The Illusion of Free Markets (2011) ist ein zentrales Werk der kritischen Rechts- und Kriminalpolitikforschung. Der Rechtswissenschaftler und politische Theoretiker Bernard E. Harcourt zeigt darin, wie die Vorstellung eines „freien Marktes“ ideologisch konstruiert wird – und wie eng diese neoliberale Ordnung mit einem repressiven Strafsystem verbunden ist. Harcourt entlarvt das Narrativ vom minimal regulierten Markt als Mythos und weist nach, dass Markt und Strafe in einer paradoxen Allianz stehen: Je weniger der Markt reguliert wird, desto stärker wird das Strafrecht ausgebaut.
Gesellschaftlicher Kontext und theoretischer Rahmen
Harcourts Werk entstand vor dem Hintergrund der globalen Finanzkrise von 2007/2008, der Debatten um Neoliberalismus, Deregulierung und die Mass Incarceration in den USA. Inspiriert von Michel Foucaults Analysen der Gouvernementalität, betont Harcourt, dass ökonomisches Denken nicht nur ökonomisches Handeln reguliert, sondern auch politische, rechtliche und moralische Praktiken prägt.
Er greift auf die historische Entwicklung von Polizeiwissenschaften, Strafrecht und Marktregulierung zurück – etwa bei Adam Smith, dem französischen Physiokratismus oder dem US-amerikanischen Neoliberalismus der Chicago School. Die These: Die Vorstellung vom „natürlichen Markt“ ist ein normatives Projekt, das politische Herrschaftsformen stützt – insbesondere ein autoritäres, rassistisch codiertes Strafregime.
Merkzettel
The Illusion of Free Markets – Bernard E. Harcourt
Hauptvertreter: Bernard E. Harcourt
Erstveröffentlichung: 2011
Land: USA
Idee/Annahme: Die Vorstellung freier Märkte ist ein ideologisches Konstrukt, das als Legitimationsfolie für staatliche Repression dient. Strafrecht wird im Neoliberalismus nicht abgebaut, sondern ausgebaut – vor allem zur Kontrolle marginalisierter Gruppen.
Zentrale Begriffe: Illusion freier Märkte, Neoliberalismus, Gouvernementalität, Technokratisierung, Strafökonomie
Verwandte Theorien: De Giorgi, Foucault, Wacquant, Kritische Kriminologie
Zentrale Thesen
Harcourt entwickelt in seinem Werk eine vielschichtige Kritik an der Ideologie des freien Marktes und deren paradoxem Zusammenhang mit einem ausgebauten Strafsystem. Eine zentrale These lautet, dass die Vorstellung eines „freien Marktes“ keine naturgegebene Ordnung, sondern ein ideologisch konstruiertes Narrativ ist. Diese Marktidee wurde historisch-politisch durchgesetzt und dient als Legitimationsfolie für wirtschaftliche Deregulierung. Harcourt zeigt auf, dass Märkte in Wahrheit immer politisch geformt sind – etwa durch Eigentumsrechte, Vertragsrecht und regulatorische Institutionen. Die Behauptung, Märkte seien „natürlich“ oder „neutral“, verschleiert ihre Funktion als Herrschaftsform.
Zugleich kritisiert Harcourt die asymmetrische Entwicklung staatlicher Regulierung im Neoliberalismus. Während in Bereichen wie Sozialstaat, Arbeitsschutz oder Finanzmarktregulierung eine Rücknahme staatlicher Kontrolle propagiert wurde, kam es im Bereich des Strafrechts zu einem massiven Ausbau: Polizeien, Gefängnisse und Kontrollapparate wurden gestärkt, insbesondere im Umgang mit Armut, Migration und deviantem Verhalten. Harcourt verweist hier auf das Phänomen der Mass Incarceration in den USA und die Zunahme administrativer Kontrolle über sogenannte „problematische“ Bevölkerungsgruppen.
