Mit Surveillance Studies: An Overview legt der kanadische Soziologe David Lyon eine grundlegende Einführung in das interdisziplinäre Forschungsfeld der Überwachungsforschung vor. Lyon argumentiert, dass Überwachung kein rein technisches oder sicherheitspolitisches Phänomen ist, sondern ein zentraler Bestandteil moderner Gesellschaften. Seine Analyse verbindet klassische Theorien (etwa Foucaults Panoptismus) mit zeitgenössischen Entwicklungen wie Big Data, biometrischer Kontrolle und kommerzieller Datenverwertung.
Einordnung und Zielsetzung
David Lyon versteht Überwachung als ein grundlegendes Strukturprinzip moderner Gesellschaften, das weit über klassische Kontrollinstanzen hinausreicht. Überwachung findet nicht nur in Gefängnissen, Unternehmen oder bei der Polizei statt, sondern durchdringt zunehmend den Alltag – von Kreditkarten und Mobiltelefonen über soziale Medien bis hin zu biometrischer Identifikation.
Lyon geht es in seinem Überblickswerk darum, die Normalisierung und Veralltäglichung von Überwachung sichtbar zu machen. Anstatt Überwachung ausschließlich als repressives Mittel autoritärer Regime zu begreifen, untersucht er sie als Teil moderner Demokratien – und als ambivalente Praxis zwischen Sicherheit, Effizienz und Freiheitseinschränkung.
Aspekt | Klassische Modelle (z. B. Panoptismus) | Postmoderne Modelle (z. B. Surveillant Assemblage) |
---|---|---|
Zentraler Akteur | Staat / Disziplinarinstitution | Netzwerk aus Staat, Markt, Tech-Konzernen |
Ziel der Überwachung | Disziplinierung, Normkonformität | Risikomanagement, Prognose |
Technologie / Medium | Architektur, Akten, Videoüberwachung | Big Data, Algorithmen, Plattformen |
Beobachtungseinheit | Ganzheitliches Subjekt | Fragmentierte Datenpunkte (Data Doubles) |
Theoretische Grundlage | Foucault (Disziplinargesellschaft) | Deleuze, Lyon, Bauman (Kontrollgesellschaft) |
Merkzettel
Surveillance Studies: An Overview – David Lyon
Benjamin Mako Hill, CC BY-SA 4.0, via Wikimedia Commons
Hauptvertreter: David Lyon
Erstveröffentlichung: 2007
Land: Kanada
Zentrale Ideen / Annahmen:
- Überwachung ist ein soziales, nicht nur technisches Phänomen.
- Moderne Überwachung basiert auf digitaler Datensammlung und -verarbeitung.
- Überwachung folgt unterschiedlichen Logiken: disziplinarisch, präventiv, kommerziell.
- Überwachung verstärkt soziale Ungleichheiten und trifft marginalisierte Gruppen besonders hart.
Relevanz:
Das Werk gilt als zentrale Einführung in die Surveillance Studies und bietet einen theoretischen Rahmen zur Analyse digitaler Überwachung und polizeilicher Risikosteuerung.
Zentrale Thesen
Überwachung als soziales Phänomen
Lyon kritisiert technikdeterministische Ansätze, die Überwachung allein als Folge technischer Innovationen begreifen. Stattdessen versteht er Überwachung als soziales Verhältnis, das durch Machtasymmetrien, politische Zielsetzungen und wirtschaftliche Interessen strukturiert ist. Es geht nicht nur darum, was überwacht wird, sondern vor allem wer, von wem und zu welchem Zweck. Diese relational-soziologische Perspektive hebt Lyon deutlich von funktionalistischen oder rein juristischen Überlegungen ab.
Datenbasierte Überwachung
Im Zentrum moderner Überwachung steht für Lyon die Erfassung, Speicherung und Analyse personenbezogener Daten. Diese Prozesse erfolgen zunehmend automatisiert und algorithmisch – nicht nur durch staatliche Behörden, sondern auch durch private Unternehmen. Kreditkartenfirmen, Mobilfunkanbieter, Social-Media-Plattformen und Onlinehändler generieren und nutzen personenbezogene Daten für eine Vielzahl von Zwecken: Risikobewertung, Kundenprofilierung, personalisierte Werbung oder Zugangskontrolle.
Differenzierte Überwachungslogiken
Lyon betont, dass Surveillance nicht gleich Kontrolle bedeutet. Vielmehr unterscheidet er mehrere Logiken der Überwachung:
-
Disziplinarische Logik: Inspiriert von Michel Foucaults Analyse des Panoptismus zielt diese Form auf Verhaltenslenkung und Selbstdisziplinierung ab.
-
Präventive Logik: Im Sinne einer Risikogesellschaft (Beck) geht es hier um das Management potenzieller Gefahren – etwa durch Predictive Policing oder Scoring-Systeme.
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Kommerzielle Logik: Unternehmen nutzen Überwachung zur Maximierung von Profiten, z. B. durch datenbasierte Werbung oder Kreditwürdigkeitsprüfungen.
Soziale Ungleichheit durch Überwachung
Ein zentrales Argument Lyons ist, dass Überwachung nicht neutral, sondern selektiv ist – sie trifft bestimmte Gruppen systematisch härter. Migrant:innen, Armutsbetroffene, People of Color oder Aktivist:innen sind überproportional von Kontrolle, Datenzugriffsbeschränkungen oder Profiling betroffen. Überwachung produziert und reproduziert dadurch soziale Ungleichheit – ein Aspekt, der auch in der kritischen Kriminologie zentral ist.
