Mit seinem Werk Visions of Social Control: Crime, Punishment and Classification (1985) liefert Stanley Cohen eine tiefgreifende Analyse der Transformationen sozialer Kontrolle im späten 20. Jahrhundert. Während Folk Devils and Moral Panics (1972) vor allem mediale Diskurse und moralische Reaktionen auf Devianz untersucht, richtet Visions of Social Control den Blick auf institutionalisierte, politisch-administrative Steuerung von Abweichung. Der Text gilt als eine der bedeutendsten Reflexionen über die Modernisierung und Diversifizierung des strafrechtlichen und psychosozialen Kontrollapparats.
Gesellschaftlicher und wissenschaftlicher Kontext
Cohen schreibt in einer Phase, in der westliche Gesellschaften zunehmend neoliberalen Reformen unterworfen sind, Gefängnissysteme expandieren, sozialstaatliche Leistungen abgebaut und alternative, „gemeindenahe“ Maßnahmen in der Kriminalpolitik Einzug halten. In dieser Gemengelage analysiert Cohen, wie sich Kontrollstrategien verschieben, ohne notwendigerweise humaner oder liberaler zu werden.
Cheat Sheet: Stanley Cohen – Visions of Social Control
Hauptvertreter: Stanley Cohen
Erstveröffentlichung: 1985
Land: Großbritannien
Idee/Annahme: Soziale Kontrolle transformiert sich – neue Techniken, neue Institutionen, neue Formen von Überwachung und Anpassung
Bezug zu Theorien: Foucault (Macht/Wissen), Wacquant (Neoliberalismus), Garland (Kultur der Kontrolle)
Zentrale Thesen und Begriffe
- Net Widening: Cohen beschreibt mit diesem Begriff den paradoxen Effekt vieler „alternativer“ Sanktionen: Anstatt repressive Maßnahmen wie Gefängnis zu ersetzen, ergänzen sie diese und dehnen das Kontrollsystem auf bislang unbeaufsichtigte Bevölkerungsgruppen aus. Sozialstunden, Bewährungsauflagen oder Therapieprogramme führen so zu einer quantitativen und qualitativen Ausweitung sozialer Kontrolle. Die Metapher des „breiteren Netzes“ macht deutlich, dass mehr Menschen erfasst und normiert werden – ohne dass die Gesamtrepression notwendigerweise sinkt.
- Medicalization vs. Criminalization: Cohen analysiert die Verschiebung von Kontrolle zwischen sozialen Sektoren. Abweichung wird zunehmend psychologisiert oder psychiatrisiert: Wer früher als Straftäter galt, gilt nun als therapiebedürftig. Dies führt nicht zwingend zu einer Entkriminalisierung, sondern zu einer Verlagerung in das Feld der medizinisch-therapeutischen Kontrolle. Die Grenze zwischen Hilfe und Zwang verwischt, etwa wenn Maßnahmen gegen den Willen Betroffener durchgesetzt werden – eine Dynamik, die auch Foucaults Kritik an der klinischen Machtstruktur vorausnimmt.
- Normalization: Ziel moderner Kontrolle ist nicht allein die Bestrafung vergangener Taten, sondern die präventive Anpassung von Verhalten und Lebensführung. Institutionen wie Schulen, soziale Dienste oder Bewährungsstellen wirken normierend auf Einstellungen, Routinen und Selbstbilder. Cohen spricht hier von einem „pädagogischen und therapeutischen Zugriff“, der auf Verhaltensmodifikation und sozialen Konformismus abzielt. Der Fokus verschiebt sich von der Tat auf den Täter – und schließlich auf dessen gesamte Lebensführung.
- Control without Walls: Mit diesem Begriff fasst Cohen die Externalisierung institutioneller Kontrolle zusammen: Überwachung und Disziplinierung finden zunehmend außerhalb klassischer Einrichtungen wie Gefängnissen statt – etwa durch elektronische Fußfesseln, Meldeauflagen oder soziale Trainingskurse. Diese „Kontrolle ohne Mauern“ scheint auf den ersten Blick liberaler, entpuppt sich jedoch als eine technologisch verdichtete, alltagsnahe Form der Überwachung. Dabei bleibt das Machtverhältnis zwischen Kontrollinstanzen und Kontrollierten bestehen, wird aber räumlich, zeitlich und funktional flexibilisiert.
Weiterdenken: Von Cohen zu Garland
Stanley Cohens Analyse der Verbreiterung, Verlagerung und Normalisierung sozialer Kontrolle bildet das theoretische Fundament für zahlreiche spätere Studien zur Kriminalpolitik der Gegenwart. Insbesondere David Garland knüpft in The Culture of Control (2001) an Cohens Diagnosen an.
- Garland beschreibt eine „punitive turn“, die durch eine Ausweitung repressiver Maßnahmen, verstärkte Überwachung und symbolische Strafpolitik gekennzeichnet ist.
