Governing Through Crime: How the War on Crime Transformed American Democracy and Created a Culture of Fear (2007) ist ein einflussreiches Werk des US-amerikanischen Rechtssoziologen Jonathan Simon. Simon zeigt, wie der Kampf gegen Kriminalität in den USA seit den 1970er-Jahren zu einem umfassenden Regierungsparadigma wurde – mit weitreichenden Auswirkungen auf demokratische Institutionen, soziale Beziehungen und politische Handlungsspielräume. Für Simon ist „Governing through Crime“ mehr als eine sicherheitspolitische Strategie: Es ist ein kultureller Modus gesellschaftlicher Organisation, der Angst, Kontrolle und Exklusion in den Mittelpunkt stellt.
Gesellschaftlicher Kontext und theoretischer Rahmen
Simons Analyse ist in den Wandel westlicher Wohlfahrtsstaaten eingebettet, insbesondere in den Übergang vom sozialstaatlichen Fordismus zum neoliberalen Sicherheitsstaat. In Anlehnung an Michel Foucaults Konzept der Gouvernementalität zeigt Simon, dass Kriminalität nicht nur als Problem erscheint, sondern zunehmend zur zentralen Regierungstechnologie avanciert: Soziale Konflikte werden kriminalisiert, politische Verantwortung delegitimiert und staatliches Handeln auf Sicherheitsversprechen reduziert.
„Governing through crime“ bedeutet, dass Kriminalitätsrhetorik zum dominanten Modus der Regierung wird – etwa durch Gesetzgebung, Medienberichterstattung, Bildungs-, Familien- und Sozialpolitik. Simon spricht von einer „Kultur der Angst“ (culture of fear), die demokratische Prozesse aushebelt und staatliche Legitimität über Sicherheitsgarantien herstellt.
Besonders hervorzuheben ist Simons Analyse der Figur des „crime victim“: Das Opfer wird nicht nur zum Gegenstand staatlicher Fürsorge, sondern zunehmend zur politischen Legitimationsinstanz – insbesondere in populistischen Diskursen, in denen Härte mit Gerechtigkeit gleichgesetzt wird.
Merkzettel
Governing Through Crime – Jonathan Simon
Hauptvertreter: Jonathan Simon
Erstveröffentlichung: 2007
Land: USA
Idee/Annahme: Kriminalität dient nicht nur als Gegenstand des Strafrechts, sondern als zentrales Regierungsparadigma moderner Demokratien. Soziale Probleme werden kriminalisiert und unter das Primat der Sicherheitsproduktion gestellt.
Zentrale Begriffe: Governmentality, Crime Governance, Culture of Fear, Zero Tolerance, Responsibilisierung, Sicherheitsstaat
Verwandte Theorien:
Garland, Harcourt, Foucault, Wacquant
Zentrale Thesen
Jonathan Simons zentrale These lautet: Seit den 1970er-Jahren hat sich die Bedeutung von Kriminalität in westlichen Demokratien fundamental gewandelt. Kriminalität ist nicht mehr nur ein juristisches oder administratives Problem, sondern wird zum Regierungsparadigma – einem universellen Deutungsmuster für gesellschaftliche Probleme und einem strategischen Hebel zur Machtausübung. Der Staat regiert zunehmend „durch Kriminalität“, indem er politische Handlungsfelder – von Bildung über Familie bis hin zur Stadtentwicklung – unter das Primat der Verbrechensbekämpfung stellt.
In diesem Kontext kommt es zu einer Transformation demokratischer Institutionen: Einrichtungen wie Schulen, Jugendämter, Sozialbehörden oder Wohnungsverwaltungen werden nicht mehr primär als Orte pädagogischer, sozialer oder wohlfahrtsstaatlicher Unterstützung verstanden, sondern als Risikozonen, in denen es primär um die Prävention devianter Karrieren geht. Diese Institutionen werden durch neue Kontrolltechnologien, Vorschriften und Managementpraktiken neu organisiert – ganz im Sinne eines präventiven Sicherheitsstaates.
Besonders wirkungsvoll ist dabei die emotionalisierte Mobilisierung von Angst. Simon zeigt eindrücklich, wie Unsicherheit, Medienrhetorik und populistische Diskurse die Bevölkerung empfänglich machen für repressive Maßnahmen. Angst wird zur Steuerungsressource, mit der sich Eingriffe in Grundrechte, Ausweitung von Polizeibefugnissen und harsche Strafgesetze legitimieren lassen – häufig im Namen der Opfer oder des Schutzes der Gesellschaft verstand.">Gemeinschaft.
Diese Entwicklung geht einher mit einer Politik der Verantwortungslosigkeit. Strukturelle soziale Missstände – etwa Armut, Bildungsbenachteiligung oder fehlende soziale Teilhabe – werden entpolitisiert und individualisiert. Statt Ursachen zu analysieren, werden „Risikofaktoren“ identifiziert: Einzelpersonen, Familien oder Gruppen gelten als potenziell gefährlich, weil sie von der Norm abweichen. Sozialpolitik mutiert zur Risikoprävention, der Wohlfahrtsstaat zur Kontrollinstanz.
