The Philadelphia Negro von W. E. B. Du Bois gilt als eine der ersten umfassenden soziologischen Studien über städtische Armut und soziale Ungleichheit. In seiner Untersuchung der afroamerikanischen Bevölkerung Philadelphias verbindet Du Bois empirische Sozialforschung mit einer theoretischen Analyse der sozialen Strukturen, die Armut, Marginalisierung und Kriminalität beeinflussen. Seine Arbeit markiert einen zentralen Ausgangspunkt der urbanen Soziologie und der kritischen Kriminologie. Besonders bemerkenswert ist die frühe Auseinandersetzung mit dem Phänomen der Segregation und deren Auswirkungen auf Kriminalität und soziale Ungleichheit.
Merkzettel
W. E. B. Du Bois – The Philadelphia Negro
Hauptvertreter: W. E. B. Du Bois (1868–1963)
Cornelius Marion Battey, Public domain, via Wikimedia Commons
Erstveröffentlichung: 1899
Land: USA
Idee/Annahme: Du Bois analysiert die soziale und wirtschaftliche Situation der afroamerikanischen Bevölkerung in Philadelphia und zeigt die strukturellen Ursachen von Kriminalität und sozialer Ungleichheit auf. Er thematisiert die Auswirkungen von Segregation und institutioneller Diskriminierung.
Grundlage für: Spätere Arbeiten zur sozialen Ungleichheit, Segregation und zur Kritischen Kriminologie. Andersons einflussreiche Studie „Code of the Street„, die sich ebenfalls auf Philadelphia bezieht, lässt sich als Fortführung von Du Bois‘ Arbeit verstehen..
Historischer und wissenschaftlicher Kontext
Du Bois verfasste The Philadelphia Negro am Ende des 19. Jahrhunderts im Auftrag der University of Pennsylvania. Ziel war es, die soziale und wirtschaftliche Situation der afroamerikanischen Bevölkerung in Philadelphia zu untersuchen. Dabei kombinierte Du Bois quantitative Methoden – eine systematische Volkszählung und statistische Erhebungen – mit qualitativen Interviews, um ein umfassendes Bild der sozialen Lage zu zeichnen.
Seine Untersuchung fiel in eine Zeit, in der Rassentrennung und systematische Diskriminierung tief in der US-amerikanischen Gesellschaft verankert waren. Du Bois entlarvte die sozialen Ursachen von Kriminalität und Armut, die in struktureller Benachteiligung, fehlendem Zugang zu Bildung und Arbeitsplätzen sowie rassistischer Ausgrenzung begründet lagen. Diese Analyse prägte später die Theoriebildung der sozialen Ungleichheit und der Kritischen Kriminologie.
Rassentrennung in den USA (Segregation)
Die Rassentrennung in den USA (engl. segregation) beschreibt die systematische Trennung von Schwarzen und Weißen in nahezu allen Bereichen des öffentlichen und privaten Lebens. Diese Trennung war vor allem in den Südstaaten der USA nach dem Amerikanischen Bürgerkrieg (1861–1865) fest verankert und wurde durch eine Reihe von Gesetzen, den sogenannten Jim Crow Laws, institutionalisiert.
Obwohl die Sklaverei durch den 13. Zusatzartikel der US-Verfassung 1865 abgeschafft wurde, blieben Afroamerikaner de facto weiterhin rechtlich und sozial benachteiligt. Die Jim Crow-Gesetze (ab den 1870er Jahren) legten fest, dass Schwarze und Weiße getrennt leben mussten – dies betraf Schulen, öffentliche Verkehrsmittel, Restaurants, Krankenhäuser und sogar Trinkbrunnen. Die Doktrin „separate but equal“, die 1896 im Urteil Plessy v. Ferguson vom Obersten Gerichtshof der USA bestätigt wurde, legitimierte diese Trennung für Jahrzehnte.
