Gesellschaftlicher und wissenschaftlicher Kontext
Entstanden in einer Zeit massiver gesellschaftlicher Umbrüche – Bürgerrechtsbewegungen, antikoloniale Kämpfe, Studentenproteste – reflektiert The New Criminology den Wunsch nach einer Soziologie, die nicht nur erklärt, sondern auch verändert. Die Autoren positionieren sich deutlich gegen die vorherrschende US-amerikanische Soziologie der 1960er Jahre und plädieren für eine strukturell informierte, kritisch-emanzipatorische Kriminologie.
Cheat Sheet: Taylor, Walton & Young – The New Criminology
Hauptvertreter: Ian Taylor, Paul Walton, Jock Young
Erstveröffentlichung: 1973
Land: Großbritannien
Idee/Annahme: Entwicklung einer „vollständigen“ kritischen Kriminologie, die sowohl gesellschaftliche Strukturen als auch subjektive Bedeutungen von Devianz berücksichtigt. Integration marxistischer Gesellschaftskritik mit interaktionistischen Ansätzen zur sozialen Konstruktion von Kriminalität.
Bezug zu Theorien: Marxismus (Kapitalismus und Herrschaft), Labeling Approach (soziale Konstruktion von Devianz), Kritische Theorie (Frankfurter Schule), Anomie- und Subkulturtheorien
Zentrale Thesen und Beiträge
- Kritik an traditionellen Ansätzen: Taylor, Walton und Young wenden sich gegen deterministische Theorien wie die Anomietheorie oder Subkulturtheorien, aber auch gegen vermeintlich progressive Ansätze wie den Labeling Approach, denen sie eine fehlende Gesellschaftskritik vorwerfen.
- Entwurf einer „vollständigen“ Kriminalitätstheorie: Die Autoren fordern eine integrierte Theorie, die sowohl die sozialstrukturellen Bedingungen als auch die bewusste Handlungsperspektive der Täter:innen berücksichtigt. Dazu zählen:
- die gesellschaftlichen Ursprünge der Regelsetzung,
- die Motive und Bedeutungen für die Täter:innen,
- die gesellschaftlichen Reaktionen auf die Tat,
- und die Folgen für das soziale System insgesamt.
- Marxistische Fundierung: Die Autoren sehen Kriminalität als Ausdruck gesellschaftlicher Widersprüche und ungleicher Machtverhältnisse. Sie rücken Herrschaft, Ideologie und Klassenstruktur ins Zentrum der Analyse.
- Kriminologie als Teil gesellschaftlicher Praxis: Ziel ist nicht bloß Erkenntnis, sondern gesellschaftliche Veränderung. Kriminologische Forschung soll zur Befreiung von Unterdrückung und zur Schaffung einer gerechteren Gesellschaft beitragen.
Die neun Elemente der „Fully Social Theory of Deviance“
Taylor, Walton und Young entwickeln in The New Criminology (1973) eine umfassende Theorie abweichenden Verhaltens. Sie schlagen vor, Kriminalität in einem ganzheitlichen Analysemodell zu verstehen, das folgende neun Elemente umfasst:
- Ursprünge der Regelsetzung: Wer definiert, was als deviant gilt? (gesellschaftliche Machtverhältnisse, Ideologie)
- Ursprünge des unmittelbaren gesellschaftlichen Kontextes: In welchem sozioökonomischen Umfeld geschieht die abweichende Handlung?
- Die Handlung selbst: Was sind die subjektiven Motive und Bedeutungen für den Handelnden?
- Die unmittelbare Reaktion anderer: Wie reagiert das soziale Umfeld auf die abweichende Handlung?
- Die gesellschaftliche Reaktion: Welche offiziellen Sanktionen folgen (z. B. Polizei, Justiz)?
- Die Wirkung der Reaktion auf den Täter: Welche Konsequenzen hat das Labeling auf das Selbstbild und die Biografie?
- Die strukturellen Ursachen der gesellschaftlichen Reaktion: Warum reagieren Institutionen so, wie sie es tun? Welche Rolle spielen politische, ökonomische und ideologische Faktoren?
- Die Entwicklung der abweichenden Karriere: Wie entwickelt sich eine devianten Biografie im Laufe der Zeit?
- Die gesellschaftlichen Gesamtkontexte: Wie ist das gesamte System organisiert? Welche Rolle spielt die soziale Struktur?
Diese Elemente verdeutlichen: Eine vollständige Theorie der Devianz muss sowohl die Mikroebene (Handeln, Deutung) als auch die Makroebene (Macht, Struktur) integrieren.
Ätiologische vs. Kritische Kriminologie im Vergleich
Die von Taylor, Walton und Young entwickelte „kritische Kriminologie“ grenzt sich bewusst von klassisch-ätiologischen Ansätzen ab, die Kriminalität vor allem als individuelles Fehlverhalten verstehen. Während ätiologische Theorien versuchen, die Ursachen von Devianz im Subjekt (z. B. in Normen, Verhaltensmuster und sozialen Rollen ihrer Gesellschaft erlernen und internalisieren. Dieser Prozess ermöglicht die Integration in soziale Gemeinschaften und die Entwicklung einer eigenen sozialen Identität.">Sozialisation, Persönlichkeit oder Umweltfaktoren) zu lokalisieren, richtet die kritische Perspektive ihren Blick auf gesellschaftliche Machtverhältnisse, Normsetzungsprozesse und die Funktion von Strafrecht in kapitalistischen Gesellschaften.
