Crime as Structured Action (1993) ist ein wegweisendes Werk des US-amerikanischen Kriminologen James W. Messerschmidt, das Kriminalitätstheorie und Geschlechtersoziologie – insbesondere die Männlichkeitsforschung – miteinander verknüpft. Im Zentrum steht die These, dass kriminelles Verhalten eine Strategie zur Herstellung von Männlichkeit sein kann, wenn gesellschaftlich akzeptierte Wege zur hegemonialen Männlichkeit versperrt sind. Messerschmidt entwickelt eine Theorie, die sowohl strukturell als auch interaktionistisch argumentiert: KriminalitätKriminalität bezeichnet gesellschaftlich normierte Handlungen, die gegen das Strafgesetz verstoßen. ist kein rein individuelles Handeln, sondern Ausdruck sozialer Bedingungen und Ungleichheiten.
Merkzettel
Crime as Structured Action – James W. Messerschmidt
Autor: James W. Messerschmidt
Erstveröffentlichung: 1993
Land: USA
DisziplinDisziplin bezeichnet ein System der Verhaltensregulierung durch Überwachung, Kontrolle und körperliche bzw. geistige Dressur.: KriminologieKriminologie ist die interdisziplinäre Wissenschaft über Ursachen, Erscheinungsformen und gesellschaftliche Reaktionen auf normabweichendes Verhalten. Sie untersucht insbesondere Prozesse sozialer Kontrolle, rechtliche Rahmenbedingungen sowie individuelle und strukturelle Einflussfaktoren., Geschlechtersoziologie
Zentrale Begriffe: Structured Action, hegemoniale Männlichkeit, GenderGender bezeichnet das soziale Geschlecht und umfasst die kulturellen, sozialen und psychologischen Zuschreibungen, die mit Männlichkeit und Weiblichkeit verbunden sind. Performance
Verwandte Theorien: Hegemoniale Männlichkeit (Connell), Feministische Kriminologie, Intersektionale Kriminologie
Strukturierte Handlung und Männlichkeit
Im Zentrum von Messerschmidts Theorie steht das Konzept der strukturierten Handlung (structured action). Es beschreibt soziale Praktiken – einschließlich krimineller Handlungen – als Ergebnis eines Wechselspiels zwischen sozialen Strukturen (z. B. Klasse, Geschlecht, Ethnizität) und individuellem Handeln. Menschen handeln nicht völlig frei, sondern innerhalb gesellschaftlicher Rahmenbedingungen – sie gestalten jedoch aktiv ihre Handlungsstrategien.
Messerschmidt greift den Begriff der hegemonialen Männlichkeit nach R. W. Connell auf. Diese beschreibt das kulturelle Leitbild von „richtiger“ Männlichkeit, das mit Autorität, ökonomischem Erfolg, Heterosexualität und emotionaler Kontrolle verknüpft ist. Für viele Männer – insbesondere jene mit prekären Lebensbedingungen – bleiben diese Ideale unerreichbar. In solchen Fällen kann Kriminalität zur symbolischen Praxis werden, um Männlichkeit zu behaupten. Gewalt, DelinquenzDelinquenz beschreibt die Neigung, strafbare Handlungen zu begehen. oder riskantes Verhalten dienen dann als Mittel zur Kompensation versperrter Anerkennungspfade.
Hegemoniale Männlichkeit
Definition: Die hegemoniale Männlichkeit ist das gesellschaftlich dominante Ideal von Männlichkeit, das die soziale Vorherrschaft von Männern über Frauen und über andere Männlichkeiten legitimiert.
Ursprung: Entwickelt von der Soziologin R. W. Connell in den 1980er Jahren.
Kernmerkmale: AutoritätAutorität bezeichnet anerkannte, legitime Macht, die auf Zustimmung und Vertrauen basiert., Heterosexualität, Selbstbeherrschung, physische Stärke und Wettbewerbsorientierung.
Relevanz für die Kriminologie: Messerschmidt nutzt den Begriff, um zu zeigen, wie Kriminalität als Mittel zur Herstellung von Männlichkeit dienen kann – insbesondere bei marginalisierten Gruppen.
Kritik: Das Konzept wurde später um intersektionale und globale Perspektiven erweitert.
Gender als performative Praxis
Messerschmidt argumentiert, dass Geschlecht nicht einfach gegeben ist, sondern sozial hergestellt („getan“) wird – ein Konzept, das an Judith Butler anschließt. Kriminalität kann somit als performative Inszenierung von Männlichkeit verstanden werden. In Jugendgangs etwa wird Hypermaskulinität durch Gewalt, Revierverhalten oder sexuelle Dominanz demonstriert. Diese Inszenierungen sind stets kontextabhängig und an subkulturelle NormenVerhaltensregeln und Erwartungen, die innerhalb einer Gesellschaft oder sozialen Gruppe als verbindlich gelten. gebunden.
