Mit ihrem pointierten und zugleich kraftvollen Buch Are Prisons Obsolete? (2003) legt die US-amerikanische Aktivistin und Wissenschaftlerin Angela Y. Davis eine grundlegende Kritik am Gefängnissystem der Vereinigten Staaten vor. Davis argumentiert, dass das Gefängnis trotz seiner rassistischen, klassenbasierten und patriarchalen Fundamente zu einer normalisierten und unsichtbaren Institution geworden ist – tief eingebettet in das Gewebe moderner Gesellschaften. Sie stellt nicht nur die Legitimität von Gefängnissen infrage, sondern plädiert auch für deren Abschaffung und die Entwicklung alternativer Formen von Gerechtigkeit. Das Werk gilt als Schlüsseltext der abolitionistischen Kriminologie des 21. Jahrhunderts.
Kernaussage
Gefängnisse lösen keine sozialen Probleme, sondern reproduzieren und verschärfen sie. Sie sind Teil eines Gefängnis-industriellen Komplexes, der staatliche Gewalt, kapitalistische Profite und systemische Unterdrückung miteinander verknüpft.
Merkzettel
Angela Y. Davis – Are Prisons Obsolete?
Autorin: Angela Y. Davis
Erstveröffentlichung: 2003
Land: Vereinigte Staaten
Schlüsselthemen: Gefängnis-industrieller Komplex, Gefängnisabschaffung, Rassismus, Gender, Kapitalismus, soziale Kontrolle
Methode: Historische Analyse, Kritische Theorie, Intersektionale Perspektive
Verwandte Theorien: Abolitionismus, Kritische Rassentheorie, Feministische Kriminologie, Marxistische Kriminologie
Historischer Kontext und Motivation
Davis’ Buch entstand Anfang der 2000er-Jahre vor dem Hintergrund wachsender Inhaftierungsraten in den USA und zunehmender öffentlicher Aufmerksamkeit für die rassistische Selektivität des Strafjustizsystems. Bereits im Jahr 2000 verfügten die Vereinigten Staaten über die höchste Inhaftierungsrate weltweit – mit besonders starker Betroffenheit Schwarzer und lateinamerikanischer Bevölkerungsgruppen. Davis verbindet ihre Erfahrungen als Bürgerrechtsaktivistin mit marxistisch-feministischer Theorie, um das Gefängnis nicht als Lösung, sondern als legitimierte Form der Ausgrenzung zu entlarven.
Zentrale Argumente
1. Gefängnisse sind keine natürlichen Institutionen
Davis’ Hauptthese lautet: Gefängnisse sind weder notwendig noch unvermeidbar, sondern das Resultat historischer Entwicklungen – insbesondere der Sklaverei, des Rassismus und der kapitalistischen Verwertung. Die Strafanstalten spiegeln gesellschaftliche Machtverhältnisse wider, anstatt sie zu korrigieren.
2. Der Prison-Industrial-Complex
Davis prägt den Begriff prison-industrial complex, um die enge Verflechtung wirtschaftlicher Interessen, politischer Institutionen und des Gefängniswesens zu beschreiben. Sie zeigt auf, wie der Strafvollzug in den USA zunehmend ökonomisiert wurde: Unternehmen verdienen an Bau und Betrieb von Gefängnissen, am Einsatz von Häftlingen als billige Arbeitskräfte und an der Versorgung der Einrichtungen. Parallel dazu nutzen Politiker „Law and Order“-Rhetorik zur Wählergewinnung – oft rassistisch codiert. So entsteht ein selbstverstärkendes System, das nicht auf Kriminalität reagiert, sondern soziale Marginalität systematisch kriminalisiert.
