Re-thinking the Political Economy of Punishment (2006) von Alessandro De Giorgi ist ein zentrales Werk der kritischen Kriminologie im 21. Jahrhundert. Aufbauend auf Marx, Rusche & Kirchheimer und Michel Foucault analysiert De Giorgi die Transformation des Strafens im Zeitalter des Neoliberalismus. Im Zentrum steht die These, dass Strafpolitik heute zunehmend der Exklusion „überflüssiger“ Bevölkerungsgruppen dient – insbesondere prekär Beschäftigter, Arbeitsloser und Migrant:innen. De Giorgi entwickelt eine theoretisch fundierte Kritik an funktionalistischen und ökonomistisch verkürzten Strafmodellen und verbindet diese mit einer Analyse neuer Kontrollregime in westlichen Demokratien.
Gesellschaftlicher Kontext und theoretische Einordnung
Das Buch entstand vor dem Hintergrund zunehmender Inhaftierungsraten in den USA, einer globalen neoliberalen Umstrukturierung der Sozialstaaten und einer repressiven Wende in der Migrationspolitik. De Giorgi nimmt diese Entwicklungen zum Anlass, um den klassischen Ansatz von Georg Rusche und Otto Kirchheimer – Punishment and Social Structure (1939) – neu zu denken und für die Gegenwart fruchtbar zu machen.
Während Rusche & Kirchheimer Strafpolitik als Ausdruck der jeweiligen Produktionsweise interpretierten, betont De Giorgi, dass sich das Verhältnis von Strafe und Ökonomie seit dem Übergang zum Postfordismus grundlegend verändert habe. Statt Integration steht heute Ausgrenzung im Vordergrund. De Giorgi verbindet marxistische Kategorien mit Foucaults Machtanalytik und Gouvernementalitätsansatz – insbesondere mit Blick auf die neuen Formen der „punitiven Exklusion“.
Entwicklung der Inhaftierungsrate in den USA (1940–2010)
Die Inhaftierungsrate gibt die Zahl der Strafgefangenen pro 100.000 Einwohner:innen an und gilt als wichtiger Indikator für die punitiven Tendenzen eines Staates. Zum Zeitpunkt der Veröffentlichung von De Giorgis Werk im Jahr 2006 lag die Inhaftierungsrate in den USA bei 752 – ein historischer Höchststand. Zum Vergleich: In Deutschland betrug die Inhaftierungsrate im selben Jahr lediglich 93 (vgl. World Prison Brief).
Diese Zahlen veranschaulichen eindrucksvoll den Wandel von Strafpolitik im globalen Vergleich – und stützen De Giorgis These einer zunehmenden „Verwaltung überflüssiger Körper“ durch das Gefängnissystem.
Zentrale Thesen
Ein zentrales Argument De Giorgis ist, dass Strafe im Neoliberalismus zunehmend als Instrument zur Verwaltung überflüssiger Körper fungiert. In einem Arbeitsmarkt, der keine umfassende Beschäftigung mehr garantieren kann, verliert das Gefängnis seine disziplinierende Funktion im klassischen Sinne. Es wird vielmehr zum Ort der Verwahrung und Sichtbarmachung sozialer Ausschlüsse – insbesondere jener Gruppen, die weder ökonomisch verwertbar noch politisch repräsentiert sind.
De Giorgi kritisiert zugleich eine verkürzte politische Ökonomie des Strafens, die Strafe ausschließlich aus den Anforderungen des Arbeitsmarkts heraus erklärt. Er plädiert für eine machtanalytische Erweiterung: Strafe ist nicht nur ökonomisch funktional, sondern zugleich symbolisch aufgeladen und politisch motiviert. Die neoliberale Strafpolitik operiert mit einem Diskurs der Sicherheit, der Kriminalisierung, der Illegalität – und produziert so gesellschaftliche Ausschlüsse, die sie zugleich legitimiert.
Ein besonderer Fokus liegt auf der Kriminalisierung von Migration. Abschiebungshaft, Grenzkontrollen und die Konstruktion des „illegalen Anderen“ erscheinen als Kernelemente einer neuen Strafökonomie, in der nicht Integration, sondern territoriale und soziale Kontrolle zentral sind. Migration wird nicht mehr als soziales Problem, sondern als Sicherheitsrisiko kodiert – mit massiven repressiven Konsequenzen.
