Mit Predict and Surveil legt die amerikanische Soziologin Sarah Brayne eine der ersten ethnografischen Studien zur datenbasierten Polizeiarbeit in den USA vor. Im Zentrum steht das Los Angeles Police Department (LAPD), das als Vorreiter in der Anwendung von Predictive Policing gilt – jedoch auch massiv in der Kritik stand. Brayne analysiert, wie Big Data, algorithmische Prognosen und digitale Überwachung nicht nur die polizeiliche Praxis verändern, sondern auch institutionelle Strukturen, Entscheidungslogiken und Machtverhältnisse im Innern der Organisation Polizei neu konfigurieren.
Vergleich klassischer Polizeiarbeit vs. Predictive Policing
Kriterium | Klassische Polizeiarbeit | Predictive Policing |
---|---|---|
Datenquelle | Beobachtung, Erfahrung, Anzeigen, Zeugenaussagen | Big Data, historische Deliktdaten, Soziale Netzwerke |
Entscheidungslogik | Intuition, Erfahrung, individuelle Einschätzung | algorithmische Risikoberechnung, statistische Gewichtung |
Zielrichtung | reaktiv: Reaktion auf begangenes Delikt | proaktiv: Vorhersage und Prävention potenzieller Taten |
Rolle der Beamt:innen | hohe Diskretion, operative Autonomie | datengeleitete Entscheidungen, eingeschränkte Diskretion |
Transparenz | vergleichsweise transparent, nachvollziehbar | geringe Transparenz, „Black Box“-Problematik |
Hauptkritikpunkt | mögliche Verzerrung durch persönliche Vorurteile | Reproduktion bestehender Ungleichheiten, Bias durch Datenbasis |
Digitale Polizeiarbeit als Forschungsfeld
Braynes Untersuchung basiert auf mehrjähriger teilnehmender Beobachtung beim LAPD sowie auf Interviews mit Beamt:innen und zivilen Datenanalyst:innen. Im Zentrum steht die Frage, wie digitale Technologien in den polizeilichen Alltag integriert werden – und mit welchen Folgen für Gerechtigkeit, Effizienz und institutionelle Kontrolle. Anders als viele theoretische Arbeiten über Predictive Policing liefert Brayne eine mikrosoziologische Innensicht auf eine Organisation im Wandel: Sie zeigt nicht nur, was Big Data ermöglicht, sondern auch, was es verdrängt, verfestigt oder verschleiert.
Sarah Brayne – Predict and Surveil
Hauptvertreterin: Sarah Brayne
Erstveröffentlichung: 2020
Land: USA
Zentrale Begriffe: Predictive Policing, Big Data, Diskretion, Datenmacht, algorithmische Entscheidungsunterstützung
Kernaussage: Der Einsatz datenbasierter Vorhersagesysteme verändert nicht nur die polizeiliche Praxis, sondern auch die institutionelle Struktur und Entscheidungslogik der Polizei. Algorithmen ersetzen keine Diskretion, sie rahmen sie neu – mit potenziell problematischen Folgen für Gerechtigkeit, Transparenz und Gleichheit.
Theoretischer Bezug: Surveillance Studies, Harcourt (Against Prediction), Mathiesen (Viewer Society), kritische Techniksoziologie
Zentrale Thesen
Braynes Hauptthese lautet: Die Einführung datenbasierter Werkzeuge verändert nicht nur die Technik des Polizierens, sondern die Institution Polizei selbst. Das LAPD entwickelt sich zunehmend zu einer „data-generating institution“ – einer Organisation, die nicht nur Daten verarbeitet, sondern diese auch systematisch produziert, weitergibt und verwertet. Diese Prozesse beeinflussen, welche Informationen als relevant gelten, wie Verdächtige kategorisiert und wie Risiken operationalisiert werden.
Gleichzeitig beobachtet Brayne, dass algorithmische Instrumente wie „heat maps“, Risikobewertungen oder Netzwerkanalysen nicht etwa die Diskretion der Beamt:innen ersetzen, sondern ihre Grundlagen verschieben. Daten strukturieren Entscheidungen vor – sie suggerieren Objektivität, können aber bestehende Vorurteile und strukturelle Ungleichheiten reproduzieren oder verstärken. Besonders kritisch ist, dass Betroffene kaum Zugang zu den zugrunde liegenden Systemen haben – was Brayne als „asymmetrische Transparenz“ beschreibt.
