Thomas J. Scheffs Werk Being Mentally Ill gilt als ein zentraler Beitrag zur Etikettierungstheorie und zur Soziologie psychischer Abweichung. Aufbauend auf den theoretischen Überlegungen von Howard S. Becker und Erving Goffman, entwickelt Scheff die These, dass “Geisteskrankheit” nicht (nur) medizinisch-biologisch erklärbar sei, sondern wesentlich durch soziale Zuschreibungsprozesse hervorgebracht werde. Das Werk verbindet damit psychologische, psychiatrische und kriminologische Perspektiven.
Merkzettel
Thomas J. Scheff – Being Mentally Ill
Hauptvertreter: Thomas J. Scheff (geb. 1929)
Erstveröffentlichung: 1966
Land: USA
Idee/Annahme: Psychische Krankheit ist nicht nur medizinisch, sondern wesentlich sozial konstruiert; psychiatrische Diagnosen beruhen oft auf normativen Zuschreibungen
Grundlage für: Kriminologie, die die Bedeutung gesellschaftlicher Zuschreibungsprozesse für die Entstehung von abweichendem Verhalten und Kriminalität betont.">Labeling Approach, Kritische Psychiatrie, Medizinsoziologie, Kriminologie
Verwandte Theorien: Labeling Approach, Stigma (Goffman), Sekundäre Devianz (Lemert)
Der zentrale Gedanke: Mentale Krankheit als Etikett
Scheffs Grundthese lautet: Mentale Krankheit ist weniger eine objektiv feststellbare Pathologie als vielmehr ein sozial zugeschriebener Status. Der psychiatrische Diagnoseprozess folgt demnach nicht ausschließlich medizinischen Kriterien, sondern ist eng mit gesellschaftlichen Normen und Erwartungen verknüpft. Personen, die sich deviant verhalten – etwa emotional instabil, unberechenbar oder unangepasst erscheinen –, werden mit dem Etikett „psychisch krank“ versehen. Diese Etikettierung verändert nicht nur die Sichtweise anderer, sondern auch das Selbstbild der betroffenen Person – ein Mechanismus, der stark an Goffmans Konzept der Zuschreibung und gesellschaftliche Fixierung negativer Merkmale an Einzelpersonen oder Gruppen, die zu sozialer Abwertung und Ausschluss führen.">Stigmatisierung erinnert.
Begriff: Residual Rule-Breaking
Scheff verwendet den Begriff „Residual Rule-Breaking“ für Verhaltensweisen, die zwar gegen implizite soziale Regeln verstoßen, aber keiner klaren Normabweichung zugeordnet werden können. Solche diffusen Regelverstöße sind besonders anfällig für psychiatrische Etikettierungen.
Primäre und sekundäre deviante Reaktion
Analog zu Edwin Lemerts Begriff der sekundären Devianz unterscheidet Scheff zwischen:
- Primärer Abweichung: Verhalten, das als unüblich gilt, aber noch nicht zu einer Etikettierung geführt hat.
- Sekundärer Abweichung: Verhalten, das als Reaktion auf das soziale Etikett „geisteskrank“ entsteht – etwa durch Übernahme der Rolle des Kranken, Rückzug oder Verstärkung der Symptome.
Die Diagnose wird so zur sich selbst bestätigenden Prophezeiung (self-fulfilling prophecy). Der Kranke verhält sich gemäß den Erwartungen seiner Umwelt – nicht, weil er krank ist, sondern weil er als solcher behandelt wird.
Institutionelle Verstärkung: Die Rolle psychiatrischer Einrichtungen
Scheff analysiert auch die Rolle von Kliniken und Anstalten als totale Institutionen (Goffman), die zur Etablierung und Stabilisierung des Etiketts beitragen. Die Aufnahme in eine psychiatrische Einrichtung signalisiert der Umwelt: Diese Person ist tatsächlich psychisch krank. Das Umfeld passt sein Verhalten entsprechend an, während der Patient sich zunehmend mit der ihm zugeschriebenen Rolle identifiziert.
Die psychiatrische Behandlung, so Scheffs Kritik, wirke nicht selten stigmatisierend und chronifizierend – nicht aufgrund ihrer Inhalte, sondern aufgrund ihrer Form: Der Entzug sozialer Rollen, die Fremdbestimmung und Isolation fördern den Rückzug und die Festschreibung des Krankenstatus.
Kritik an der medizinischen Dominanz
Scheff kritisiert den dominanten medizinischen Diskurs über psychische Krankheit, der soziale Ursachen und Bedeutungen ausblendet. Aus seiner Sicht ignorieren biologische Modelle wichtige Kontextfaktoren wie Armut, soziale Isolation, familiäre Konflikte oder kulturelle Normen. Die Soziologie hingegen kann aufzeigen, wie Normabweichung definiert, interpretiert und sanktioniert wird – und wie diese Prozesse zur Produktion psychischer Auffälligkeit beitragen.
