Sexualdelinquenz: Begriffsklärung, Entwicklung und gesellschaftliche Relevanz
Begriffsklärung
Der Begriff Sexualdelinquenz beschreibt strafrechtlich relevante Handlungen, die gegen die sexuelle Selbstbestimmung von Personen verstoßen. Hierzu zählen Delikte wie sexueller Missbrauch, sexuelle Nötigung, Vergewaltigung, Straftaten im Zusammenhang mit Pornografie und Prostitution sowie weitere spezifische Straftatbestände. In der wissenschaftlichen Diskussion wird zwischen Sexualdelinquenz und sexueller Devianz unterschieden: Während ersteres strafrechtlich sanktionierte Handlungen beschreibt, umfasst letzteres auch sozial normabweichendes Verhalten, das nicht zwingend illegal sein muss. Beispiele hierfür sind Fetischismus oder Transvestismus, die gesellschaftlich als abweichend wahrgenommen, aber nicht strafbar sind.
In den klinischen Klassifikationssystemen ICD-10 und DSM-5 sind Begriffe wie Perversion nicht mehr enthalten. Stattdessen wird von Paraphilien gesprochen. Diese umfassen sexuelle Neigungen, die von der gesellschaftlichen Norm abweichen und in bestimmten Fällen strafrechtlich relevant werden können – etwa bei Pädophilie oder sexueller Gewalt.
Systematik des Sexualstrafrechts
Das Sexualstrafrecht ist im deutschen Strafgesetzbuch (StGB) verankert und umfasst verschiedene Deliktsgruppen, die nach ihrer Schwere und ihrem Bezug zur sexuellen Selbstbestimmung unterteilt werden. Eine Übersicht der relevanten Paragrafen:
Paragraph | Delikt | Erklärung |
---|---|---|
§ 174 StGB | Sexueller Missbrauch von Schutzbefohlenen | Straftat gegen Personen in Abhängigkeitsverhältnissen |
§ 176 StGB | Sexueller Missbrauch von Kindern | Sexuelle Handlungen an oder vor Kindern |
§ 177 StGB | Sexueller Übergriff, sexuelle Nötigung, Vergewaltigung | Gewaltanwendung oder Drohung zur Erzwingung sexueller Handlungen |
§ 181a StGB | Zuhälterei | Förderung und Kontrolle der Prostitution |
§ 182 StGB | Sexueller Missbrauch von Jugendlichen | Sexuelle Handlungen an Jugendlichen |
§ 183 StGB | Exhibitionistische Handlungen | Entblößung vor anderen Personen |
§ 183a StGB | Erregung öffentlichen Ärgernisses | Sexuelle Handlungen in der Öffentlichkeit |
§ 184 StGB | Verbreitung pornographischer Inhalte | Veröffentlichung oder Weitergabe pornographischen Materials |
§ 184b StGB | Verbreitung, Erwerb und Besitz kinderpornographischer Inhalte | Besitz oder Weitergabe von Darstellungen sexuellen Missbrauchs von Kindern |
§ 184c StGB | Verbreitung, Erwerb und Besitz jugendpornographischer Inhalte | Besitz oder Weitergabe von Darstellungen sexuellen Missbrauchs von Jugendlichen |
§ 184i StGB | Sexuelle Belästigung | unerwünschte, sexuell bestimmte körperliche Berührungen |
§ 184k StGB | Verletzung des Intimbereichs durch Bildaufnahmen | Das sog. Upskirting und Downblousing – unbefugtes Fotografieren des Intimbereichs |
Abgrenzung zwischen Belästigung, Übergriff, Nötigung und Vergewaltigung
Sexuelle Belästigung (§ 184i StGB): Umfasst sexuell bestimmte körperliche Berührungen, die vom Opfer als unerwünscht empfunden werden. Voraussetzung ist eine körperliche Berührung – verbale Anzüglichkeiten allein erfüllen den Tatbestand nicht. Beispiele sind absichtliches Streifen oder unsittliches Berühren ohne Einwilligung.
Sexueller Übergriff (§ 177 Abs. 1 StGB): Hierbei werden sexuelle Handlungen gegen den erkennbaren Willen der betroffenen Person vorgenommen. Es reicht aus, dass der Wille überwunden wird – Gewalt oder Drohungen sind nicht zwingend erforderlich. Ein Beispiel ist das Überrumpeln oder überraschende Anfassen ohne Einverständnis.
