Women, Crime and Poverty (1988) ist eines der einflussreichsten Werke der britischen Kriminologin Pat Carlen. Auf Grundlage empirischer Forschung mit Frauen im britischen Strafvollzug entwickelt Carlen eine wegweisende feministische Kritik, die weibliche Kriminalität mit struktureller Armut, sozialer Ausgrenzung und geschlechtsspezifischen Kontrollmechanismen verknüpft. Das Buch gilt als Schlüsselwerk der feministischen Kriminologie und prägte maßgeblich die Debatten über die Schnittstellen von Geschlecht, Klasse und Kriminalität.
Merkzettel
Pat Carlen – Women, Crime and Poverty
Autorin: Pat Carlen
Erstveröffentlichung: 1988
Land: Vereinigtes Königreich
Zentrale Themen: feministische Kriminologie, Armut, soziale Ausgrenzung, geschlechtsspezifische Kontrolle, Rationalität vs. Pathologisierung
Methode: qualitative Interviews, Ethnografie, feministische Theorie
Inhalt: Carlen kritisiert traditionelle Kriminalitätstheorien, die weibliche Erfahrungen ignorieren. Auf Basis von Interviews mit inhaftierten Frauen entwickelt sie das Konzept eines „gendered penal system“ und argumentiert, dass Frauen oft nicht nur für ihre Taten, sondern auch für das Nichteinhalten patriarchaler Rollenerwartungen bestraft werden.
Verwandte Theorien: feministische Kriminologie, intersektionale Kriminologie, Kritische Kriminologie
Zentrale Annahme
Weibliches abweichendes Verhalten muss im Kontext von Armut, Ungleichheit und patriarchalen Gesellschaftsstrukturen verstanden werden. Nicht individuelle Pathologie, sondern soziale Marginalisierung und fehlende Chancen führen viele Frauen in Konflikt mit dem Gesetz.
Forschungsrahmen
Pat Carlens Werk entstand in einer Phase zunehmender feministischer Kritik an der Mainstream-Kriminologie. Women, Crime and Poverty basiert auf Feldforschung in einem britischen Frauengefängnis und enthält zahlreiche qualitative Interviews mit Frauen, die überwiegend wegen nicht-gewaltsamer und armutsbedingter Delikte inhaftiert waren. Das Buch erschien zu einer Zeit, in der die neoliberale Umstrukturierung in Großbritannien die soziale Ungleichheit verschärfte – insbesondere für Frauen aus der Arbeiterklasse.
Theoretische Perspektive und Methode
Carlen kombiniert feministische Theorie, marxistische Analyse und qualitative Forschung, um sowohl kriminologische Theorien als auch institutionelle Praktiken der Strafjustiz zu kritisieren. Ihre Herangehensweise ist zugleich empirisch und theoretisch: Sie hinterfragt systematisch gängige Annahmen über weibliche Devianz und betont die Handlungsfähigkeit von Frauen innerhalb strukturell eingeschränkter Lebensumstände.
Zentrale Argumente
Im Zentrum von Carlens Analyse steht das Argument, dass weibliche Kriminalität ohne den Bezug zu Armut und sozialer Ausgrenzung nicht verstanden werden kann. Viele der interviewten Frauen berichteten von Erfahrungen mit Gewalt, Obdachlosigkeit, prekären Arbeitsverhältnissen und staatlicher Vernachlässigung. Ihre Wege in die Kriminalität waren nicht durch bewusste Entscheidung oder „moralisches Versagen“ geprägt, sondern durch die kumulativen Folgen struktureller Ungleichheit.
Carlen führt die Konzepte des „gender deal“ und „class deal“ ein – implizite gesellschaftliche Versprechen, dass Frauen für konformes Verhalten emotionale und materielle Belohnungen erhalten. Wenn diese „Deals“ scheitern oder unerreichbar sind, wird Devianz zu einer rationalen – wenn auch verzweifelten – Handlungsoption. Die Frauen in ihrer Studie wurden vom Staat, der Familie und dem Arbeitsmarkt im Stich gelassen und kriminalisiert, weil sie außerhalb dieser Strukturen überleben mussten.
