The Police Power: Patriarchy and the Foundations of American Government (2005) ist ein grundlegendes Werk des deutsch-amerikanischen Rechtswissenschaftlers Markus D. Dubber. In der Tradition kritischer Rechtsphilosophie legt Dubber die genealogischen und ideologischen Grundlagen des staatlichen Gewaltmonopols offen – insbesondere der Exekutivgewalt, die nicht durch Strafrecht, sondern durch soziale Kontrolle wirkt. Sein zentraler Begriff ist der der „Police Power“ (dt.: Polizeibefugnisse) – eine Form staatlicher Macht, die sich nicht aus Rechtsstaatlichkeit, sondern aus vormodernen Ordnungsvorstellungen speist.
Gesellschaftlicher Kontext und theoretischer Rahmen
Dubbers Analyse ist in die kritische Auseinandersetzung mit dem liberalen Rechtsstaat eingebettet. Er zeigt, dass sich moderne Gesellschaften nicht nur über Gesetze und individuelle Freiheitsrechte regieren, sondern über tieferliegende Kontrollmechanismen: Polizei, Verwaltung, Überwachung, Disziplinierung. Dabei greift Dubber auf Michel Foucaults Konzepte der Gouvernementalität und der Disziplinarmacht zurück, schärft diese jedoch durch eine historisch-rechtsphilosophische Perspektive.
Im Zentrum steht die Unterscheidung zwischen Law Power und Police Power:
- Law Power: Die klassische Strafgewalt, gebunden an Verfahren, Legalitätsprinzip und rechtsstaatliche Garantien.
- Police Power: Die umfassende exekutive Befugnis, Ordnung, Sicherheit und Moral zu garantieren – auch ohne individuelle Tat oder richterliche Kontrolle.
Diese „Police Power“ sei nicht nur ein Überbleibsel vormoderner Herrschaft, sondern bilde nach Dubber das Fundament staatlicher Macht – insbesondere in den USA.
Typische Beispiele für die Anwendung von Police Power – jenseits klassischer Strafgewalt – sind unter anderem:
- Vorbeugende Ingewahrsamnahme: Personen können ohne konkrete Straftat für Stunden oder Tage festgehalten werden, etwa zum Schutz der „öffentlichen Ordnung“ – wie bei polizeilichem Einschreiten im Kontext von Protesten oder Fußballspielen.
- Gefahrenabwehr ohne Tatverdacht: Polizeiliche Maßnahmen wie Identitätsfeststellung, Platzverweise oder Durchsuchungen können bereits bei einem „Gefahrenverdacht“ erfolgen, ohne dass eine konkrete Straftat vorliegt.
- Präventive Videoüberwachung: Öffentliche Räume werden flächendeckend überwacht, ohne dass es eines individuellen Anfangsverdachts bedarf – begründet allein mit der abstrakten Gefahr von Delikten.
- Verwaltungsrechtliche Auflagen: Versammlungen oder Demonstrationen werden durch Auflagen eingeschränkt oder ganz verboten – mit Verweis auf die „polizeiliche Gefahrenprognose“.
- Migration und Aufenthaltsrecht: Abschiebungshaft, Residenzpflicht oder Ankerzentren operieren oft im Vorfeld strafrechtlicher Relevanz – die Maßnahmen dienen der Ordnung und Steuerung, nicht der Ahndung von Straftaten.
- Kindeswohlgefährdung: Familiengerichte und Jugendämter greifen präventiv ein – auf Grundlage moralischer oder sozialpädagogischer Kriterien, nicht zwingend strafrechtlicher Delikte.
The Police Power – Markus D. Dubber
Hauptvertreter: Markus D. Dubber
Erstveröffentlichung: 2005
Land: USA (Theorie mit euro-amerikanischem Fokus)
Idee/Annahme: Staatliche Kontrolle erfolgt nicht nur über Recht und Strafgewalt, sondern über eine vormoderne, patriarchal geprägte „Police Power“, die auf Disziplinierung, Fürsorge und Kontrolle basiert.
Zentrale Begriffe: Police Power, Law Power, Patriarchat, Gouvernementalität, Exekutivgewalt
Verwandte Theorien: Foucault (Überwachen und Strafen), Wacquant (Bestrafen der Armen), Harcourt (Illusion of Free Markets)
Zentrale Thesen
Markus D. Dubber zeigt, dass das moderne Strafrecht nur die Spitze eines viel umfassenderen Machtapparats darstellt. Im Schatten des rechtlich geregelten Strafens agiert eine exekutive Staatsgewalt, die auf Kontrolle, Prävention und Disziplinierung zielt – etwa in der Polizei, der Verwaltung, dem Gesundheitswesen oder dem Einwanderungsregime. Diese Form von Macht basiert auf dem historischen Modell des patriarchalen Hausherrn (pater familias), der seine Untergebenen nicht durch Recht, sondern durch Fürsorge, Überwachung und Sanktion regiert.
„Police Power“ sei demnach eine vormoderne Herrschaftsform in modernem Gewand. Sie operiere nicht über den rechtlich definierten Deliktbestand, sondern über Einschätzungen von Gefahr, Risiko und Abweichung. Sie legitimiere präventives Handeln, frei von rechtsstaatlichen Beschränkungen – etwa im Fall von Abschiebungen, präventiven Festnahmen oder Überwachungsmaßnahmen.
Dubber kritisiert, dass diese Machtform selten reflektiert oder begrenzt wird. Stattdessen gelte sie als „natürlich“, „notwendig“ oder „technisch“, obwohl sie strukturell autoritär sei und soziale Ungleichheit reproduziere.
Was bedeutet „Police Power“?