Sexuelle Nötigung (§ 177 Abs. 5 StGB): Eine schwerwiegendere Form des Übergriffs, bei der Gewalt angewendet, mit gegenwärtiger Gefahr für Leib oder Leben gedroht oder eine schutzlose Lage ausgenutzt wird. Beispiele sind Festhalten, Bedrohung mit körperlicher Gewalt oder Erpressung mit kompromittierenden Fotos.
Vergewaltigung (§ 177 Abs. 6 StGB): Eine besonders schwere Form der sexuellen Nötigung, die eine Penetration umfasst (vaginal, anal oder oral). Hierbei kommen Gewalt, Drohung oder das Ausnutzen einer schutzlosen Lage zum Einsatz, um den Willen des Opfers zu brechen.
Die Abgrenzung erfolgt im Wesentlichen über den Einsatz von Gewalt, das Maß der sexuellen Nötigung und die Schwere der sexuellen Handlung. Wiederholte Belästigungen können sich in einen Übergriff steigern, während Vergewaltigung eine spezifische Form der Penetration beinhaltet.
Infobox: Nacktheit, Erregung öffentlichen Ärgernisses und exhibitionistische Handlungen
Nacktheit im öffentlichen Raum: Grundsätzlich nicht strafbar, solange keine sexuelle Handlung oder öffentliche Belästigung vorliegt. An FKK-Stränden oder abgeschiedenen Seen ist Nacktheit legal.
§ 183a StGB – Erregung öffentlichen Ärgernisses: Strafbar ist eine sexuelle Handlung in der Öffentlichkeit, die absichtlich ein öffentliches Ärgernis erregt. Beispiel: Selbstbefriedigung im Park oder sexuelle Handlungen im Auto an einem öffentlichen Parkplatz.
§ 183 StGB – Exhibitionistische Handlungen: Hierbei handelt es sich um das Zurschaustellen der Geschlechtsteile mit dem Ziel der sexuellen Erregung, ausgelöst durch die Reaktion der beobachtenden Personen. Wichtig: § 183 StGB gilt nur für Männer. Frauen können in solchen Fällen nur nach § 183a StGB belangt werden.
Die Abgrenzung erfolgt im Wesentlichen über die Intention und den Kontext der Nacktheit: Ist es rein natürlich (z. B. FKK) oder sexuell aufgeladen (z. B. Exhibitionismus)?
Entwicklungen im Sexualstrafrecht
Gesetzesreformen im Kontext gesellschaftlicher Entwicklungen
Das Sexualstrafrecht hat sich im Laufe der letzten Jahrzehnte stark gewandelt. Die Reformen reflektieren nicht nur gesetzliche Anpassungen, sondern auch tiefgreifende gesellschaftliche Werteveränderungen und ein gestiegenes Bewusstsein für die Rechte der Opfer. Diese Entwicklungen sind eng mit sozialen Bewegungen, feministischen Aktivismus und einer zunehmenden Liberalisierung sexueller Normen verknüpft.
Historische Meilensteine der Reformen
-
1976: Reform des § 218 StGB (Schwangerschaftsabbruch). Diese Reform war eng mit der Frauenbewegung der 1970er Jahre verknüpft, die sich für das Recht auf körperliche Selbstbestimmung einsetzte. Die Selbstbezichtigungs-Kampagne „Wir haben abgetrieben!“ (1971) gilt als Schlüsselereignis für die Enttabuisierung des Themas.
-
1994: Aufhebung des § 175 StGB (Entkriminalisierung homosexueller Handlungen zwischen Männern). Die Aufhebung dieses Paragrafen steht im Kontext einer zunehmenden Akzeptanz von LGBTQ+-Rechten und der Liberalisierung der Sexualmoral in Deutschland.
-
1997: Erweiterung des § 177 StGB um Vergewaltigung in der Ehe und geschlechtsneutrale Formulierungen. Bis dahin galt Vergewaltigung in der Ehe nicht als Straftatbestand. Die Reform wurde maßgeblich von feministischen Bewegungen beeinflusst, die auf das Machtgefälle in intimen Beziehungen hinwiesen.
-
2016: Reform des § 177 StGB („Nein heißt Nein“), Einführung des Straftatbestands der sexuellen Belästigung (§ 184i StGB). Die Gesetzesverschärfung war eine Reaktion auf gesellschaftlichen Druck nach der Kölner Silvesternacht 2015 und der #MeToo-Bewegung, die eine breite Diskussion über sexualisierte Gewalt und Übergriffe auslöste.