Erst durch die Bürgerrechtsbewegung der 1950er und 1960er Jahre, angeführt von Persönlichkeiten wie Martin Luther King Jr. und Rosa Parks, wurde die gesetzliche Rassentrennung schrittweise aufgehoben. Ein Meilenstein war das Urteil Brown v. Board of Education (1954), in dem der Oberste Gerichtshof entschied, dass die Rassentrennung an öffentlichen Schulen verfassungswidrig sei. Mit dem Civil Rights Act von 1964 und dem Voting Rights Act von 1965 wurden schließlich weitreichende gesetzliche Maßnahmen zur Aufhebung der Rassentrennung und zur Sicherung der Bürgerrechte für Afroamerikaner beschlossen.
Trotz der gesetzlichen Abschaffung sind die Folgen der Rassentrennung bis heute spürbar. Viele Städte und Gemeinden in den USA weisen weiterhin eine hohe räumliche und soziale Trennung entlang ethnischer Linien auf (De-facto-Segregation), was sich in Bildung, Wohnraum und ökonomischen Möglichkeiten widerspiegelt.
Hauptthesen und zentrale Aussagen
Soziale Ungleichheit und Kriminalität
Du Bois argumentiert, dass Armut und Kriminalität weniger individuelle Schwächen oder moralisches Versagen darstellen, sondern das Resultat systematischer sozialer Ausgrenzung und wirtschaftlicher Marginalisierung sind. Er zeigt auf, dass strukturelle Benachteiligungen – wie der mangelnde Zugang zu Arbeitsplätzen und Bildung – in den betroffenen Stadtteilen ein Umfeld schaffen, in dem Kriminalität zu einem überlebensnotwendigen Mittel wird. Durch seine empirischen Erhebungen belegt Du Bois, dass die hohen Kriminalitätsraten in afroamerikanischen Vierteln nicht auf ethnische oder kulturelle Faktoren zurückzuführen sind, sondern auf soziale Bedingungen und institutionelle Diskriminierung.
In Philadelphia, as elsewhere in the United States, the existence of certain peculiar social problems affecting the Negro people are plainly manifest. Here is a large group of people perhaps forty-five thousand, a city within a city who do not form an integral part of the larger social group. This in itself is not altogether unusual; there are other unassimilated groups: Jews, Italians, even Americans ; and yet in the case of the Negroes the segregation is more conspicuous, more patent to the eye, and so intertwined with a long historic evolution, with peculiarly pressing social problems of poverty, ignorance, crime and labor, that the Negro problem far surpasses in scientific interest and social gravity most of the other race or class questions.
(Du Bois, 1967, S. 5)
Segregation und soziale Kontrolle
Ein zentrales Element seiner Untersuchung ist die räumliche Trennung der afroamerikanischen Bevölkerung von den weißen Stadtbewohnern. Diese Segregation führt nicht nur zu sozialer Isolation, sondern verhindert auch die gesellschaftliche Teilhabe und wirtschaftliche Aufstiegsmöglichkeiten der Betroffenen. Du Bois beschreibt, wie diese soziale Kontrolle durch räumliche Abgrenzung Kriminalität begünstigt, da in segregierten Vierteln weniger soziale Kontrolle durch staatliche Institutionen wie Polizei oder soziale Dienste vorhanden ist. Gleichzeitig fördert die Isolation die Herausbildung von Subkulturen, die wiederum das soziale Gefüge innerhalb der Community stabilisieren, aber gleichzeitig auch verstärken können.
Institutionelle Diskriminierung
Du Bois kritisiert in seiner Analyse die strukturellen Barrieren, die Afroamerikanern in Philadelphia den Zugang zu Bildung, Gesundheitsversorgung und Arbeitsplätzen verwehren. Diese systematische Benachteiligung trägt nicht nur zur Verfestigung sozialer Ungleichheiten bei, sondern sorgt auch dafür, dass viele Bewohner der betroffenen Stadtteile in prekären Arbeitsverhältnissen oder in Arbeitslosigkeit verharren. Für Du Bois sind diese institutionellen Mechanismen Ausdruck einer strukturellen Diskriminierung, die gezielt darauf abzielt, Afroamerikaner in wirtschaftlicher Abhängigkeit zu halten. Dadurch verstärkt sich nicht nur die Armut, sondern auch die Kriminalitätsbelastung innerhalb der Gemeinden.