In diesem Kontext fungiert „Law and Order“ nicht nur als politischer Slogan, sondern als diskursives Ordnungsprinzip: Es reduziert komplexe gesellschaftliche Probleme auf moralisch aufgeladene Gegensatzpaare – etwa zwischen „Anständigen“ und „Kriminellen“ – und erlaubt scheinbar einfache Lösungen in Form repressiver Maßnahmen. Dadurch entsteht eine Kultur der Steuerbarkeit, in der Sicherheit zur obersten staatlichen Pflicht avanciert.
Institutionelle Beispiele
Simon illustriert diesen Wandel anhand verschiedener Institutionen:
- Familie: Eltern, insbesondere in prekären Lebenslagen, geraten unter Generalverdacht, ihre Kinder zu gefährden. Kinderschutzgesetze dienen zunehmend als Instrument zur Verhaltenskontrolle. Alleinerziehende Mütter oder junge Väter in „Problemvierteln“ gelten nicht als unterstützungsbedürftig, sondern als potentielle Risiken.
- Bildung: Schulen entwickeln sich zu Sicherheitszonen. Anstatt pädagogisch zu intervenieren, setzen viele Einrichtungen auf Zero Tolerance-Politiken: Polizeipräsenz, Überwachungskameras und rigide Disziplinarstrafen ersetzen Vertrauenspädagogik und soziale Förderung. Die Schule wird zur Vorstufe der strafrechtlichen Kontrollkette.
- Stadtpolitik: Auch Städte werden im Zeichen der Sicherheitslogik neu geordnet. Die Broken-Windows-Theorie liefert das Argumentationsmuster für städtebauliche Maßnahmen wie Videoüberwachung, defensive Architektur oder die Vertreibung unerwünschter Gruppen aus dem öffentlichen Raum. Öffentliche Plätze verlieren ihre Offenheit und werden zu Zonen selektiver Zugänglichkeit.
Insgesamt zeigt Simons Werk ein beunruhigendes Muster: Soziale Probleme werden als Sicherheitsprobleme neu codiert. Wo einst politische Aushandlung, Fürsorge oder sozialstaatliche Intervention standen, herrschen heute Kriminalitätsrhetorik, Kontrolle und Ausschluss. Die Demokratie verändert sich dabei nicht abrupt, sondern graduell – durch eine Umcodierung ihrer Funktionslogik, bei der Kontrolle zunehmend Integration ersetzt.
Weiterdenken: Von Cohen zu Simon
Sowohl Stanley Cohens Visions of Social Control (1985) als auch Jonathan Simons Governing through Crime (2007) analysieren die Ausweitung und Transformation sozialer Kontrolle. Während Cohen vor allem die Verbreiterung, Diversifizierung und Medikalisierung von Kontrollpraktiken im Wohlfahrtsstaat beschreibt, zeigt Simon, wie sich in den USA eine hegemoniale Sicherheitslogik etabliert hat, in der politische und gesellschaftliche Steuerung zunehmend durch Kriminalitätsrhetorik erfolgt.
Cohens Werk liefert somit die theoretische Grundlage, auf der Simon die kriminologisch-politische Entwicklung der USA weiterdenkt – in einer Phase, in der sich Kontrolle nicht mehr verteilt, sondern zentralisiert und politisiert.
Weiterdenken: Garland vs. Simon
David Garland</strong analysiert in The Culture of Control (2001) den Wandel der Strafpolitik als Reaktion auf tiefgreifende gesellschaftliche Veränderungen seit den 1970er-Jahren – etwa Urbanisierung, soziale Desintegration und steigende Unsicherheiten. Seine These: Die neue „Kultur der Kontrolle“ ist Ausdruck veränderter sozialer Bedingungen, auf die mit Punitivität, Risk Governance und Mass Incarceration reagiert wird.
Jonathan Simon</strong dagegen argumentiert in Governing through Crime (2007), dass sich nicht primär die Kriminalitätslage verändert hat, sondern die politische Rationalität. Kriminalität wird zum universellen Regierungsparadigma, mit dem soziale Probleme – in Bildung, Familie oder Stadtentwicklung – als Sicherheitsprobleme gerahmt und repressiv gesteuert werden.
Kernunterschied:
- Garland: Strafpolitik als (überformte) Reaktion auf gesellschaftlichen Wandel
- Simon: Strafpolitik als aktives Mittel der Regierungskunst – auch ohne veränderte Kriminalitätslage
Beide Autoren analysieren die Versicherheitlichung westlicher Gesellschaften – Garland stärker strukturell, Simon stärker machtanalytisch.