Soziologische Perspektiven auf die Reformen
Die beschriebenen Gesetzesänderungen sind nicht isoliert zu betrachten, sondern Ausdruck eines gesellschaftlichen Wandels. Feministische Theorieansätze betonen die Notwendigkeit einer rechtlichen Gleichstellung und der Bekämpfung struktureller Gewalt gegen Frauen. So wird die Definition von Vergewaltigung als Ausdruck patriarchaler Machtverhältnisse gewertet, während Reformen wie das „Nein heißt Nein“-Prinzip die sexuelle Selbstbestimmung in den Vordergrund stellen.
Symbolischer Interaktionismus erklärt den gesellschaftlichen Wandel auch durch veränderte Deutungen und Bedeutungen von Konsens und sexuellen Übergriffen. Was früher als „private Angelegenheit“ betrachtet wurde (z. B. Vergewaltigung in der Ehe), wird heute als Verletzung der sexuellen Selbstbestimmung anerkannt und strafrechtlich verfolgt.
Die Liberalisierung im Bereich der LGBTQ+-Rechte (Aufhebung von § 175 StGB) ist Ausdruck einer gesamtgesellschaftlichen Öffnung und eines gestiegenen Bewusstseins für Diversität und Gleichberechtigung.
Mediale und gesellschaftliche Debatten
Mediale Großereignisse wie die Kölner Silvesternacht 2015 und die #MeToo-Bewegung haben maßgeblich zur Sensibilisierung der Öffentlichkeit beigetragen. Beide Ereignisse führten zu einem öffentlichen Diskurs über sexuelle Gewalt und die Notwendigkeit schärferer Gesetze. Die Einführung des § 184i StGB (sexuelle Belästigung) sowie die Reform des § 177 StGB („Nein heißt Nein“) sind direkte Folgen dieses gesellschaftlichen Diskurses.
Infobox: Die #MeToo-Bewegung
Georges Biard, CC BY-SA 3.0, via Wikimedia Commons
Die #MeToo-Bewegung entstand im Oktober 2017, als die US-amerikanische Schauspielerin Alyssa Milano auf Twitter dazu aufrief, Erfahrungen mit sexueller Belästigung und Übergriffen öffentlich zu machen. Der Hashtag #MeToo verbreitete sich rasend schnell und brachte weltweit Millionen von Frauen (und Männern) dazu, ihre Geschichten zu teilen.
Der Anlass war der Missbrauchsskandal um den Filmproduzenten Harvey Weinstein, der jahrzehntelang Frauen sexuell missbraucht und belästigt haben soll. Durch die globale Resonanz entwickelte sich die Bewegung zu einem Symbol gegen sexualisierte Gewalt, Machtmissbrauch und geschlechtsspezifische Ungleichheit.
In Deutschland führte die #MeToo-Debatte zu einem neuen öffentlichen Bewusstsein für sexualisierte Gewalt und hatte unmittelbare Auswirkungen auf das Sexualstrafrecht, insbesondere auf die Reform des § 177 StGB („Nein heißt Nein“).
Die Bewegung gilt als gesellschaftlicher Katalysator für eine intensivere Debatte über sexuelle Gewalt, Konsens und Machtstrukturen, insbesondere in beruflichen und sozialen Kontexten.
Film-Tipp: Jeffrey Epstein – Filthy Rich (Netflix)
Aktuelle Entwicklungen und Reformbestrebungen
Derzeit werden in der politischen und gesellschaftlichen Debatte Forderungen nach der Kriminalisierung von verbaler sexueller Belästigung (Catcalling) diskutiert. Auch der Bereich der digitalen Übergriffe (z. B. „Cyber-Flashing“ und Revenge Porn) rückt zunehmend in den Fokus rechtspolitischer Überlegungen.
Statistische Erfassung von Sexualdelikten
In der polizeilichen Kriminalstatistik (PKS) werden Sexualdelikte als eigene Deliktsgruppe ausgewiesen. Obwohl sie nur einen geringen Anteil an der Gesamtkriminalität ausmachen, wird ihnen gesellschaftlich und medial eine hohe Aufmerksamkeit beigemessen. Besonders Delikte wie Vergewaltigung und sexueller Missbrauch lösen starke öffentliche Reaktionen aus. Die Diskrepanz zwischen Hell- und Dunkelfeld ist hierbei besonders groß. Dunkelfeldstudien, wie die SKiD 2020, zeigen, dass viele sexuelle Übergriffe nicht angezeigt werden.
Signal Crimes: Sexualdelikte gelten als sogenannte Signal Crimes, die in der öffentlichen Wahrnehmung besondere Bedeutung haben und das subjektive Kriminalität und Gefahren geschützt zu sein.">Sicherheitsgefühl stark beeinflussen (Innes 2004).