Kulturelle Stigmatisierung
Ein weiterer zentraler Aspekt seiner Untersuchung ist die kulturelle Zuschreibung und gesellschaftliche Fixierung negativer Merkmale an Einzelpersonen oder Gruppen, die zu sozialer Abwertung und Ausschluss führen.">Stigmatisierung der afroamerikanischen Bevölkerung. Du Bois zeigt auf, wie rassistische Vorurteile und gesellschaftliche Stigmata dazu führen, dass Afroamerikaner als „Kriminelle“ oder „sozial abweichend“ etikettiert werden, unabhängig von ihrer tatsächlichen Lebensführung. Diese Zuschreibungen verstärken nicht nur soziale Isolation, sondern verhindern auch ökonomische und soziale Aufstiegschancen. Du Bois beschreibt diesen Prozess als einen sich selbst verstärkenden Mechanismus, der sowohl die soziale Exklusion als auch die Kriminalisierung weiter befördert.
Parallelen zu Elijah Andersons Code of the Street
Elijah Anderson knüpft 100 Jahre später in seiner ethnografischen Studie Code of the Street (1999) an die Analyse von Du Bois an. Während Du Bois die soziale Isolation und strukturelle Benachteiligung der afroamerikanischen Community im Philadelphia des 19. Jahrhunderts beschreibt, zeigt Anderson, wie diese Isolation bis in die Gegenwart fortbesteht. Der „Code of the Street“ stellt dabei eine Reaktion auf soziale Ungleichheit, Diskriminierung und mangelnde staatliche Kontrolle in urbanen Räumen dar. Anderson beschreibt, wie alternative Normen der Selbstverteidigung und der Respektwahrung entstehen, um im sozialen Gefüge der Straße bestehen zu können – ein Phänomen, das Du Bois bereits als soziale Kontrolle in segregierten Stadtteilen identifizierte.
Methodik und empirische Erhebung
Du Bois nutzte eine damals neuartige Methode der empirischen Sozialforschung:
- Quantitative Erhebung: Du Bois führte eine Volkszählung in den afroamerikanischen Stadtteilen durch und erhob detaillierte statistische Daten zu Einkommen, Bildung, Familienstruktur und Kriminalität.
- Qualitative Interviews: Zusätzlich führte er Tiefeninterviews mit Bewohnern durch, um soziale Strukturen und persönliche Lebenswelten besser verstehen zu können.
- Kartografische Darstellung: Er visualisierte soziale Ungleichheiten durch Kartenmaterial, das Wohnverhältnisse und soziale Brennpunkte sichtbar machte.
Kritik und Rezeption
Während The Philadelphia Negro heute als Meilenstein der urbanen Soziologie gilt, wurde es zu Du Bois‘ Zeit wenig beachtet. Insbesondere die sozialkritische Perspektive auf Rassismus und strukturelle Ungleichheit traf in der akademischen Welt auf Widerstand. Erst später, mit dem Aufkommen der Bürgerrechtsbewegung, wurde sein Werk wiederentdeckt und als Pionierleistung der kritischen Sozialforschung gewürdigt.
Aktualität und Bedeutung
Du Bois‘ Analyse hat nicht an Aktualität verloren. Themen wie soziale Segregation, Rassismus und die strukturellen Ursachen von Kriminalität sind weiterhin zentral in der kriminologischen Forschung. Insbesondere die Verzahnung von empirischer Erhebung und theoretischer Analyse gilt heute als Vorbild für sozialwissenschaftliche Studien.
Literatur und Quellen
- Du Bois, W. E. B. (1899). The Philadelphia Negro: A Social Study. University of Pennsylvania Press.
- Du Bois, W. E. B. (1967). The Philadelphia Negro: A Social Study. Shocken Books.
- Morris, A. (2015). The Scholar Denied: W. E. B. Du Bois and the Birth of Modern Sociology. University of California Press.
- Shapiro, T. M. (2004). The Hidden Cost of Being African American: How Wealth Perpetuates Inequality. Oxford University Press.