3. Rassismus und Geschlecht im Strafvollzug
Davis analysiert das Gefängnissystem als rassistisch und geschlechterspezifisch strukturiert. Besonders Schwarze Communities seien überdurchschnittlich von Polizeigewalt, Anklage und Inhaftierung betroffen. Für Frauen – insbesondere Women of Color – sei der Weg ins Gefängnis oft geprägt von Armut, häuslicher Gewalt und struktureller Vernachlässigung. Zudem seien die Bedürfnisse inhaftierter Frauen im Strafvollzug weitgehend unsichtbar und würden durch sexualisierte Kontrolle sowie medizinische Vernachlässigung verstärkt. Davis kritisiert die Blindheit gegenüber den Geschlechterverhältnissen in herrschenden Kriminalitätsdiskursen.
4. Scheitern von Reformen
Reformbestrebungen wie Strafmaßreduzierungen oder bessere Haftbedingungen sieht Davis kritisch: Sie verlängerten lediglich die Lebensdauer des Systems und verhinderten einen grundlegenden Perspektivwechsel. Statt eines „carceral humanism“, also humanitärer Kosmetik im Strafvollzug, fordert Davis dessen Abschaffung und die Entwicklung alternativer Gerechtigkeitsformen wie Restorative Justice und Transformative Justice, die Heilung, Verantwortung und soziale Ursachen von Schaden in den Mittelpunkt rücken.
5. Historische Kontinuitäten: Das Convict-Leasing-System
Nach Abschaffung der Sklaverei wurde im Süden der USA das sogenannte Convict Lease System etabliert: Gefangene – überwiegend Schwarze Männer – wurden an private Unternehmen zur Zwangsarbeit „vermietet“. Davis zeigt auf, wie diese Praktiken sich im heutigen Gefängnissystem fortsetzen – unter anderen Vorzeichen, aber mit vergleichbarer ökonomischer Ausbeutung.
Rezeption und Kritik
Are Prisons Obsolete? wurde für seine Klarheit, politische Schärfe und Zugänglichkeit gelobt. Kritiker:innen monierten teilweise das Fehlen konkreter Alternativen oder den vermeintlichen Idealismus abolitionistischer Konzepte. Dennoch gilt das Werk als einflussreiches Grundlagenbuch der Gefängnisabschaffungsbewegung und hat Bewegungen wie Defund the Police oder Black Lives Matter entscheidend inspiriert.
Vermächtnis
Davis’ Buch zählt heute zu den meistzitierten abolitionistischen Werken weltweit. Es verbindet Rassismus-, Klassen- und Geschlechterkritik mit einer radikalen politischen Vision. Die Forderung nach Abschaffung von Gefängnissen wird nicht als Utopie verstanden, sondern als praktische Notwendigkeit – angesichts eines Systems, das Schaden nicht heilt, sondern multipliziert. Davis wird als zentrale Stimme der kritischen Kriminologie, feministischen Theorie und antikapitalistischen Bewegungen anerkannt.
Begriff erklärt: Prison-Industrial-Complex
Bezeichnung für die strukturelle Verflechtung von Wirtschaft, Politik und Strafvollzug. Analog zum militärisch-industriellen Komplex beschreibt der Begriff, wie Gefängnisse zur Quelle ökonomischen Profits und zur Methode politischer Kontrolle in kapitalistischen Gesellschaften wurden.
Fazit
Are Prisons Obsolete? ist ein eindringlicher Aufruf zur Infragestellung der Gefängnislogik. Davis zeigt, dass Strafe kein neutraler Akt ist, sondern ein politisch motiviertes Mittel zur Aufrechterhaltung von Ungleichheit. Wer die Verflechtung von Macht, Kontrolle und Widerstand verstehen will, findet in diesem Werk einen unverzichtbaren Ausgangspunkt.
Literatur
- Davis, Angela Y. (2003): Are Prisons Obsolete? New York: Seven Stories Press.
- Gilmore, Ruth Wilson (2007): Golden Gulag. Prisons, Surplus, Crisis, and Opposition in Globalizing California. Berkeley: University of California Press.
- Sudbury, Julia (2005): Global Lockdown: Race, Gender, and the Prison-Industrial Complex. New York: Routledge.
- Critical Resistance (2001): Statements and Principles of the Abolitionist Movement. [Online Resource]