Darüber hinaus argumentiert Carlen, dass das Strafjustizsystem Frauen doppelt bestraft: für ihre Straftaten – und dafür, dass sie traditionelle Rollen als Mütter, Partnerinnen oder „respektable Frauen“ nicht erfüllen. Diese doppelte Bestrafung offenbart die tief moralische und geschlechterbezogene Natur staatlicher Strafpraktiken.
Implikationen für die Kriminalitätstheorie
Carlens Arbeit stellt die verbreitete Annahme infrage, dass kriminologische Theorien – meist anhand männlicher Fälle entwickelt – universell auf Frauen übertragbar seien. Durch die Betonung geschlechtsspezifischer Rollenerwartungen, sozialer Ausgrenzung und unterbrochener Lebensverläufe fordert sie eine theoretische Neukalibrierung der Disziplin. Ihre Konzepte des „gender deal“ und „class deal“ zeigen zugleich strukturelle Parallelen: Auch männliche Straftäter reagieren oft auf gebrochene gesellschaftliche Versprechen – wenn auch auf andere Weise.
Beispiel: Während Frauen laut Carlen aufgrund unerfüllter Versprechen von emotionaler Sicherheit und gesellschaftlicher Anerkennung (gender deal) delinquent werden, kann ein Mann aus der Arbeiterklasse, der seine Arbeit und seinen sozialen Status verliert, durch den Bruch des „class deal“ in Eigentumskriminalität abrutschen. Beide Fälle zeigen, wie unerfüllte strukturelle Erwartungen deviante Handlungen motivieren – jedoch auf geschlechtsspezifisch unterschiedliche Weise.
Rezeption und Einfluss
Women, Crime and Poverty wurde zu einem zentralen Werk der feministischen Kriminologie und hatte großen Einfluss auf wissenschaftliche und politische Debatten. Carlens Arbeit inspirierte zahlreiche Studien zur Lebensrealität inhaftierter Frauen und führte zu einer breiteren Kritik an der Kriminalisierung von Armut sowie an der Rolle des Sozialstaats.
Das Buch bereitete auch den Boden für intersektionale Ansätze in der Kriminologie, die zeigen, wie Geschlecht und Klasse gemeinsam zur Produktion von Devianz und Bestrafung beitragen. Carlens Werk ist bis heute relevant in Diskussionen über Gefängnisabschaffung, soziale Gerechtigkeit und eine geschlechtersensible Strafrechtspolitik.
Die feministische Kriminologie entstand als Kritik an der männlich dominierten Kriminalitätsforschung. Sie thematisiert nicht nur weibliche Devianz, sondern auch die strukturelle Benachteiligung von Frauen in sozialen Kontrollsystemen, im Strafrecht und in der Polizei. Schwerpunkte sind geschlechtsspezifische Überwachung, moralische Normierung, Gewalt gegen Frauen und intersektionale Ungerechtigkeiten.
Fazit
Women, Crime and Poverty von Pat Carlen ist ein kraftvolles Plädoyer für eine geschlechtergerechte Kriminologie. Das Werk zeigt, wie weibliche Kriminalität durch soziale Ungleichheit, Ausschluss und patriarchale Erwartungen geprägt ist. Indem Carlen den Stimmen inhaftierter Frauen Gehör verleiht, fordert sie die Disziplin heraus, ihre Kategorien zu überdenken und ihre blinden Flecken zu hinterfragen. Ihr Werk inspiriert bis heute feministische und kritische Kriminolog:innen, die die sozialen Bedingungen der Kriminalisierung verstehen – und verändern – wollen.
Literatur
- Carlen, Pat (1988): Women, Crime and Poverty. Milton Keynes: Open University Press.
- Heidensohn, Frances (1985): Women and Crime. London: Macmillan.
- Smart, Carol (1976): Women, Crime and Criminology. London: Routledge.
- Buist, Carrie L. / Lenning, Emily (2015): Queer Criminology. New York: Routledge.
- Davis, Angela Y. (2003): Sind Gefängnisse überholt? New York: Seven Stories Press.