- Wie Cohen betont auch Garland die Normalisierung sozialer Kontrolle im Alltag – etwa durch Sicherheitsdiskurse, „Zero Tolerance“-Ansätze oder den Rückgriff auf Technologien der Risikosteuerung.
- Beide Autoren analysieren die Transformation des Wohlfahrtsstaates – weg von Betreuung und Integration, hin zu Disziplinierung und Ausschluss.
Diese Verbindung zeigt: Cohen liefert mit Visions of Social Control eine Vordenkerrolle für die kriminologische Kritik an neoliberaler Strafpolitik – Garland entwickelt diese Perspektive auf empirisch breiterer Basis weiter.
Kontrollvisionen und zentrale Begriffe bei Stanley Cohen
Cohens Werk Visions of Social Control entwickelt ein doppelt differenziertes Analysemodell sozialer Kontrolle: Zum einen benennt Cohen zentrale Begriffe, die strukturelle Transformationen und neue Technologien sozialer Kontrolle beschreiben; zum anderen formuliert er vier idealtypische „Kontrollvisionen“, die unterschiedliche normative und institutionelle Leitbilder abweichungsbezogener Politik repräsentieren.
Kontrollvisionen: Vier idealtypische Modi
Cohen unterscheidet vier Kontrollvisionen, die als analytische Typen konzipiert sind und in der Praxis oft hybrid miteinander verwoben auftreten:
- Repressive Vision: Klassische Straflogik – Kontrolle durch Polizei, Justiz und Inhaftierung. Ziel ist Bestrafung, Abschreckung und Entfernung aus der Gesellschaft.
- Medical Vision: Abweichung wird als Krankheit gedeutet – Therapie, Diagnostik und Behandlung treten an die Stelle von Strafe.
- Welfare Vision: Devianz gilt als Folge sozialer Benachteiligung – pädagogische und soziale Hilfen sollen Integration ermöglichen.
- Bureaucratic Vision: Abweichung wird durch technische Rationalität bearbeitet – standardisierte Klassifikation, Aktenführung und administrative Steuerung dominieren.
Verhältnis zu den zentralen Thesen
Die zuvor genannten Begriffe wie Net Widening, Medicalization vs. Criminalization, Normalization und Control without Walls beschreiben keine eigenständigen Visionen, sondern Transformationen und Verschiebungen innerhalb und zwischen den Kontrollvisionen:
- Net Widening verweist auf die Tendenz, dass alternative Maßnahmen (z. B. Sozialstunden oder elektronische Überwachung) nicht punitiv-repressive Praktiken ersetzen, sondern zusätzliche Kontrollmechanismen schaffen – häufig in Kombination aus Welfare- und Bureaucratic Vision.
- Medicalization vs. Criminalization beschreibt die institutionelle Verlagerung von Kontrolle zwischen repressiven und medizinischen Feldern – also zwischen Repressive und Medical Vision.
- Normalization spielt insbesondere in Welfare- und Bureaucratic-Visionen eine Rolle: Deviante Personen sollen durch sozialpädagogische, therapeutische oder verwaltungstechnische Maßnahmen an „normales“ Verhalten angepasst werden.
- Control without Walls verweist auf die Erosion traditioneller Institutionen (z. B. Gefängnisse) zugunsten verteilter, dezentraler Kontrolltechnologien – typischerweise in der Schnittmenge von Bureaucratic und Repressive Vision.
Begriff | Beschreibung | Verknüpfte Kontrollvisionen |
---|---|---|
Net Widening | Alternative Sanktionen führen nicht zur Reduktion repressiver Maßnahmen, sondern erweitern das Kontrollnetz. | Welfare Vision, Bureaucratic Vision |
Medicalization vs. Criminalization | Verlagerung von Kontrolle zwischen Strafjustiz und Medizin: Abweichung wird als Krankheit statt als Delikt behandelt. | Repressive Vision, Medical Vision |
Normalization | Kontrolle zielt auf Verhaltensmodifikation durch pädagogische und therapeutische Maßnahmen. | Welfare Vision, Bureaucratic Vision |
Control without Walls | Kontrolle erfolgt zunehmend außerhalb klassischer Institutionen – z. B. durch elektronische Überwachung. | Repressive Vision, Bureaucratic Vision |
Beispiel: Electronic Monitoring
Ein Beispiel für „control without walls“ ist die elektronische Fußfessel. Sie gilt als mildere Alternative zur Inhaftierung, verlängert jedoch in vielen Fällen den Zeitraum der Überwachung. Was als humane Reform erscheint, kann in Cohens Sinne auch als Strategie der Effizienzsteigerung und Verlagerung verstanden werden – mehr Kontrolle bei gleichbleibenden oder sinkenden Kosten.
