Against Prediction: Profiling, Policing, and Punishing in an Actuarial Age (2007) ist eines der zentralen Werke von Bernard E. Harcourt und gilt als grundlegende Analyse der gegenwärtigen actuarial justice. Harcourt kritisiert die zunehmende Verlagerung von Recht und Strafe auf statistische Risikobewertung – insbesondere durch polizeiliches Profiling, prädiktive Polizeiarbeit und risikobasierte Strafzumessung. Das Werk ist eine scharfsinnige Kritik an der Logik der Vorhersage und ein Plädoyer für einen politischen und ethischen Neuentwurf von Strafrecht und Sicherheitsregimen.
Gesellschaftlicher Kontext und theoretische Einordnung
Harcourt verortet seine Kritik in einem kriminalpolitischen Wandel, der sich seit den 1980er-Jahren vollzogen hat: Weg von der Idee individueller Schuld und Rehabilitation, hin zu einer technokratischen Risikologik, die Menschen anhand aggregierter Wahrscheinlichkeiten kontrolliert. Er argumentiert, dass dieser Wandel nicht nur das Strafrecht, sondern auch Polizei, Sozialpolitik und Sicherheitsarchitektur grundlegend verändert habe.
Das Buch verbindet theoretische Reflexion (u. a. zu Foucault, Becker, Bentham und Hayek) mit empirischer Analyse und Fallstudien – etwa zu Racial Profiling, Zero Tolerance und Data Mining im US-Strafrecht. Harcourt knüpft dabei an seine früheren Arbeiten zu neoliberalen Ordnungsvorstellungen an, insbesondere an die ideologiekritische Entlarvung des „freien Marktes“ als staatlich konstruierter Mythos.
Merkzettel
Against Prediction – Bernard E. Harcourt
Hauptvertreter: Bernard E. Harcourt
Erstveröffentlichung: 2007
Land: USA
Idee/Annahme:
Prognosebasierte Strafpolitik (actuarial justice) unterminiert Gerechtigkeit, verstärkt soziale Ungleichheit und ersetzt normative Legitimation durch algorithmische Effizienz.Zentrale Begriffe: actuarial justice, Racial Profiling, prädiktive Polizeiarbeit, technokratische Kriminalpolitik
Verwandte Theorien: Kontrolltheorien, Rational Choice, Foucault, The Illusion of Free Markets
Zentrale Thesen
Eine zentrale These Harcourts lautet, dass risikobasierte Strafpolitik die Gleichheit vor dem Gesetz untergräbt. Anstelle individueller Schuld tritt eine Bewertung auf Grundlage statistischer Wahrscheinlichkeiten. Individuen werden nicht mehr als selbstverantwortliche Subjekte betrachtet, sondern als Träger eines abstrakten Risikowerts. Dies führt dazu, dass Menschen nicht wegen konkreten Fehlverhaltens, sondern wegen ihrer Zugehörigkeit zu bestimmten Gruppen ins Visier geraten – etwa Jugendliche, People of Color oder einkommensschwache Personen. Die Folge ist eine selektive Strafverfolgung, die bestehende soziale Ungleichheiten verstärkt.
Harcourt argumentiert zudem, dass die actuarial justice selbst performativ wirkt: Sie erzeugt jene Risikoprofile, die sie vorgibt, neutral zu messen. Wer häufiger kontrolliert wird, landet häufiger in den Statistiken – und gilt deshalb als „risikobehaftet“. Dieser Ratchet Effect, ein sich selbst verstärkender Mechanismus, sorgt dafür, dass bestimmte Gruppen dauerhaft unter Generalverdacht stehen. Die Statistik bildet somit nicht die Realität ab, sondern erzeugt eine neue Realität sozialer Selektion.
Besondere Aufmerksamkeit widmet Harcourt der These, dass rassistische Stereotype nicht bloß Nebenprodukte prädiktiver Modelle sind, sondern systemimmanent. Er zeigt am Beispiel der Verkehrskontrollen und Drogengesetzgebung in den USA, dass Black Americans überproportional überwacht, kontrolliert und sanktioniert werden – obwohl ihre realen Verhaltensmuster (z. B. beim Drogenkonsum) sich nicht signifikant von denen weißer Bevölkerungsgruppen unterscheiden. Der Einsatz prädiktiver Verfahren verstärkt diese Disparitäten, weil er auf verzerrten, rassifizierten Daten aufbaut.
Schließlich kritisiert Harcourt die Technokratisierung der Kriminalpolitik. Die politische Debatte über zentrale rechtsstaatliche Prinzipien – etwa über Freiheit, Verhältnismäßigkeit, Rehabilitierung oder soziale Ursachen von Devianz – wird zunehmend durch eine scheinbar „neutrale“, datenbasierte Steuerungslogik verdrängt. Algorithmen ersetzen deliberative Aushandlungen, statistische Risikokalküle treten an die Stelle normativer Argumente. Die Folge ist eine Entpolitisierung von Strafrecht und eine Verschiebung hin zu einer autoritären Sicherheitslogik, in der Effizienz über Gerechtigkeit steht.
