1. Die Klassiker der Soziologie (ca. 1850–1920)
Die Soziologie entsteht als Antwort auf die tiefgreifenden Umwälzungen der Industrialisierung, Urbanisierung und gesellschaftlichen Modernisierung.
- Karl Marx (1818–1883) stellt Klassenkonflikte, ökonomische Strukturen und die Dynamik von Kapitalismus und Ausbeutung in den Mittelpunkt.
- Émile Durkheim (1858–1917) entwickelt die Idee der sozialen Fakten und betont die Bedeutung kollektiver Normen und Institutionen für sozialen Zusammenhalt.
- Max Weber (1864–1920) analysiert das soziale Handeln, die Rationalisierung und die Rolle kultureller Werte bei der Entstehung moderner Gesellschaften.
- Georg Simmel (1858–1918) legt den Fokus auf soziale Formen, Interaktion und die Wirkung der Großstadt auf das Individuum.
2. Funktionalismus und Strukturfunktionalismus (1920–1960)
Nach dem Ersten Weltkrieg dominieren Theorien, die nach sozialer Stabilität und Ordnung fragen.
- Bronisław Malinowski und Alfred Radcliffe-Brown entwickeln funktionalistische Ansätze in der Anthropologie.
- Talcott Parsons (1902–1979) verbindet diese Ideen in den 1930er bis 1950er Jahren zu einer umfassenden Theorie sozialer Systeme. Mit dem AGIL-Schema beschreibt er die universellen Funktionen jedes sozialen Systems: Anpassung, Zielverfolgung, Integration und Erhalt kultureller Muster.
3. Symbolischer Interaktionismus und Mikrosoziologie (1930–1970)
Zeitgleich entwickelt sich eine theoretische Gegenbewegung:
- George Herbert Mead, Herbert Blumer und später Erving Goffman legen den Fokus auf soziale Interaktion, Rollen und Identitätsarbeit.
- Gesellschaft wird hier als Prozess verstanden, der in face-to-face-Interaktionen entsteht und über Symbole und Bedeutungen vermittelt wird.
4. Strukturalismus (1950–1970)
Der französische Strukturalismus entwickelt eine neue Sichtweise:
- Claude Lévi-Strauss überträgt strukturalistische Ideen auf soziale Beziehungen, Rituale und Mythen.
- Strukturen werden als überindividuelle, oft unbewusste Systeme gedacht, die das Denken und Handeln prägen.
5. Systemtheorie (1960–1980)
- Mit der Systemtheorie wird der Strukturfunktionalismus weiterentwickelt und komplexer gedacht.
- Niklas Luhmann (1927–1998) löst sich von handlungs- und akteurszentrierten Perspektiven und versteht Gesellschaft als ein System von Kommunikationen, das sich selbst erzeugt (Autopoiesis).
- Seine Theorie sozialer Systeme prägt bis heute soziologische Systemtheorie und Organisationsforschung.
6. Kritische Theorie (ab 1930, Blüte ab 1960)
- Die Frankfurter Schule (u. a. Max Horkheimer, Theodor W. Adorno, später Jürgen Habermas) kritisiert bestehende Herrschaftsverhältnisse und die „verwaltete Welt“.
- Im Zentrum stehen Fragen von Macht, Ideologie, kultureller Manipulation und rationaler Emanzipation.
- Habermas entwickelt später die Theorie des kommunikativen Handelns und stellt Diskurs und Verständigung in den Mittelpunkt.
7. Poststrukturalismus und Gouvernementalität (1970–1990)
- Michel Foucault und Jacques Derrida lösen sich von starren Strukturbildern und betonen den konstruktiven Charakter von Sprache, Diskurs und Macht.
- Foucault zeigt, wie Wissen, Normen und Macht sich gegenseitig hervorbringen und Individuen formen.
- Seine Begriffe von Disziplin, Kontrolle und „Gouvernementalität“ haben die moderne Sozial- und Kulturforschung tief beeinflusst.
8. Bourdieu und die Theorie der Praxis (1970–2000)
- Pierre Bourdieu (1930–2002) verbindet Struktur und Handlung in seiner Theorie des Habitus, der sozialen Felder und des Kapitals (ökonomisch, sozial, kulturell, symbolisch).
- Er zeigt, wie soziale Ungleichheiten reproduziert werden und warum „freie Entscheidungen“ oft strukturell vorgeprägt sind.
9. Postmoderne und die Theorie der flüchtigen Moderne (1980–2000)
- Jean Baudrillard beschreibt eine Welt der Simulationen, in der Realität und Zeichen verschwimmen.
- Zygmunt Bauman prägt den Begriff der „flüchtigen Moderne“, in der Stabilität durch ständige Veränderung und Unsicherheit ersetzt wird.
10. Aktuelle Strömungen: Praxistheorie, Netzwerkforschung und Postkoloniale Theorien (2000–heute)
- Praxistheoretische Ansätze (u. a. Andreas Reckwitz) rücken routinierte Alltagspraktiken und kulturelle Scripts in den Vordergrund.
- Netzwerktheorien (u. a. Bruno Latour) betrachten soziale Wirklichkeit als das Ergebnis von Beziehungen zwischen Menschen, Dingen und Institutionen.
- Postkoloniale Theorien (u. a. Gayatri Spivak, Homi Bhabha) hinterfragen westliche Wissensordnungen und deuten soziale Strukturen als Ergebnis kolonialer Machtverhältnisse.
Fazit
Von den Klassikern über den Strukturfunktionalismus, Symbolischen Interaktionismus und Poststrukturalismus bis zu gegenwärtigen Theorien der Praxis und Netzwerke: Die soziologische Theoriegeschichte ist eine Geschichte des ständigen Versuchs, das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft, Struktur und Handlung, Ordnung und Wandel zu verstehen. Wer diese Entwicklungslinien kennt, kann die Vielfalt soziologischer Perspektiven einordnen und für die Analyse moderner Gesellschaften nutzen.