Phänomene der Sexualdelinquenz
Neben den klassischen Delikten gewinnen neue Phänomene wie Cyber-Grooming zunehmend an Bedeutung. Cyber-Grooming beschreibt die gezielte Anbahnung sexueller Kontakte mit Minderjährigen über das Internet, oft mit dem Ziel, reale Übergriffe vorzubereiten oder Missbrauchsdarstellungen zu erpressen. Seit 2015 ist Cyber-Grooming strafrechtlich im § 176b StGB verankert.
Weitere Phänomene umfassen:
- Kinderpornographie (§ 184b StGB)
- Sexualisierte Gewalt im digitalen Raum
- Sexualisierung Minderjähriger in der Popkultur
Tätertypologien und Kriminalprognose
In der Kriminologie werden verschiedene Typologien von Sexualstraftätern unterschieden. Die FBI-Typologie unterteilt Täter nach ihrem Vorgehen und ihren Motiven in Macht, Wut und sadistische Tätertypen. Rückfallprognosen wie der Sex Offender Risk Appraisal Guide (SORAG) ermöglichen eine Einschätzung des Rückfallrisikos von Tätern.
Präventive Maßnahmen wie KURS NRW zielen darauf ab, rückfallgefährdete Sexualstraftäter durch polizeiliche und justizielle Zusammenarbeit zu überwachen.
Prävention und gesellschaftliche Debatten
Die öffentliche Debatte um sexualisierte Gewalt hat durch Ereignisse wie die Kölner Silvesternacht 2015 und die #MeToo-Bewegung an Dynamik gewonnen. Parallel dazu wurden gesetzliche Verschärfungen vorgenommen, um Opfer besser zu schützen und Täter stärker zu verfolgen.
Fazit
Sexualdelinquenz bleibt ein hochsensibles Thema, das durch gesellschaftliche Normen, mediale Berichterstattung und strafrechtliche Entwicklungen stark beeinflusst wird. Die Reformen der letzten Jahrzehnte zeigen einen klaren Trend hin zu einem stärkeren Opferschutz und einem erweiterten Verständnis von sexueller Selbstbestimmung.
Video zur EUROPOL-Kampagne zum Phänomen Cyber-Grooming
Literatur und weiterführende Informationen
- BKA (2018) Polizeiliche Kriminalstatistik 2017.
- Faber, M. & Bley, R. (2020). Sexualdelikte im Wandel der Zeit. Schriftenreihe der Fachhochschule für öffentliche Verwaltung, Polizei und Rechtspflege des Landes M-V (Band 10). Güstrow: Fachhochschule für öffentliche Verwaltung, Polizei und Rechtspflege des Landes Mecklenburg-Vorpommern. Online verfügbar unter: http://www.fh-guestrow.de/doks/hochschule/Publikationen/Schriftenreihe/Band_10_2020.pdf
- Landeskriminalamt Nordrhein-Westfalen (Hrsg.) (2022). Forschungsprojekt „Sexuelle Gewalt gegen Frauen“. Polizeiliche Bearbeitung von Sexualdelikten (Teil I): Grundlagen des Teilprojektes und Ergebnisse der qualitativen Interviews Düsseldorf. https://polizei.nrw/sites/default/files/2023-01/projekt_sexuelle_gewalt_polizeiliche_sachbearbeitung_i.pdf
- Landeskriminalamt Nordrhein-Westfalen (Hrsg.) (2023). Forschungsprojekt „Sexuelle Gewalt gegen Frauen“. Polizeiliche Bearbeitung von Sexualdelikten (Teil II): Ergebnisse der Aktenanalyse und Synopse. Düsseldorf. https://lka.polizei.nrw/sites/default/files/2023-10/projekt_sexuelle_gewalt_polizeiliche_sachbearbeitung_teil2.pdf
- MiKADO Studie – Dokumentation des Forschungsprojektes Missbrauch von Kindern | Aetiologie | Dunkelfeld | Opfer
- Polizei NRW – Cybergrooming
- Röhm, Claudia (2022). ‚Die‘ Sexualstraftäter: polydelinquent oder deliktsperseverant? Tätertypologien auf Grundlage polizeilicher (Vor-)Erkenntnisse. München: Bayerisches Landeskriminalamt. Online verfügbar unter: https://www.polizei.bayern.de/mam/kriminalitaet/220504_blka_sexualstraftaeter.pdf