Relevanz für die Kriminologie
Simons Werk ist für die kritische Kriminologie zentral, weil es Strafrecht und Kriminalpolitik nicht nur als Reaktionen auf Delinquenz begreift, sondern als gesellschaftlich funktionale Praktiken der Kontrolle und Machtverteilung. Seine Analyse ist anschlussfähig an Cultural Criminology, Surveillance Studies und politische Soziologie. Insbesondere mit Blick auf das US-Strafsystem – aber auch in europäischer Perspektive – bietet „Governing through Crime“ ein kritisches Instrumentarium zur Analyse von:
- Symbolpolitik im Bereich Kriminalität
- Kriminalisierungsprozessen bei Migration, Jugend, Armut
- Politischen Rhetoriken der „inneren Sicherheit“
Verbindung zu Securitization
Das Konzept der Securitization (Versicherheitlichung) beschreibt, wie soziale Themen durch ihre Darstellung als existentielle Bedrohung zu sicherheitspolitischen Agenden werden. Jonathan Simons Analyse der „Kriminalitätsregierung“ greift diesen Gedanken auf – ohne den Begriff explizit zu verwenden.
In Governing through Crime zeigt Simon, wie Kriminalität seit den 1970er-Jahren zur dominanten Linse politischer Steuerung geworden ist. Familien, Schulen und Städte werden nicht mehr primär als soziale Räume verstanden, sondern als potenzielle Risikozonen. Die Folge: soziale Probleme werden als Sicherheitsprobleme gedeutet, deren Bearbeitung nicht länger im Sozialstaat, sondern im Strafrecht liegt.
Ähnlich wie bei Securitization wird dadurch ein Ausnahmezustand normalisiert: Die politische Rationalität folgt nicht mehr dem Prinzip sozialer Integration, sondern der Kontrolle. Simon liefert damit eine innenpolitische Entsprechung zur Theorie der Securitization – und zeigt, wie „innere Sicherheit“ zur umfassenden Regierungstechnologie avanciert.
Fazit
Governing Through Crime ist eine umfassende Analyse des sicherheitspolitischen Strukturwandels moderner Demokratien. Jonathan Simon gelingt es, die kulturelle Tiefenstruktur des „War on Crime“ offenzulegen – und dabei zu zeigen, wie weitreichend Kriminalitätsrhetorik politische Felder durchdringt, die traditionell als sozialstaatlich galten. Das Werk ist ein unverzichtbarer Referenzpunkt für eine kritische Auseinandersetzung mit Gegenwart und Zukunft des Strafens in der neoliberalen Moderne.
Obwohl Simons Analyse primär auf den US-amerikanischen Kontext zielt, lassen sich vergleichbare Dynamiken – etwa im Umgang mit Migration, innerer Sicherheit oder der Reorganisation öffentlicher Räume – auch in europäischen Demokratien feststellen. Die pauschale Kriminalisierung von Gruppen und die sicherheitspolitische Aufladung des Politischen sind keineswegs auf die USA beschränkt.
Unter der Präsidentschaft von Donald Trump wurden politische Gegner, Migrant:innen und städtische Eliten systematisch mit Kriminalität in Verbindung gebracht. Die Begriffe „Law and Order“, „American Carnage“ und die Dämonisierung von „Sanctuary Cities“ dienten nicht der Sicherheit im engeren Sinne, sondern etablierten ein Regierungshandeln, das auf Angst, Feindbilder und autoritäre Lösungen setzte. Auch Simons Analyse, dass der „crime victim“ zum moralischen Bezugspunkt politischer Mobilisierung wird, trifft zu: Opferperspektiven wurden rhetorisch aufgeladen, oft ohne Bezug zu strukturellen Ursachen – sondern als Argument für Abschottung, Repression und Exekutivmacht.Simons Werk hilft, aktuelle Entwicklungen analytisch zu rahmen:
- Kriminalitätsrhetorik als politische Waffe: Die Strategien, die Simon beschreibt, haben sich unter Trump nicht nur verstärkt, sondern regelrecht entgrenzt – etwa durch Twitter/ X oder Truth Social als direkten Kanal der affektiven Kriminalisierung.
- Verlagerung politischer Steuerung: Komplexe Probleme wie Migration, Ungleichheit oder Bildung wurden auf „Kriminalitätsbekämpfung“ reduziert. Diese Reduktion dient weniger der Problemlösung als der Machtkonsolidierung.
- Globale Anschlussfähigkeit: Auch in anderen Kontexten (z. B. Bolsonaro in Brasilien, Orbán in Ungarn) lassen sich ähnliche Muster finden, was für die internationale Tragweite von Simons Analyse spricht.
Kurzum: Governing through Crime ist heute aktueller denn je – sowohl als Analysewerkzeug für autoritäre Tendenzen als auch als Mahnung vor einer politischen Kultur, die Kontrolle über Integration und Angst über Vertrauen stellt.
Literaturverzeichnis
- Simon, J. (2007). Governing Through Crime: How the War on Crime Transformed American Democracy and Created a Culture of Fear. Oxford: Oxford University Press.
- Garland, D. (2001). The Culture of Control. Oxford: Oxford University Press.
- Foucault, M. (1975). Überwachen und Strafen. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.