Diese Entwicklung ist für Harcourt kein Widerspruch, sondern Ausdruck einer verschobenen Gouvernementalität. Der Staat zieht sich nicht zurück, sondern verlagert seine Steuerungsmacht – vom ökonomischen Feld ins strafrechtliche. So entsteht eine neue Form von Ordnungspolitik, in der Freiheit und Repression nicht mehr als Gegensätze erscheinen, sondern gleichzeitig existieren: ökonomische Entfesselung für die einen, strafrechtliche Disziplinierung für die anderen.
In der Summe ergibt sich ein Bild, das Harcourt als „Gleichzeitigkeit von Freiheit und Repression“ beschreibt. Während Kapitalmärkte florieren und unternehmerische Freiheit gefeiert wird, wachsen auf der anderen Seite Strafandrohungen, Kontrolltechnologien und exekutive Eingriffsrechte. Diese Parallelität wird in der öffentlichen Debatte häufig nicht problematisiert, weil die Marktideologie als „natürlich“ gilt – und das Strafrecht als technokratische Reaktion auf „abweichendes Verhalten“. Harcourt entlarvt diese Ordnung als produktive Konstruktion eines autoritären Neoliberalismus.
Begriff erklärt: Die Illusion freier Märkte
Mit der „Illusion freier Märkte“ bezeichnet Harcourt das weit verbreitete, aber trügerische Leitbild eines wirtschaftlichen Ordnungsrahmens, der ohne staatliches Eingreifen funktioniere. In Wirklichkeit sind Märkte stets politisch geformt – durch Eigentumsrechte, Verträge, Regulierung. Die Behauptung, Märkte seien „natürlich“ oder „neutral“, dient dazu, politische Herrschaftsverhältnisse zu verschleiern – etwa soziale Ungleichheit oder Strafverschärfungen.
Relevanz für Kriminologie und Strafpolitik
Bernard E. Harcourts The Illusion of Free Markets liefert einen grundlegenden Beitrag zur kritischen Kriminologie, indem es ökonomische und strafrechtliche Diskurse systematisch miteinander verschränkt. Eine der zentralen Einsichten besteht darin, dass Strafrechtspolitik nicht isoliert analysiert werden kann. Sie steht vielmehr in einem engen Verhältnis zu wirtschaftlichen Ordnungsvorstellungen. Harcourt zeigt, dass das Strafrecht im Neoliberalismus zur Kompensationsinstanz wird: Während sich der Staat in ökonomischen Fragen zurückzieht und sich auf Deregulierung beruft, greift er im Bereich der Sicherheit und sozialen Kontrolle umso härter durch. Diese Verschiebung der staatlichen Eingriffslogik hat weitreichende kriminologische und kriminalpolitische Konsequenzen.
Zudem kritisiert Harcourt die zunehmende Technokratisierung des Strafens – ein Prozess, der sich exemplarisch an Konzepten wie der actuarial justice ablesen lässt. Strafe wird nicht mehr normativ begründet oder individuell legitimiert, sondern erscheint als statistisch-rationale Reaktion auf Risiken. Harcourt fordert demgegenüber eine Rückbesinnung auf politische und ethische Dimensionen von Sicherheit, Strafe und sozialer Gerechtigkeit. Kriminalpolitik müsse als gesellschaftlicher Aushandlungsprozess verstanden werden – nicht als technisches Steuerungsproblem.
Schließlich bietet das Werk einen analytischen Rahmen, um Strafrecht im Kontext neoliberaler Gouvernementalität zu deuten. Harcourts Argumentation ergänzt damit die Arbeiten von Loïc Wacquant (Bestrafen der Armen) und Alessandro De Giorgi (Re-thinking the Political Economy of Punishment), die ebenfalls aufzeigen, wie Strafpolitik zur Steuerung gesellschaftlicher Ungleichheit eingesetzt wird. Gemeinsam verweisen diese Autoren auf einen Paradigmenwechsel: Weg von der Integration und Resozialisierung, hin zu einer selektiven, oft rassifizierten Kontrolle „unerwünschter“ Bevölkerungsgruppen.