Intersektionalität
Ein besonderes Verdienst von Messerschmidt liegt in der Verbindung von Geschlecht, Klasse, Ethnizität und Sexualität. Männlichkeit zeigt sich nicht einheitlich, sondern variiert je nach sozialer Position. Weiße Mittelschichtsmänner z. B. können durch Wirtschaftskriminalität Dominanz ausüben, während Männer aus benachteiligten Communities auf Straßenkriminalität zurückgreifen. Diese Perspektive erlaubt eine differenzierte Analyse geschlechtsspezifischer Devianzpfade.
Fallbeispiele
- Akademisches Schummeln oder sexistische Praktiken weißer Mittelstandsjugendlicher zur Machtdemonstration in der Schule
- Kneipenschlägereien oder häusliche Gewalt bei Arbeiterklasse-Männern zur (Re-)Etablierung männlicher Autorität
- Gang-Gewalt und kriminelle Unternehmungen junger Männer in marginalisierten Stadtvierteln als Mittel zur Erlangung von Respekt
Rezeption und Weiterentwicklung
Crime as Structured Action hatte großen Einfluss auf die kritische Kriminologie und die Geschlechterforschung. Das Werk widerspricht biologisch-essenzialistischen Theorien und zeigt: Männlichkeit ist sozial hergestellt – und Kriminalität ein möglicher Ausdruck dieser Herstellung. Spätere Werke wie Masculinities and Crime (1995) und Hegemonic Masculinity: Formulation, Reformulation, and Amplification (2016) vertiefen diese Ansätze.
Verbindungen zu anderen Theorien
Feministische Kriminologie: Wie Heidensohn oder Carlen richtet Messerschmidt den Fokus auf Geschlecht – erweitert aber die feministische Perspektive um eine differenzierte Analyse von Männlichkeitskonstruktionen.
Power-Control-Theorie: In Anlehnung an John Hagans Theorie betont Messerschmidt die Bedeutung familialer und institutioneller Kontrolle für geschlechtsspezifische Delinquenzmuster.
Cultural CriminologyCultural Criminology ist ein kriminologischer Ansatz, der Kriminalität und soziale Kontrolle als kulturell geprägte Phänomene versteht und analysiert. Im Fokus stehen die Bedeutungen, Symbole und gesellschaftlichen Diskurse, die Kriminalität umgeben.: Die Idee, dass Kriminalität performativ und symbolisch ist, verbindet Messerschmidt mit der Cultural Criminology. Hier wie dort wird DevianzVerhalten, das in einer Gesellschaft als unangemessen, abweichend oder regelverletzend gilt – unabhängig davon, ob es strafrechtlich relevant ist. als identitätsstiftende Praxis unter Bedingungen sozialer Ausgrenzung verstanden.
Intersektionale Kriminologie: Messerschmidts Ansatz lässt sich als früher Beitrag zur intersektionalen Kriminologie lesen. In ähnlicher Weise wie die Queer Criminology kritisiert er die normativen Grundannahmen traditioneller KriminalitätstheorienWissenschaftliche Ansätze, die versuchen, Ursachen und Bedingungen für kriminelles Verhalten zu erklären..
Messerschmidts Theorie zeigt, dass Geschlecht nicht als „Variable“, sondern als sozial hergestellte Kategorie verstanden werden muss – mit direkter Relevanz für das Verständnis krimineller Handlungen.
Literatur
- Connell, R. W. (1995). Masculinities. Berkeley: University of California Press.
- Messerschmidt, J. W. (1993). Masculinities and Crime: Critique and Reconceptualization of Theory. Lanham: Rowman & Littlefield.
- Messerschmidt, J. W. (2016). Masculinities in the Making: From the Local to the Global. Lanham: Rowman & Littlefield.
- Heidensohn, F. (1985). Women and Crime. London: Macmillan.
- Carlen, P. (1988). Women, Crime and Poverty. Milton Keynes: Open University Press.
- Buist, C. L. & Lenning, E. (2015). Queer Criminology. New York: Routledge.
- Ferrell, J., Hayward, K., & Young, J. (2008). Cultural Criminology: An Invitation. London: SAGE.
- Hagan, J., Gillis, A. R., & Simpson, J. (1985). The Class Structure of Gender and Delinquency. American Journal of Sociology, 90(6), 1151–1178.
Video
YouTube: James Messerschmidt über Männlichkeit und Kriminalität


