hegemonialer Deutungsmuster und die Betonung der ideologischen Funktion von Kriminalitätsdiskursen prägen bis heute Debatten in der Kriminologie, Soziologie und Medienwissenschaft.
Beispielhafte Aktualität: „Mugging“ und heutige Debatten
Der Begriff „Mugging“ diente in den 1970er-Jahren der rassistischen Markierung schwarzer Jugendlicher als „kriminelle Bedrohung“. Hall et al. analysieren diesen Diskurs als Ablenkung von ökonomischen Problemen. Vergleichbare Mechanismen – Muster der Skandalisierung, Stereotypisierung und politischen Instrumentalisierung – lassen sich in aktuellen Debatten erkennen:
- „Clankriminalität“ (ab ca. 2009): Der mediale und politische Fokus auf sogenannte arabischstämmige Großfamilien setzte insbesondere nach spektakulären Polizeieinsätzen und Razzien ein. Prominente Beispiele wie die Berichterstattung über den Berliner Remmo-Clan (u. a. Goldmünzenraub 2017) dienten der Konstruktion eines ethnisierten kriminellen Gegenbildes und lenken von strukturellen Ursachen sozialer Ungleichheit ab.
- „No-Go-Areas“ (zunehmend seit ca. 2015): Die Erzählung von angeblich rechtsfreien Räumen in urbanen Vierteln wurde im Kontext von Flüchtlingszuwanderung und Sicherheitsdebatten populär. Der Begriff tauchte u. a. in einem stark kritisierten AfD-Wahlkampfspot 2019 sowie in BILD-Schlagzeilen über Stadtteile in Berlin, Duisburg oder Essen auf. Diese Narrative stützen Law-and-Order-Rhetoriken und rechtfertigen polizeiliche Aufrüstung sowie städtebauliche Kontrollmaßnahmen.
- „Jugendgewalt“ (immer wieder, z. B. 2007, 2018, 2023): Zyklisch auftretende Kampagnen über „gewalttätige Jugendliche“ wurden oft mit rassifizierenden Zuschreibungen verbunden – etwa nach dem U-Bahnhof-Schubser-Fall in München (2007) oder im Kontext von „TikTok-Gewaltvideos“ 2023. Diese Debatten stützen Forderungen nach härteren Strafen, autoritärer Erziehung und erweitertem Polizeieinsatz.
- „Messerkriminalität“ (verstärkt seit 2018): Der Begriff wurde nach mehreren medial aufgegriffenen Tötungsdelikten (z. B. Kandel 2017, Chemnitz 2018) prominent. Obwohl die Zahlen in der Kriminalstatistik nicht eindeutig steigen (bzw. der Einsatz von Messern nicht systematisch erfasst wird), wird „Messergewalt“ häufig mit jungen Männern mit Migrationshintergrund assoziiert. Der Diskurs dient der rassifizierten Zuspitzung von Sicherheitsnarrativen – trotz empirisch diffuser Datenlage.
Diese Beispiele zeigen: Moral Panics sind keine historischen Ausnahmephänomene, sondern ein stets reaktivierbares Machtinstrument zur Durchsetzung hegemonialer Interessen – ganz im Sinne der Theorien von Cohen und Hall.
Weiterführend
- Online-Volltext bei Archive.org
- Stanley Cohen – Folk Devils and Moral Panics (1972)
- Antonio Gramsci – Gefängnishefte
- Kritische Kriminologie – Theoretischer Überblick
- Michel Foucault – Überwachen und Strafen (1975)
Literaturverzeichnis und weiterführende Informationen
- Hall, S., Critcher, C., Jefferson, T., Clarke, J., & Roberts, B. (1978). Policing the Crisis: Mugging, the State and Law and Order. London: Macmillan.
- Cohen, S. (1972). Folk Devils and Moral Panics. London: MacGibbon & Kee.
- Gramsci, A. (1971). Selections from the Prison Notebooks. New York: International Publishers.
- HSU, H. (2017). Stuart Hall and the Rise of Cultural Studies. The New Yorker. https://www.newyorker.com/books/page-turner/stuart-hall-and-the-rise-of-cultural-studies