Kriminologische Anschlussfähigkeit
Scheffs Ansatz ist nicht auf die Psychiatrie beschränkt. Auch in der Kriminologie lassen sich Parallelen ziehen: Strafrechtlich relevante Devianz (z. B. Gewalt, Delikte im Affekt, Regelbrüche durch psychisch auffällige Personen) wird häufig pathologisiert. Der Übergang von „abweichend“ zu „krank“ ist fließend – insbesondere bei als irrational oder unkontrolliert geltenden Verhaltensweisen.
Zudem lassen sich Goffmans und Scheffs Überlegungen im Kontext der forensischen Psychiatrie, der Sicherungsverwahrung oder der Begutachtung von Schuldfähigkeit wiederfinden. Der Fokus auf soziale Zuschreibung statt objektiver Pathologie stellt eine kritische Gegenposition zur gängigen psychiatrischen Kriminalitätsätiologie dar.
Beispiel: Kriminalisierung und Etikettierung im Drogenkontext
Die Theorie Scheffs lässt sich auch auf die Kriminalisierung von Drogenkonsum anwenden: Abweichendes Verhalten – wie der Konsum illegalisierter Substanzen – wird häufig nicht nur strafrechtlich sanktioniert, sondern zugleich als „krankhaft“ pathologisiert. Medizinische Diagnosen wie „Substanzgebrauchsstörung“ oder „Abhängigkeit“ tragen dazu bei, Konsument:innen als behandlungsbedürftig oder unzurechnungsfähig zu etikettieren. Aus soziologischer Sicht handelt es sich hierbei weniger um objektiv-pathologische Zustände als um soziale Zuschreibungen, die gesellschaftliche Normen und Machtverhältnisse widerspiegeln. Wie in Scheffs Theorie beschrieben, kann die Kombination aus strafrechtlicher Verurteilung und medizinischer Stigmatisierung die soziale Integration erschweren und deviante Karrieren begünstigen. Die Debatte um Entkriminalisierung und akzeptierende Drogenarbeit reflektiert genau diesen Spannungsbereich zwischen Kontrolle und Anerkennung.
Rezeption und Kritik
Scheffs Werk wurde insbesondere in der kritischen Soziologie und antipsychiatrischen Bewegung rezipiert. Kritiker werfen ihm jedoch vor, psychische Krankheiten zu stark zu sozialisieren und mögliche biologische Grundlagen zu vernachlässigen. Auch wird diskutiert, ob seine Theorie ausreichend zwischen echten Krankheitsbildern und sozialen Zuschreibungen differenziert.
Trotzdem gilt Being Mentally Ill als Pionierarbeit, die den Diskurs über psychische Krankheit grundlegend verändert hat – insbesondere im Hinblick auf Machtverhältnisse, soziale Kontrolle und die Rolle von Institutionen.
Weiterführend: Scheff und Restorative Justice
In seinen späteren Arbeiten verbindet Thomas J. Scheff seine Theorie der sozialen Etikettierung mit dem Konzept der Restorative Justice. Gemeinsam mit Suzanne Retzinger betont er die zentrale Rolle von Emotionen wie Scham und Wut in sozialen Konflikten – Gefühle, die im Rahmen klassischer Strafverfahren oft verdrängt oder verstärkt werden. Restorative-Justice-Ansätze, etwa in Form von Community Conferences oder Täter-Opfer-Ausgleich, ermöglichen hingegen eine dialogische Auseinandersetzung mit dem verursachten Schaden und fördern soziale Reintegration statt Ausgrenzung.
Scheff sieht in diesen Verfahren einen praktischen Weg, die negativen Folgen von Stigmatisierung abzumildern, Verantwortung zu übernehmen und soziale Bindungen zu stärken. Damit steht sein Ansatz in enger Verbindung zu Braithwaites Theorie des reintegrativen Beschämens und zur Idee einer heilenden, beziehungsorientierten Rechtskultur (Therapeutic Jurisprudence).
Weiterführend: Thomas J. Scheff & Suzanne Retzinger (1991): Emotions and Violence: Shame and Rage in Destructive Conflicts
Literatur
- Scheff, T. J. (1966). Being Mentally Ill: A Sociological Theory. Chicago: Aldine.
- Goffman, E. (1963). Stigma: Notes on the Management of Spoiled Identity. Englewood Cliffs: Prentice-Hall.
- Lemert, E. (1951). Social Pathology. New York: McGraw-Hill.
- Rosenhan, D. (1973). On Being Sane in Insane Places. Science, 179(4070), 250–258.