Ein illustratives Beispiel für Harcourts Kritik ist das CompStat-System in New York City. Ursprünglich als datenbasiertes Management-Tool eingeführt, entwickelte es sich zu einem zentralen Steuerungsinstrument für Polizeiarbeit. Dabei führte der Erfolgsdruck auf niedrige Kriminalitätszahlen zu selektiven Kontrollen und einer Konzentration polizeilicher Maßnahmen in sozial benachteiligten Vierteln. Harcourt zeigt auf, wie solche Systeme nicht nur auf statistische Verzerrungen reagieren, sondern diese aktiv verstärken.
Gleichzeitig grenzt Harcourt seine Kritik von anderen prädiktiven Verfahren ab, die auf konkretem Täterwissen beruhen – etwa das Geographic Profiling bei Serienmorden. Ihm geht es nicht um eine generelle Ablehnung von Prognose, sondern um die Kritik einer verallgemeinerten Risikologik, die strukturelle Diskriminierung erzeugt und legitimiert.
In diesem Zusammenhang ergeben sich interessante Querverbindungen zu Thomas Mathiesen – The Politics of Abolition. Beide Autoren kritisieren die Ausweitung repressiver Staatsapparate, die Aushöhlung demokratischer Kontrolle und die Symbolpolitik sicherheitspolitischer Maßnahmen. Während Mathiesen auf die institutionelle Selbsterhaltung von Strafsystemen hinweist, analysiert Harcourt die epistemische Logik, die solche Systeme legitimiert.
Einfluss von Against Prediction auf die Kriminologie und interdisziplinäre Relevanz
Against Prediction hat die Diskussion um algorithmisches Polizieren, Risikobewertung in der Kriminalpolitik und die digitale Kontrolle wesentlich geprägt. Es gilt als Schlüssellektüre für kritische Polizeiforschung, algorithmische Ethik und prädiktive Strafverfolgung.
Harcourts Argumente wurden u. a. in der Diskussion um Predictive Policing (z. B. durch Software wie Precobs oder Gotham) aufgegriffen und flossen in die Kritik an risikoorientierten Instrumenten wie CompStat, RECAP oder Risk-Needs-Responsivity-Modelle ein.
Das Werk ergänzt und vertieft viele Thesen aus Harcourts späterem Buch The Illusion of Free Markets (2011), in dem er zeigt, wie sich neoliberale Marktideologie mit einem starken Strafstaat verbindet.
Der Beitrag liefert damit eine zentrale Grundlage für die Kritik algorithmischer Polizeipraxis, die heute im Kontext von KI-gestützter Strafverfolgung, Predictive Policing und datenbasierter Prävention aktueller denn je ist.
Begriff erklärt: Actuarial Justice
Actuarial Justice bezeichnet ein Straf- und Sicherheitssystem, das auf statistischer Risikobewertung basiert. Nicht individuelle Schuld, sondern die Wahrscheinlichkeit zukünftiger Straffälligkeit entscheidet über Kontrolle, Strafmaß oder präventive Maßnahmen. Harcourt kritisiert, dass dieses System Ungleichheiten zementiert, diskriminiert und normative Maßstäbe durch Effizienzkalküle ersetzt.
Fazit
Bernard E. Harcourts Against Prediction ist ein theoretisch scharfsinniges und empirisch fundiertes Werk, das die technokratische Logik moderner Sicherheitsregime offenlegt. Es zeigt, wie tiefreichend die Idee der „Vorhersagbarkeit“ in Strafjustiz, Polizei und Verwaltung eingedrungen ist – und welche Gefahren damit für Rechtsstaatlichkeit, Gleichheit und Demokratie verbunden sind.
Der Beitrag liefert damit eine zentrale Grundlage für die Kritik algorithmischer Polizeipraxis, die heute im Kontext von KI-gestützter Strafverfolgung, Predictive Policing und datenbasierter Prävention aktueller denn je ist.
Literaturverzeichnis
- Harcourt, B. E. (2007). Against Prediction: Profiling, Policing, and Punishing in an Actuarial Age. Chicago: University of Chicago Press.
- Harcourt, B. E. (2011). The Illusion of Free Markets: Punishment and the Myth of Natural Order. Cambridge, MA: Harvard University Press.
- Foucault, M. (1975). Überwachen und Strafen. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.
- Krafft, T. & Eßer, F. (2018). Predictive Policing – Chancen, Risiken und rechtliche Grenzen. Wiesbaden: Springer VS.