Damit grenzt sich De Giorgi sowohl vom normativen Integrationsmodell David Garlands ab als auch von Jonathan Simons Konzept des „Governing through Crime“, das auf eine politische Instrumentalisierung von Angst und Kriminalität verweist. De Giorgi verschiebt den Fokus auf die materiellen Ausschlussmechanismen neoliberaler Strafregime.
Damit liefert De Giorgi eine theoretisch dichte Analyse der neoliberalen Wende im Strafrecht, die sowohl an klassische Marxismen als auch an Foucault, Garland und Wacquant anschlussfähig ist – und zugleich neue empirische Felder wie Grenzpolitik, Urban Governance und internationale Sicherheitspolitik erschließt.
Merkzettel
Re-thinking the Political Economy of Punishment – Alessandro De Giorgi
Hauptvertreter: Alessandro De Giorgi
Erstveröffentlichung: 2006
Land: USA / Italien
Idee/Annahme:
Strafpolitik im Neoliberalismus dient zunehmend der Exklusion „überflüssiger“ Bevölkerungsteile. Das Gefängnis wird zur Verwaltungseinrichtung für Marginalisierte. Strafpolitik muss im Kontext postfordistischer Ökonomie, Migration und Diskursmacht analysiert werden.
Zentrale Begriffe:
Politische Ökonomie des Strafens, Neoliberalismus, punitive exclusion, Prekarisierung, Crimmigration
Verwandte Theorien:
Kritische Kriminologie, Gouvernementalität, Rusche & Kirchheimer, Wacquant
Begriff erklärt: Politische Ökonomie des Strafens
Die politische Ökonomie des Strafens untersucht, wie Strafsysteme mit ökonomischen Strukturen und Machtverhältnissen verwoben sind. Sie geht davon aus, dass Strafe nicht neutral, sondern historisch, sozial und materiell vermittelt ist. In der Tradition von Rusche & Kirchheimer analysiert sie die Funktion von Strafe im Kontext von Arbeit, Eigentum und sozialer Ordnung. De Giorgi erweitert diesen Ansatz um eine Analyse neuer Ausschlussregime im neoliberalen Kapitalismus.
Kritik und Rezeption
Re-thinking the Political Economy of Punishment wurde vor allem in der angloamerikanischen Kriminologie breit rezipiert. Es gilt als wichtiger Beitrag zur Aktualisierung marxistischer Kriminalitätstheorien und als Bindeglied zwischen klassischen Autoren (wie Rusche & Kirchheimer) und zeitgenössischen Stimmen (wie Loïc Wacquant oder Jonathan Simon).
Positiv hervorgehoben wird De Giorgis Fähigkeit, komplexe Theorieansätze zu verbinden und empirisch fruchtbar zu machen. Kritisiert wird mitunter, dass konkrete Alternativen zur bestehenden Strafpolitik nur angedeutet bleiben. Dennoch gilt das Werk als Schlüsseltext zur Analyse neoliberaler Strafregime und als grundlegend für die kritische Migrations- und Sicherheitsforschung – insbesondere im Hinblick auf Prozesse der sogenannten Crimmigration. Damit ist die zunehmende Verschränkung von Migrations- und Strafrecht gemeint, bei der migrationspolitische Maßnahmen kriminalisiert und strafrechtlich sanktioniert werden – etwa durch Abschiebehaft, polizeiliche Kontrolle von Aufenthaltsstatus oder strafrechtliche Verfolgung von illegalisiertem Aufenthalt.
Internationaler Kontext
De Giorgis Werk knüpft an eine transatlantische Debatte über Strafpolitik im Zeitalter des Neoliberalismus an. Besonders die USA, das Vereinigte Königreich und Südeuropa stehen im Fokus – etwa hinsichtlich urbaner Polizeistrategien, Abschiebepolitik und sozial selektiver Strafverfolgung.
Literaturverzeichnis
- De Giorgi, A. (2006). Re-thinking the Political Economy of Punishment: Perspectives on Post-Fordism and Penal Politics. Aldershot: Ashgate.
- Rusche, G. & Kirchheimer, O. (1939). Punishment and Social Structure. New York: Columbia University Press.
- Wacquant, L. (2009). Bestraft die Armen! Zur neoliberalen Regierung der sozialen Unsicherheit. Berlin: UVK.
- Foucault, M. (1975). Überwachen und Strafen. Frankfurt a.M.: Suhrkamp.
- World Prison Brief (o.J.). Institute for Crime & Justice Policy Research. https://www.prisonstudies.org/