The Politics of the Police (erste Auflage 1985, vierte Auflage 2010) ist das wohl einflussreichste Werk des britischen Kriminologen Robert Reiner. Das englischsprachige Standardwerk zum Theme Policing bietet eine umfassende Analyse des britischen Polizeiwesens, seiner historischen Entwicklung, politischen Steuerung und gesellschaftlichen Funktion. Reiners Werk steht exemplarisch für eine kritische Polizeiforschung, die sich nicht mit institutionellen Strukturen zufriedengibt, sondern die sozialen Bedingungen und politischen Implikationen polizeilichen Handelns in den Blick nimmt.
In der vierten, grundlegend überarbeiteten Auflage reagiert Reiner auf neue Herausforderungen: Terrorismusbekämpfung, neoliberale Sicherheitspolitik, Medienrhetorik und die Transformation der Polizei im Zeichen einer Konsumgesellschaft.
Historische Entwicklung und Wandel der Polizeifunktion
Reiner zeichnet die Entwicklung der Polizei von einem Instrument disziplinarischer Sozialkontrolle im viktorianischen England hin zu einer modernen Institution der „policing by consent“ nach. Dabei beschreibt er, wie die Polizei immer wieder im Spannungsfeld von Staat, Gesellschaft und sozialen Klassen agiert. Besonders hervorzuheben ist Reiners Analyse der Nachkriegszeit, in der die britische Polizei als relativ unpolitische Institution galt – ein Zustand, den er als historisch kontingent und zunehmend brüchig beschreibt.
Merkzettel
The Politics of the Police – Robert Reiner
Hauptvertreter: Robert Reiner
Erstveröffentlichung: 1985 (aktuelle Auflage: 2010)
Land: Großbritannien
Idee/Annahme: Polizeiarbeit ist nie unpolitisch, sondern Ausdruck gesellschaftlicher Machtverhältnisse. Sie wird durch soziale, ökonomische und mediale Faktoren mitgestaltet.
Zentrale Begriffe: policing by consent, commodification of policing, police legitimacy, police culture
Verwandte Theorien: Kritische Polizeiforschung, Surveillance Studies
Inhalt und zentrale Thesen der vierten Auflage (2010)
Robert Reiners vierte Auflage von The Politics of the Police (2010) ist ein umfassendes und systematisch gegliedertes Werk, das sich mit der Rolle der Polizei im demokratischen Staat auseinandersetzt. Die Darstellung geht weit über die Beschreibung institutioneller Strukturen hinaus und integriert historische, politische, rechtliche und soziologische Perspektiven. Die Hauptinhalte lassen sich wie folgt zusammenfassen:
1. Historische Entwicklung der Polizei
Reiner beschreibt detailliert die Entwicklung der britischen Polizei von ihren Ursprüngen im 19. Jahrhundert bis in die Gegenwart. Er zeigt, wie sich das Bild und die Funktion der Polizei im Kontext von Klassenstruktur, Industrialisierung und sozialen Konflikten wandelten.
2. Polizei und Macht
Ein zentrales Thema ist die Frage, in wessen Interesse die Polizei agiert – Reiner analysiert kritisch, inwiefern die Polizei strukturell zur Aufrechterhaltung sozialer Ordnung im Sinne dominanter gesellschaftlicher Gruppen beiträgt. Dabei bezieht er sich auf Theorien des demokratischen Pluralismus und des Marxismus sowie auf die Kriminologie, der Kriminalität als Ausdruck sozialer Ungleichheit und Machtverhältnisse interpretiert.">Kritische Kriminologie .
3. Normen, Werte, Verhaltensweisen und Überzeugungen, die innerhalb der Polizei als Organisation gelebt und weitergegeben werden. Diese Kultur beeinflusst das Handeln der Polizeibeamten, ihre Einstellungen gegenüber Bürgern sowie die Wahrnehmung von Gefahr und Kriminalität.">Polizeikultur und Cop Culture
Das Werk enthält eine fundierte Auseinandersetzung mit der Cop Culture – der informellen Berufskultur von Polizist:innen. Reiner diskutiert ethnografische Studien, die aufzeigen, wie sich innerhalb der Polizei ein kollektiver Habitus herausbildet, der durch Männlichkeitsnormen, Loyalitätsdruck, institutionelles Misstrauen und eine Normalisierung von Gewalt geprägt ist.
4. Medien und öffentliche Wahrnehmung
Ein weiteres Kapitel widmet sich der medialen Repräsentation von Polizei und Kriminalität. Reiner argumentiert, dass populäre Darstellungen in Film, Fernsehen und Boulevardpresse polizeiliches Handeln häufig verzerren und dadurch politische Forderungen nach „law and order“ verstärken. Reiner analysiert insbesondere die Wechselwirkung zwischen medialer Darstellung und polizeilicher Legitimation: Medien inszenieren die Polizei als Garantin von Ordnung, während die Polizei mediale Aufmerksamkeit gezielt nutzt, um ihr öffentliches Image zu steuern – ein Phänomen, das er als „media-savvy policing“ bezeichnet.
5. Polizeiliche Strategien und Reformen
Er beschreibt den Wandel von traditioneller „Beat Policing“ hin zu problemorientierten, präventiven und communitybasierten Polizeistrategien. Konzepte wie Gemeinschaft basiert, um gemeinsam Kriminalität zu bekämpfen und das Sicherheitsgefühl zu stärken.">Community Policing, Intelligence-led Policing oder Broken Windows werden kritisch diskutiert.