Im angloamerikanischen Rechtsverständnis bezeichnet Police Power die umfassende Befugnis des Staates, zum Schutz der öffentlichen Ordnung, Gesundheit, Sicherheit und Moral zu handeln. Der Begriff ist weitreichender als die polizeiliche Tätigkeit im engeren Sinne: Er umfasst alle Maßnahmen der Exekutive, die auf soziale Steuerung und Disziplinierung zielen – von Gesundheitsvorschriften bis hin zu präventiven Inhaftierungen.
Dubbers Kritik: Diese Machtbasis sei historisch verwurzelt im patriarchalen, absolutistischen Denken und werde bis heute kaum rechtlich begrenzt. In der Gegenüberstellung zum liberalen Law Power – dem staatlichen Gewaltmonopol im Rahmen von Strafverfahren – wird deutlich, wie weitreichend und zugleich diffus „Police Power“ als Herrschaftsinstrument funktioniert.
Relevanz heute
Dubbers Analyse bleibt höchst aktuell: Anfang Juni 2025 entschied sich Präsident Donald Trump über 4.000 National Guard sowie 700 Marines ohne Zustimmung Kaliforniens nach Los Angeles zu entsenden, um Proteste gegen seine Abschiebepolitik niederschlagen zu lassen (vgl. Blood, 2025). Dieser Vorgang illustriert die politische Instrumentalisierung eines weitgefassten Police Power – ein Exekutivpotenzial jenseits üblicher Rechtsgrenzen. Diese Praxis bestätigt Dubbers Befund, dass in Krisenzeiten der Begriff „Polizei“ kaum noch juristisch restriktiv ist, sondern primär Machtausübung bedeutet .
Fazit
The Police Power ist ein bahnbrechender Beitrag zur kritischen Rechts- und Kriminalitätsforschung. Es legt offen, wie tief autoritäre, patriarchale und vormoderne Vorstellungen staatlicher Ordnung noch immer in modernen Institutionen verankert sind – insbesondere dort, wo Kontrolle, Überwachung und Prävention greifen.
Dubbers Analyse wirft ein neues Licht auf den Alltag staatlicher Machtausübung: Polizei, Einwanderungsbehörden, Ordnungsämter oder Gesundheitsbehörden handeln nicht nur im Namen des Gesetzes, sondern oftmals auf Grundlage historisch gewachsener, kaum kontrollierter Police Power. Für die kritische Kriminologie liefert Dubber damit ein normatives und analytisches Werkzeug, das weit über traditionelle Strafrechtskritik hinausweist – hin zu einer umfassenden Theorie des Sicherheitsstaates.
Weiterdenken: Dubber vs. Foucault
Michel Foucault analysiert in Überwachen und Strafen (1975) die historische Entwicklung von Strafsystemen und Machttechnologien. Sein Fokus liegt auf der Transformation von Souveränitätsmacht hin zu Disziplinarmacht und biopolitischer Kontrolle, etwa durch Gefängnisse, Schulen oder Kliniken. Foucaults Analyse richtet sich auf die subtilen, körpernahen Formen der Machtausübung im Namen von Ordnung und Normalität.
Markus D. Dubber greift diese Perspektive auf, geht jedoch stärker auf die rechtshistorische und institutionelle Verankerung dieser Macht ein. Mit dem Begriff der Police Power zeigt er, dass diese Form staatlicher Kontrolle nicht lediglich modern ist, sondern auf vormoderne, patriarchale Herrschaftsformen zurückgeht – etwa das Modell des Hausherrn (pater familias).
Gemeinsamkeit: Beide Autoren kritisieren die Vorstellung, dass moderne Gesellschaften allein über Recht und Freiheit regiert werden. Sie zeigen, dass Kontrolle, Disziplin und Prävention zentrale Pfeiler staatlicher Macht sind.
Unterschied: Foucault beschreibt die Mikrophysik der Macht und ihre historischen Übergänge; Dubber analysiert die juristische Kontinuität und ideologische Persistenz exekutiver Machtausübung im Sicherheitsstaat.
Rezeption und aktuelle Bedeutung
Seit seiner Veröffentlichung 2005 hat The Police Power breite Resonanz in der Rechtsphilosophie, Politikwissenschaft und kritischen Kriminologie erfahren. Besonders in Debatten um racial profiling, Mass Incarceration und immigration enforcement wird Dubbers Kritik an der vormodernen Logik des Sicherheitsstaates vielfach aufgegriffen.
In jüngerer Zeit hat die Black Lives Matter-Bewegung die Aufmerksamkeit auf genau jene exekutiven Machtpraktiken gelenkt, die Dubber problematisiert: polizeiliche Gewalt, selektive Kontrolle und strukturelle Diskriminierung. Auch im europäischen Kontext – etwa im Umgang mit Geflüchteten oder bei der Ausweitung polizeilicher Befugnisse – gewinnt Dubbers Unterscheidung von Police Power und Law Power zunehmend an analytischer Schärfe.
Sein Werk bleibt damit hochaktuell: Es fordert dazu auf, die verborgenen Fundamente staatlicher Machtausübung kritisch zu hinterfragen – jenseits von Strafgesetzen und Gerichtssälen, mitten in der Verwaltung des Alltags.
Literaturverzeichnis
- Dubber, M. D. (2005). The Police Power: Patriarchy and the Foundations of American Government. New York: Columbia University Press.
- Blood, M. R. (2025, 11. Juni). California governor says ‘democracy is under assault’ by Trump as feds intervene in LA protests. The Associated Press. https://apnews.com/article/donald-trump-gavin-newsom-california-immigration-protests-a6467fcd3fa66c945ac7c15c40362972
- Foucault, M. (1975). Überwachen und Strafen. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.
- Wacquant, L. (2009). Bestrafen der Armen. Hamburg: Hamburger Edition.