Verbindung zum Konzept des Community Policing
Cohens Analyse der „Kontrolle ohne Mauern“ lässt sich auch mit neueren Konzepten der Polizeiarbeit wie dem Community Policing in Beziehung setzen. Während Visions of Social Control die zunehmende Dezentralisierung und Verwischung institutioneller Kontrollgrenzen beschreibt, zielt Gesellschaft verstand.">Gemeinschaft basiert, um gemeinsam Kriminalität zu bekämpfen und das Sicherheitsgefühl zu stärken.">Community Policing auf eine stärkere Integration von Polizei, Sozialarbeit, Zivilgesellschaft und lokalen Strukturen.
Beide Entwicklungen markieren einen Paradigmenwechsel in der Steuerung von Devianz: Weg von der isolierten, repressiven Strafe – hin zu einem Geflecht aus Kontrolle, Prävention und sozialer Regulierung im Alltag. Cohen warnt jedoch davor, diese Tendenzen vorschnell als „humanere“ Lösungen zu feiern. Vielmehr besteht die Gefahr, dass Kontrolle in neue Gewänder gekleidet und über informelle Mechanismen der Kooperation (etwa Nachbarschaftsnetzwerke oder kommunale Gremien) noch tiefer in den sozialen Raum eindringt.
In dieser Hinsicht knüpft Cohen an Michel Foucaults Konzept der Gouvernementalität an: eine Form der Machtausübung, die nicht auf offene Repression, sondern auf Selbstregulierung, Normalisierung und präventive Steuerung setzt. Zugleich lässt sich eine Verbindung zu Loïc Wacquants Analyse der neoliberalen Strafgesellschaft ziehen, in der staatliche Kontrolle zunehmend über die Verlagerung von Sicherheitsaufgaben auf lokale Akteure und eine Ausweitung scheinbar milder, aber effektiver Disziplinierungsmechanismen erfolgt.
Visions of Social Control ermöglicht es so, vermeintlich progressive Strategien wie das Community Policing nicht nur als Reformansätze, sondern auch als Teil eines umfassenderen Wandels moderner Kontrolltechniken zu begreifen – ambivalent zwischen Teilhabe und Disziplinierung.
Kritik und Rezeption
Visions of Social Control wurde sowohl für seine differenzierte Typologie als auch für seine kritische Haltung gegenüber vermeintlich „humaneren“ Kontrollformen gelobt. Kritiker:innen bemängelten zum Teil eine pessimistische Sichtweise und einen Mangel an empirischer Fundierung. Dennoch gilt das Werk als wegweisend für die kritische Kriminologie und als methodischer Impuls für Analysen sozialer Kontrollregime in Wohlfahrtsstaaten, Gefängnissen, Schulen oder sozialen Diensten.
Viele der von Cohen analysierten Kontrollmechanismen – etwa elektronische Überwachung, sozialpädagogische Auflagen oder kommunal vernetzte Sicherheitspraktiken – prägen auch gegenwärtige Formen der Kriminalpolitik. Seine Typologie erlaubt es, diese Entwicklungen nicht als isolierte Maßnahmen, sondern als Ausdruck eines umfassenden Wandels im Verhältnis von Staat, Gesellschaft und Devianzsteuerung zu interpretieren.
Weiterführend
- Stanley Cohen – Folk Devils and Moral Panics (1972)
- Michel Foucault – Überwachen und Strafen (1975)
- David Garland – The Culture of Control (2001)
- Loïc Wacquant – Bestrafen der Armen (2009)
Literaturverzeichnis und weiterführende Informationen
- Cohen, S. (1985). Visions of Social Control: Crime, Punishment and Classification. Cambridge: Polity Press. [Volltext ist hier verfügbar]
- Cohen, S. (1972). Folk Devils and Moral Panics: The Creation of the Mods and Rockers. London: MacGibbon & Kee.
- Foucault, M. (1975). Surveiller et punir: Naissance de la prison. Paris: Gallimard. [dt.: Überwachen und Strafen: Die Geburt des Gefängnisses. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1977.]
- Garland, D. (2001). The Culture of Control: Crime and Social Order in Contemporary Society. Oxford: Oxford University Press.
- Wacquant, L. (2009). Punishing the Poor: The Neoliberal Government of Social Insecurity. Durham/London: Duke University Press. [dt.: Bestrafen der Armen: Zur neoliberalen Regierung der sozialen Unsicherheit. Berlin: Suhrkamp, 2010.]
- Matthews, R. (2005). The Myth of Punitiveness. Theoretical Criminology, 9(2), 175–201.
- Loader, I. & Sparks, R. (2010). What is to be done about Public Criminology? Criminology and Public Policy, 9(4), 771–781.
Thinking Allowed – In Memory of Stanley Cohen (BBC Radio 4)
Diese Episode würdigt Cohens Leben und Werk, mit besonderem Fokus auf seine Konzepte zu sozialer Kontrolle und moralischer Panik.
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https://www.youtube.com/watch?v=daZOE8Ra1NA