Émile Durkheims Studie Der Selbstmord (1897) gehört zu den wichtigsten empirischen Werken der Soziologie. Es untersucht, wie gesellschaftliche Faktoren individuelle Handlungen, speziell Suizid, beeinflussen. Durkheim zeigt auf, dass Selbstmord nicht nur ein individuelles, sondern vor allem ein soziales Phänomen ist.
Dieses sehr frühe soziologische Werk (1897) unterstreicht nicht nur den Charakter der Soziologie als empirische Wissenschaft, sondern zeigt anschaulich das Zusammenspiel individueller Handlungen mit sozialen Strukturen auf.
Wissenschaftlicher und historischer Kontext
In einer Zeit zunehmender Modernisierung und gesellschaftlicher Veränderungen untersuchte Durkheim, wie soziale Integration die Gesellschaft zusammenhält oder auseinanderbrechen lässt. Methodisch baute er auf den Grundlagen seines früheren Werkes Die Regeln der soziologischen Methode (1895) auf, in dem er den objektiven, empirischen Zugang zur Gesellschaftsanalyse etablierte.
Durkheims zentrale These: Suizid als soziale Tatsache
Durkheim versteht Suizid als soziale Tatsache, die unabhängig vom Individuum existiert und durch gesellschaftliche Bedingungen beeinflusst wird. Im Gegensatz zu psychologischen Erklärungen hebt er die sozialen Bedingungen hervor, die individuelle Entscheidungen maßgeblich prägen. Suizid zeigt emergente Eigenschaften, die nicht allein aus individuellen Motiven erklärt werden können.
Merkzettel
Der Selbstmord nach Durkheim
Hauptvertreter: David Émile Durkheim (1858 – 1917)
Erstveröffentlichung: 1897
Land: Frankreich
Idee/ Annahme: Durkheim beschreibt Selbstmord als sozialen Tatbestand (im Gegensatz zu der weit verbreiteten Beschäftigung mit Suizid als psychisches Problem von einzelnen Individuen) und zeichnet im Rahmen einer umfassenden empirischen Studie soziale Einflussfaktoren (z.B. Religionszugehörigkeit, Familienstand, ökonomische Krisen) nach.
Grundlage für: Der von Durkheim entwickelte Begriff der Anomie ist Grundlage der Anomietheorie nach Merton
Vier Typen des Suizids nach Durkheim
Durkhem unterscheidet zwischen den vier Suizidtypen egoistischer Suizid, altruistischer Suizid, anomischer Suizid und fatalistischer Suizid. Die Unterschiede dieser Suizidarten sind in der nachstehenden Tabelle dargestellt.
Suizidtyp | Ursache nach Durkheim | Beispiel |
---|---|---|
Egoistischer Suizid | Mangelnde soziale Integration (Isolation) | Höhere Suizidraten bei unverheirateten oder sozial isolierten Menschen |
Altruistischer Suizid | Übermäßige Integration in die Gemeinschaft | Selbstopferung in Kriegs- oder religiösen Kontexten (Märtyrer) |
Anomischer Suizid | Normative Orientierungslosigkeit (Anomie) | Steigende Suizidraten bei wirtschaftlichen Krisen oder gesellschaftlichem Wandel |
Fatalistischer Suizid | Extreme soziale Reglementierung und Kontrolle | Suizide in stark reglementierten Umgebungen (z. B. Haftanstalten) |
Methodik und empirische Befunde
Durkheim analysierte statistische Daten zu Suizidraten aus mehreren europäischen Ländern. Seine methodische Vorgehensweise basierte auf systematischen empirischen Beobachtungen und Vergleichen, durch die er den Einfluss von gesellschaftlichen Faktoren (wie Religion, Ehe, sozialer Wandel) auf das individuelle Verhalten nachweisen konnte.
Durkheims empirische Befunde zu Suizidraten (Ende 19. Jh.)
Nach Religion (pro 1 Mio. Einwohner):
- Protestanten: ca. 190 Suizide
- Katholiken: ca. 58 Suizide
- Juden: ca. 40 Suizide
Nach Familienstand (pro 1 Mio. Einwohner):
- Unverheiratete: ca. 330 Suizide
- Verheiratete (mit Kindern): ca. 80 Suizide
- Verheiratete (ohne Kinder): ca. 160 Suizide
Nach wirtschaftlichen Bedingungen:
- Anstieg um ca. 20–30 % in Zeiten wirtschaftlicher Krisen (anomischer Suizid)
Daten basieren auf Durkheims Analysen aus seinem Werk „Der Selbstmord“ (1897).
Eine detaillierte Übersicht über die vier Grundtypen des Selbstmords nach Durkheim ist hier zu finden: https://www.peterschallberger.ch/resources/Klassiker_der_Soziologie/DurkheimSelbstmordtypen.pdf
Kritische Auseinandersetzung und Aktualität
Durkheims Ansatz wurde kritisiert, weil er individuelle psychologische Faktoren weitgehend ausschloss. Dennoch bleibt seine Studie grundlegend, da sie erstmals soziale Faktoren systematisch empirisch mit individuellen Handlungen verband. Besonders seine Anomietheorie fand in späteren Arbeiten, etwa bei Robert K. Merton, weiterführende Anwendung und Erklärungskraft.
Verbindung zu aktuellen gesellschaftlichen Themen
Durkheims Konzept der sozialen Integration ist aktuell besonders relevant in Diskussionen über Vereinsamung, psychische Gesundheit und soziale Ungleichheit. In der heutigen Zeit können steigende Suizidraten beispielsweise auf soziale Isolation, prekarisierte Lebenslagen und die Herausforderungen der Globalisierung und Migration zurückgeführt werden.
Fazit: Warum bleibt „Der Selbstmord“ relevant?
Durkheims Der Selbstmord bietet wichtige Erkenntnisse über die Rolle der Gesellschaft für individuelles Verhalten und ist daher für Studierende der Soziologie von bleibendem Wert. Das Werk verdeutlicht, wie soziale Strukturen individuelles Handeln beeinflussen und formt das Verständnis dafür, warum gesellschaftliche Integration essenziell für den sozialen Zusammenhalt ist.
Dieser Beitrag ist Teil der Reihe Schlüsselwerke der Soziologie. Weitere zentrale Werke Durkheims, wie Über soziale Arbeitsteilung und Die Regeln der soziologischen Methode, werden in separaten Beiträgen näher beleuchtet.