Die folgende Tabelle stellt zentrale Unterschiede beider Perspektiven systematisch gegenüber:
Ätiologische vs. Kritische Kriminologie im Vergleich
Dimension | Ätiologische Kriminologie | Kritische Kriminologie |
---|---|---|
Kriminalitätsverständnis | Kriminalität als individuelles Fehlverhalten oder Normbruch | Kriminalität als soziales Konstrukt und Ausdruck gesellschaftlicher Machtverhältnisse |
Ursachenanalyse | Suche nach Ursachen im Individuum oder unmittelbaren Umfeld (z. B. Familie, Peer Group) | Analyse der politischen, ökonomischen und ideologischen Rahmenbedingungen von Normsetzung und Strafverfolgung |
Fokus der Analyse | Täterzentriert; Betonung von Sozialisation, Persönlichkeit, biologischen oder psychischen Faktoren | Gesellschaftszentriert; Fokus auf soziale Kontrolle, Klassenverhältnisse und Herrschaft |
Zielsetzung | Erklärung, Prognose und Kontrolle von abweichendem Verhalten | Aufdeckung und Kritik gesellschaftlicher Ungleichheit; Transformation sozialer Verhältnisse |
Theoretische Wurzeln | Empirisch-quantitativ, behavioristisch, psychologisch oder soziologisch | Marxistisch, konflikttheoretisch, gesellschaftskritisch |
Beispielhafte Vertreter:innen | Cesare Lombroso, Hans Eysenck, Travis Hirschi | Taylor, Walton, Young; Michel Foucault; Loïc Wacquant |
Kritikpunkte | Reduktionistisch; vernachlässigt gesellschaftliche Machtstrukturen und Normsetzungsprozesse | Mitunter theoretisch überfrachtet; empirisch schwer operationalisierbar |
Beispielhafte Anwendung: Wirtschaftskriminalität
Die Analyse von white-collar crime zeigt exemplarisch die Herangehensweise der Autoren: Während klassische Kriminalitätstheorien solche Delikte ignorieren oder entpolitisieren, stellt die kritische Kriminologie die Frage nach strukturellen Interessen, Strafbarkeitslücken und symbolischer Definitionsmacht. Kriminalität wird als gesellschaftlich selektives Konstrukt sichtbar.
Kritik und Rezeption
The New Criminology wurde kontrovers diskutiert. Befürworter:innen lobten den theoretischen Anspruch und die politische Schlagkraft. Kritiker:innen bemängelten hingegen eine mangelnde empirische Fundierung, theoretische Unschärfen und eine ideologisch motivierte Perspektive. Dennoch gilt das Werk als Grundstein für zahlreiche Folgeansätze – etwa die linke Realismusdebatte, die kulturelle Kriminologie oder auch queere und feministische Kriminologie.
Auch im deutschsprachigen Raum fand die Kritische Kriminologie in den 1970er-Jahren Widerhall – insbesondere durch die Arbeiten von Fritz Sack.
Weiterdenken: Fritz Sack und die Kritische Kriminologie in Deutschland
Fritz Sack gilt als bedeutendster Vertreter der Kritischen Kriminologie im deutschsprachigen Raum. In Anlehnung an The New Criminology und die marxistisch inspirierte Diskussion in Großbritannien betont Sack, dass Kriminalität nicht primär ein individuelles Fehlverhalten, sondern ein gesellschaftlich erzeugtes und selektiv definiertes Phänomen ist.
Sein Konzept der „Sozialen Konstruktion von Kriminalität“ (1968) verdeutlicht, dass Devianz stets durch gesellschaftliche Machtverhältnisse, ökonomische Interessen und institutionelle Selektionsmechanismen geprägt ist. Statt objektiver Schädlichkeit steht im Zentrum der Analyse die Prozesshaftigkeit strafrechtlicher Zuschreibung (Labeling).
Sack hat mit seiner Kritik an der traditionellen Täterforschung und seiner Forderung nach einer sozialwissenschaftlich fundierten Strafrechtskritik maßgeblich zur Etablierung der Kritischen Kriminologie in Deutschland beigetragen. Sein Ansatz ist stark beeinflusst von der Labeling-Theorie, von marxistischer Gesellschaftsanalyse und der Kritik an repressiver Staatlichkeit.
Verbindung zu anderen Theoretikern
- Karl Marx – als theoretischer Bezugspunkt für Klassenanalyse und Ideologiekritik
- Stanley Cohen – zur Analyse gesellschaftlicher Reaktionen auf Devianz
- Howard Becker – als kritischer Bezugspunkt (Labeling Approach wird weitergedacht, aber nicht übernommen)
- Loïc Wacquant – als späterer Vertreter einer kritischen Analyse neoliberaler Strafpolitik
Literaturverzeichnis
- Taylor, I., Walton, P. & Young, J. (1973). The New Criminology: For a Social Theory of Deviance. London: Routledge.
- Walton, P. & Young, J. (1998). The New Criminology Revisited. London: Macmillan Press. [hier als Volltext verfügbar]
- Sack, Fritz (1968): Neue Perspektiven in der Kriminologie. In: Sack, F./König, R. (Hrsg.): Kriminalsoziologie. Frankfurt a. M.: Athenäum, S. 431–475
- Scraton, P. (2007). Power, Conflict and Criminalisation. London: Routledge.
- Young, J. (1999). The Exclusive Society: Social Exclusion, Crime and Difference in Late Modernity. London: Sage.