Die sozialkonstruktivistische Kriminalitätstheorie umschreibt das Phänomen der Kriminalität in seiner Gesamtheit. Demnach ist ein Verbrechen Folge von makrosoziologischen Vorbedingungen, mikrosoziologischen Theorien inklusive individueller Entscheidungssituationen sowie Zuschreibungen seitens der Gesellschaft und des Staates zur Herrschaftssicherung und Konsensherstellung, welche ihrerseits die neuen makrosoziologischen Bedingungen für neue mikrodimensionale Entscheidungen darstellen.
Merkzettel
Sozialkonstruktivistische Kriminalitätstheorie – Hess & Scheerer
Hauptvertreter: Henner Hess, Sebastian Scheerer
Erstveröffentlichung: 2004 (Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Sonderheft 43)
Land: Deutschland
Idee/Annahme: Kriminalität ist ein sozial konstruiertes Phänomen. Sie entsteht durch ein Wechselspiel von makrosoziologischen Bedingungen, mikrosoziologischen Entscheidungsprozessen und gesellschaftlichen Zuschreibungen. Diese Prozesse erzeugen neue soziale Strukturen, Diskurse und Herrschaftsmechanismen.
Knüpft an: Symbolischer Interaktionismus, Labeling-Ansatz, Rational-Choice-Theorie, Kriminologie, der Kriminalität als Ausdruck sozialer Ungleichheit und Machtverhältnisse interpretiert.">Kritische Kriminologie
Theorie
Die „Theorie der Kriminalität“ von Henner Hess und Sebastian Scheerer ist eine sozialkonstruktivistische allgemeine Kriminalitätstheorie, die vorhandene Teiltheorien systematisch gemäß dem soziologischen Makro-Mikro-Makro-Modell integriert und damit das Ziel verfolgt, einen theoretischen Rahmen für die Erfassung des gesamten Bereichs der „Sinnprovinz der Kriminalität“ zu formulieren.
Auf der Makro-Ebene werden zunächst soziale Widersprüche und daraus entstehende kriminalisierende Rechtssätze als Teil sozialer Kontrolle behandelt („Individuum-Gesellschaft-Problem“ und „Widerspruch zwischen Herrschendem und Beherrschtem“ als Interessengegensätze einerseits sowie Normsetzungs- und Sanktionsmonopol der Ordnungsinstanzen andererseits).
Diese Makro-Ebene ist der Rahmen für menschliches Handeln auf der Mikro-Ebene, u. a. für solches, das als Abweichung und Kriminalität definiert und verstanden wird. Um dieses Handeln zu erklären, wird die Vielzahl der im engeren Sinne kriminologischen Hypothesen in einen vor allem am interaktionistischen Karriere-Modell von Hess (und damit am Zusammenhandeln von Tätern und Kontrolleuren orientierten) systematischen Zusammenhang gebracht. Wiederum auf der Makro-Ebene wird dann gezeigt, wie die Masse von kriminellen und kontrollierenden Einzelhandlungen auf der Mikro-Ebene neue Makro-Phänomene generiert (illegale Märkte, Kriminalstatistiken und -raten, Kriminalitäts- und Kontrolldiskurse), die ihrerseits als so konstruiertes Phänomen der „Kriminalität“ gesamtgesellschaftliche Funktionen der Konsensherstellung (Triebentlastung, Grenzbestimmung bzw. Normstärkung) und der Herrschaftsstabilisierung erfüllen.
Anwendungsbeispiel: Migration und Kriminalitätsdiskurse
Nach Hess und Scheerer entstehen Kriminalitätsphänomene nicht einfach aus objektiven Gefährdungen, sondern durch gesellschaftliche Deutungsprozesse. Die Zuschreibung „krimineller Ausländer“ etwa ist weniger Ergebnis empirischer Kriminalitätsbelastung als vielmehr ein Produkt sozialer Widersprüche, politischer Interessen und medialer Diskurse. Diese Zuschreibungen stabilisieren bestehende Machtverhältnisse und verstärken soziale Ausschlüsse.
Kriminalpolitische Implikationen
Die allgemeine sozialkonstruktivistische Kriminalitätstheorie impliziert keine konkreten kriminalpolitischen Programme. Nach Scheerer sei es wichtiger, eine wahre und allgemeingültige Theorie zu entwickeln als eine solche, die ein bestimmtes kriminalpolitisches Postulat vertritt und die dann leicht der Versuchung verfällt, all jene theoretischen Komponenten auszublenden, die gegen dieses Postulat sprechen könnten.
Die Betonung der fortwährenden individuellen Möglichkeit, sich trotz prägender äußerer Einflüsse auch immer gegen diese entscheiden zu können, erinnert zwar etwas an den in den rationalen Theorien postulierten freien Willen des Menschen und die damit verbundenen Abschreckungstheorien, jedoch unterstreichen Hess und Scheerer die auch über die strafrechtliche Sanktion hinausgehende Entscheidungsfreiheit des Einzelnen, also die Idee, dass ein jeder auch trotz oder gerade aufgrund von Abschreckung sich für die Handlung, vor der eigentlich abgeschreckt werden soll, entscheiden kann.
Kritische Würdigung / Aktualitätsbezug
Hess‘ und Scheerers Modell kann als erfolgreicher Versuch, Kriminalität in seiner Gesamtheit konzeptuell zu erklären, gewürdigt werden. Sowohl die gängigen Kriminalitätstheorien der letzten hundert Jahre als auch die Labeling- und Machtperspektiven der 60er und 70er Jahre sowie auch der rationale, willensfreie Ansatz werden erstmals in ein- und dasselbe Modell integriert.
Verhältnis zur Kritischen Kriminologie
Die sozialkonstruktivistische Kriminalitätstheorie knüpft an die Kritische Kriminologie an, geht jedoch methodisch differenzierter vor. Während klassische kritische Ansätze oft normative Forderungen (z.B. vollständige Entkriminalisierung) in den Vordergrund stellen, konzentrieren sich Hess und Scheerer auf eine wertfreie Analyse der gesellschaftlichen Mechanismen, durch die Kriminalität als soziale Kategorie produziert und aufrechterhalten wird.
Die sozialkonstruktivistische Kriminalitätstheorie bietet somit Raum zur Erklärung aller Phänomene, die ihren sozialen Sinn von der Kategorie des crimen erhalten. Sie ermöglicht auch die Suche nach Eigendynamiken und Wechselwirkungen von Elementen innerhalb dieser Sinnprovinz sowie zwischen der Sinnprovinz der Kriminalität und ihrer Umwelt. Zugleich kann sie der Generierung neuer Fragestellungen und der Neuentwicklung von Einzeltheorien zu abgrenzbaren Fragen dienen.
Bemerkenswert an der sozialkonstruktivistischen Kriminalitätstheorie ist ihre methodische Reflexivität: Hess und Scheerer betonen, dass auch wissenschaftliche Erklärungsmodelle selbst Teil sozialer Konstruktionen sind und kritisch hinterfragt werden müssen. Damit schließt sich der Reflexionskreis der Theorie konsequent selbst ein.
Literatur
- Hess, H.; Scheerer, S. (2004). Theorie der Kriminalität. Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie. Sonderheft 43: Kriminalsoziologie, herausgegeben von S. Karstedt/D. Oberwittler. S. 69-92.
- Hess, H.; Scheerer, S. (2014). Theorie der Kriminalität. In: H. Schmidt-Semisch & H. Hess (Hrsg.). Die Sinnprovinz der Kriminalität. Zur Dynamik eines sozialen Feldes. Wiesbaden: Springer. S. 17-46.