Eine inhaltliche Ergänzung zu diesem Werk bildet Harcourts frühere Publikation Against Prediction (2007), in der er die Risiken einer technokratischen Strafpolitik anhand der actuarial justice analysiert. Während Against Prediction die Vorverlagerung von Kontrolle durch Prognosemodelle in den Mittelpunkt stellt, zeigt The Illusion of Free Markets, wie diese Sicherheitsarchitektur ideologisch durch die Marktlogik legitimiert wird. Beide Werke ergänzen sich wechselseitig und bilden gemeinsam einen theoretischen Rahmen zur Kritik der neoliberalen Strafstaatlichkeit.
Kritik und Rezeption
Harcourts Werk wurde vielfach rezipiert – sowohl im rechtswissenschaftlichen als auch im kriminologischen Diskurs. Es gilt als wichtiger Beitrag zur Entmystifizierung des neoliberalen Sicherheitsstaates. Kritisiert wird gelegentlich, dass empirische Belege zur Verbindung von Marktideologie und Strafpraxis stärker ausgeführt sein könnten. Dennoch ist die analytische Schärfe des Arguments weithin anerkannt.
Fazit und Ausblick
Bernard E. Harcourts The Illusion of Free Markets ist ein paradigmatisches Werk der kritischen Strafrechts- und Gesellschaftsanalyse. Es zeigt, dass die Vorstellung eines „freien Marktes“ keineswegs Ausdruck ökonomischer Natürlichkeit ist, sondern eine politische Erzählung – konstruiert, um neoliberale Deregulierung und soziale Selektion zu legitimieren. In dieser Ideologie fungiert das Strafrecht als flankierendes Herrschaftsinstrument: Es greift genau dort ein, wo der Markt versagt, Menschen marginalisiert und soziale Spannungen erzeugt. Harcourt entlarvt diese Verschiebung staatlicher Steuerung als Ausdruck einer neuen Gouvernementalität, die Freiheit und Repression nicht als Gegensätze, sondern als komplementäre Strategien organisiert.
Für die Gegenwart ist das Werk von ungebrochener Relevanz. In Zeiten digitalisierter Überwachung, prädiktiver Polizeimodelle und wachsender Sicherheitsapparate stellt sich die Frage nach der politischen Funktion von Strafrecht dringlicher denn je. Während soziale Ungleichheiten zunehmen und wohlfahrtsstaatliche Sicherungssysteme erodieren, erleben wir eine Ausweitung der staatlichen Kontrollbefugnisse – nicht nur in den USA, sondern auch in europäischen Demokratien. Die Diskussion um KI-gestützte Risikobewertung, algorithmisches Profiling und Grenzüberwachung zeigt, wie eng ökonomische Rationalitäten, technokratische Steuerung und strafrechtliche Repression heute verflochten sind.
Harcourts Analyse liefert einen kritischen Bezugsrahmen, um diese Entwicklungen nicht als technische Modernisierung, sondern als politische Machtverschiebung zu verstehen. Sie fordert dazu auf, Strafrecht wieder als genuin politisches Feld zu begreifen – als Ort, an dem Gerechtigkeit, Gleichheit und gesellschaftlicher Zusammenhalt verhandelt werden. In einer Zeit, in der soziale Exklusion zunehmend kriminalisiert wird, bietet The Illusion of Free Markets das notwendige Rüstzeug, um den autoritären Tendenzen neoliberaler Sicherheitspolitik argumentativ entgegenzutreten.
Literaturverzeichnis
- Harcourt, B. E. (2011). The Illusion of Free Markets: Punishment and the Myth of Natural Order. Cambridge, MA: Harvard University Press.
- Foucault, M. (1978). Security, Territory, Population. New York: Palgrave Macmillan.
- Wacquant, L. (2009). Bestrafen der Armen. Zur neoliberalen Regierung der sozialen Unsicherheit. Konstanz: UVK.
- De Giorgi, A. (2006). Re-thinking the Political Economy of Punishment. Aldershot: Ashgate.