Theoretischer Rahmen
Brayne verortet ihre Arbeit im Feld der Surveillance Studies sowie der kritischen Techniksoziologie. Sie knüpft an Arbeiten von Oscar Gandy, David Lyon, danah boyd und Bernard Harcourt an, ohne deren theoretische Linien bloß zu reproduzieren. Stattdessen bietet sie eine empirisch fundierte Analyse, die algorithmische Überwachung als institutionell eingebettete Praxis versteht. Dabei gelingt ihr eine wichtige Differenzierung: Nicht jeder Einsatz von Daten ist problematisch – problematisch wird es dort, wo Daten und Software auf bereits ungleich verteilte Ressourcen, Rechte und Räume treffen.
Empirische Einblicke in das LAPD
Ein zentrales Verdienst des Buches liegt in der dichten Beschreibung konkreter Situationen, in denen datenbasierte Systeme zum Einsatz kommen: etwa bei der Priorisierung von Einsatzorten, der Analyse von sozialen Netzwerken („gang affiliation“) oder bei der Beurteilung von Rückfallrisiken. Brayne zeigt, wie die Datenarbeit „hinter den Kulissen“ funktioniert – oft getragen von Zivilist:innen mit technischer Expertise, deren Rolle im polizeilichen Selbstverständnis noch wenig reflektiert ist. Zugleich offenbart ihre Analyse, dass technische Systeme keineswegs neutral oder fehlerfrei sind – sie beruhen auf Annahmen, Gewichtungen und Interpretationen, die politisch und sozial gerahmt sind.
Kritik und kriminologische Relevanz
Predict and Surveil ist nicht nur eine Fallstudie zur US-Polizeiarbeit, sondern ein Schlüsseltext für die kritische Reflexion digitaler Kontrolle im 21. Jahrhundert. Brayne macht deutlich, dass Big Data in der Polizei keine objektive Instanz ist, sondern ein soziales Produkt – mit normativen, organisationalen und politischen Implikationen. Dabei verweist sie auch auf die Gefahr des „technologischen Determinismus“: Wenn technische Tools als Lösung für soziale Probleme verkauft werden, ohne deren strukturelle Ursachen zu hinterfragen.
In der Kriminologie liefert Braynes Werk einen zentralen Beitrag zur Debatte über digitale Ungleichheit, automatisierte Selektionsmechanismen und die Zukunft rechtsstaatlicher Kontrolle. Es eignet sich zur kritischen Ergänzung klassischer Theorien sozialer Kontrolle (z. B. Foucault, Mathiesen) und zur empirischen Fundierung aktueller Diskussionen um Polizeitransparenz, Ethik und algorithmische Fairness.
Verwandte Schlüsselwerke
- Bernard Harcourt – Against Prediction (2007)
- Bernard Harcourt – The Illusion of Free Markets (2011)
- Ruha Benjamin – Race After Technology (2019)
- Virginia Eubanks – Automating Inequality (2018)
- Thomas Mathiesen – The Viewer Society (1997)
Fazit
Sarah Braynes Predict and Surveil ist ein zukunftsweisendes Werk der empirischen Polizeiforschung und der kritischen Überwachungstheorie. Es zeigt, dass technologische Innovation im Strafverfolgungsbereich nicht zwangsläufig zu Fairness, Transparenz oder Effizienz führt – sondern bestehende Ungleichheiten verstärken kann. Mit ihrer präzisen Feldanalyse, theoretischen Einbettung und gesellschaftspolitischen Sensibilität liefert Brayne einen unverzichtbaren Beitrag zur Diskussion über die datengetriebene Polizei der Zukunft.
Literatur und weiterführende Informationen
- Brayne, S. (2020). Predict and Surveil: Data, Discretion, and the Future of Policing. New York: Oxford University Press.
- Brayne, S. (2017). Big Data Surveillance: The Case of Policing. American Sociological Review, 82(5), 977–1008.
- Ferguson, A. G. (2017). The Rise of Big Data Policing: Surveillance, Race, and the Future of Law Enforcement. New York: NYU Press.
- Harcourt, B. E. (2007). Against Prediction: Profiling, Policing, and Punishing in an Actuarial Age. Chicago: University of Chicago Press.
Video
In diesem Interview stellt Sarah Brayne die zentralen Thesen aus Predict and Surveil vor. Sie spricht über den Einsatz von Big Data, neue Formen algorithmischer Kontrolle und die gesellschaftlichen Implikationen datenbasierter Polizeiarbeit.