6. Terrorismus, Überwachung und neue Herausforderungen
In der vierten Auflage geht Reiner intensiv auf die sicherheitspolitischen Entwicklungen nach 9/11 ein. Er analysiert die Folgen von Terrorbekämpfung, biometrischer Überwachung, Anti-Terror-Gesetzen und die Aushöhlung bürgerlicher Freiheitsrechte. Hier zeigt sich eine deutliche Verbindung zu Foucaults Konzept der Gouvernementalität und zu Debatten um die „securitization“ des Politischen .
7. Politik und Polizei
Im abschließenden Teil analysiert Reiner die politische Steuerung und Rechenschaftspflicht der Polizei. Er diskutiert Modelle demokratischer Kontrolle, institutioneller Unabhängigkeit und die Spannungen zwischen Effizienz, Rechtssicherheit und Legitimation in einer liberalen Demokratie.
Die aktualisierte Ausgabe erweitert Reiners Perspektive auf neue politische und gesellschaftliche Entwicklungen:
- Polizei und Neoliberalismus: Unter dem Einfluss von „New Labour“ und konservativer Austeritätspolitik hat sich die Polizei von einem öffentlichen Dienst hin zu einem steuerbaren Sicherheitsapparat gewandelt. Marktförmige Steuerungsinstrumente, Benchmarking und Effizienzmetriken haben das polizeiliche Selbstverständnis verändert.
- Antiterrorismus: Seit den Anschlägen vom 11. September 2001 wird die Polizei zunehmend in Sicherheitsdiskurse eingebunden, die über klassische Kriminalitätsbekämpfung hinausgehen. Der „War on Terror“ dient als Legitimationsgrundlage für erweiterte Befugnisse, Überwachung und verdachtsunabhängige Kontrollen.
- Medien und Polizei: Die Darstellung der Polizei in populären Medien beeinflusst die gesellschaftliche Wahrnehmung nachhaltig. Reiner analysiert insbesondere die „Öffentlichkeitsarbeit“ der Polizei sowie deren strategische Nutzung medialer Ereignisse zur Legitimation von Macht.
- Polizei und Konsumgesellschaft: In einer zunehmend konsumistischen Gesellschaft wird Sicherheit zur Ware. Die Polizei agiert dabei nicht nur als Sicherheitsanbieterin, sondern auch als Produzentin von Gefühlspolitik und Risikoabschirmung. Reiner spricht in diesem Zusammenhang von einer „commodification of policing„.
Kritik und Relevanz
Reiner nimmt eine dezidiert kritische Perspektive ein. Er kritisiert die Depolitisierung der Polizei durch technokratische Diskurse ebenso wie die Idealisierung der Polizeiarbeit durch Medien und politische Eliten. Dabei plädiert er für eine demokratische Kontrolle und gesellschaftliche Einbettung der Polizei, die nicht allein durch Effizienz oder Durchsetzungskraft legitimiert sein kann.
Reiners Werk ist bis heute grundlegend für die Polizei- und Prävention von Sicherheitsrisiken im öffentlichen und privaten Raum beschäftigt.">Sicherheitsforschung. Es ermöglicht eine kritische Reflexion darüber, wie sich polizeiliche Macht entfaltet, legitimiert und transformiert – insbesondere im Kontext neoliberaler Gesellschaften, zunehmender Unsicherheit und autoritärer Tendenzen.
Weiterdenken: Derin & Singelnstein – Die Polizei (2022)
Das Buch Die Polizei. Helfer, Gegner, Staatsgewalt. Inspektion einer mächtigen Organisation von Benjamin Derin und Tobias Singelnstein gilt als umfassendste zeitgenössische Analyse der Polizei in Deutschland. Es vereint rechts- und sozialwissenschaftliche Perspektiven und beleuchtet zentrale Themen wie Organisation, Gewalt, Subkultur innerhalb der Polizei, die sich durch ein starkes Zugehörigkeitsgefühl, Misstrauen gegenüber Außenstehenden und einen Hang zu Autorität und Kontrolle auszeichnet.">Cop Culture, institutionellen Rassismus und demokratische Kontrolle.
In seiner analytischen Breite, kritischen Haltung und empirischen Fundierung lässt sich das Werk als deutsches Gegenstück zu Robert Reiners The Politics of the Police lesen – weniger historisch-theoretisch angelegt, dafür methodisch differenziert und auf die aktuellen Herausforderungen des deutschen Polizeiwesens fokussiert.
Infobox: Reiners Kritik an „Policing by Consent“
Reiner zeigt, dass das Ideal eines einvernehmlichen Polizeiverhältnisses („policing by consent“) historisch bedingt ist und nicht mit der objektiven Realität polizeilichen Handelns übereinstimmt. Insbesondere marginalisierte Gruppen erleben Polizei nicht als Bürgerservice, sondern als Kontrollinstanz. Reiner macht deutlich: „Policing by consent“ bleibt für viele marginalisierte Gruppen ein Mythos – untergraben durch Überwachung, institutionellen Rassismus und exkludierende Praktiken.
Literaturverzeichnis
- Reiner, R. (2010). The Politics of the Police. Fourth Edition. Oxford: Oxford University Press.
- Loader, I., & Mulcahy, A. (2003). Policing and the Condition of England. Oxford: Oxford University Press.
- Brodeur, J.-P. (2010). The Policing Web. Oxford: Oxford University Press.