Empirische Beispiele und Akteure
Lyon verweist exemplarisch auf Überwachungssysteme wie:
- Technologiekonzerne:
Google (Suchverhalten, Standortdaten),
Microsoft (E-Mail-Dienste, Betriebssysteme),
Amazon (Kaufverhalten, Empfehlungsalgorithmen),
Facebook (soziale Netzwerke, Verhaltensanalyse),
Yahoo (E-Mail, Webdienste) - Kredit- und Versicherungswirtschaft:
Schufa, Experian, Equifax (Bonitätsprüfungen, Scoring),
Versicherungen (Nutzerprofile, Risikoanalysen, Prämienberechnungen) - Sicherheits- und Biometriebranche:
CCTV- und Videoüberwachungssysteme,
biometrische Erkennungstechnologien (Gesicht, Fingerabdruck, Iris),
private Sicherheitsfirmen mit datenbasierter Risikobewertung - Staatlich-private Kooperationen:
Datenweitergabe von Fluggesellschaften (Passenger Name Records),
Zusammenarbeit sozialer Netzwerke mit Strafverfolgungsbehörden,
Zugriff staatlicher Akteure auf Kommunikationsdaten über Provider
Dabei kritisiert er die fehlende Transparenz, die geringe Rechenschaftspflicht und die technokratische Verlagerung politischer Entscheidungen in die Softwarearchitektur.
Theoretischer Rahmen
David Lyons Ansatz ist interdisziplinär. Er bezieht sich auf klassische soziologische Theorien (Foucaults Panoptismus), auf poststrukturalistische Kritik (Bauman, Deleuze), aber auch auf zeitgenössische Entwicklungen in der Informatik, Rechtsprechung und Wirtschaft. Zentral ist dabei seine These von der „surveillant assemblage“ – einem fluiden, netzwerkartigen System der Kontrolle, das nicht mehr auf einen festen Akteur (Staat, Polizei) beschränkt ist, sondern sich aus verschiedenen Quellen speist.
Begriff: Surveillant Assemblage
Kurzdefinition: Netzwerkartige, dezentralisierte Form der Überwachung, die auf die fragmentarische Erfassung, Speicherung und Re-Kombination personenbezogener Daten abzielt.
Ausführliche Erklärung: Der Begriff Surveillant Assemblage wurde von David Lyon in Anlehnung an Gilles Deleuze und Félix Guattari geprägt. Er beschreibt ein fluides, modulares System der Überwachung, das nicht mehr von einem einzelnen Akteur (z. B. dem Staat) ausgeht, sondern aus heterogenen Quellen gespeist wird – etwa von Unternehmen, Sicherheitsbehörden, digitalen Plattformen oder biometrischen Datenbanken. Ziel ist nicht die Beobachtung ganzer Personen, sondern die Erzeugung von „Daten-Doppelgängern“ (data doubles), die selektiv genutzt, kombiniert und bewertet werden können. Die Assemblage ist dabei nicht zentral gesteuert, sondern entsteht aus der Zusammensetzung technologischer, institutioneller und diskursiver Elemente.
Theoriebezug: Surveillance Studies, Poststrukturalismus, Gouvernementalitätstheorie (Foucault), Deleuze’ Begriff des Kontrollgesellschaft
Verwandte Begriffe: Panoptismus, Datafizierung, Predictive Policing, Diskretion, algorithmische Kontrolle
Kritische Perspektive
Lyon bleibt in seinem Überblickswerk kritisch: Er warnt vor der schleichenden Erosion von Datenschutz, vor unsichtbaren Machtasymmetrien und vor der Verinnerlichung von Überwachungslogiken. Gleichzeitig plädiert er für einen „reflexiven Umgang“ mit Überwachung – mit einem Bewusstsein für deren soziale Auswirkungen und politische Gestaltungsmöglichkeiten. Das Buch versteht sich auch als Beitrag zu einer demokratischen Überwachungskritik.
Relevanz für die Kriminologie
In der Kriminologie ist Lyons Werk vor allem dort bedeutsam, wo es um Fragen digitaler Kontrolle, predictive policing, biometrischer Grenzüberwachung oder algorithmischer Kriminalitätsprognosen geht. Seine Analysen liefern eine theoretische Brücke zwischen klassischen Kriminalität und abweichendes Verhalten primär durch den Grad der sozialen Kontrolle bestimmt werden. Menschen verhalten sich dann konform, wenn sie durch soziale Bindungen, Normen und innere Überzeugungen kontrolliert werden.">Kontrolltheorien (z. B. Foucault, Mathiesen) und aktuellen Entwicklungen in der Sicherheits- und Polizeiforschung. Lyon zeigt, dass Überwachung nicht nur Kontrolle bedeutet, sondern auch Ausschluss, Diskriminierung und soziale Sortierung.
Relevanz für Polizei und Strafverfolgung
Lyon liefert zentrale theoretische Grundlagen für eine kritische Auseinandersetzung mit digitaler Polizeiarbeit. Predictive Policing, biometrische Datenbanken, Netzwerkanalyse oder Bodycams sind nicht bloß neue Werkzeuge, sondern Teil einer tiefgreifenden Transformation der polizeilichen Logik. Überwachung wird zur präventiven, permanenten und entgrenzten Praxis – mit offenen Fragen zu Datenschutz, Rechtsstaatlichkeit und demokratischer Kontrolle.
Verwandte Schlüsselwerke
- Thomas Mathiesen – The Viewer Society (1997)
- Sarah Brayne – Predict and Surveil (2020)
- Bernard Harcourt – Against Prediction (2007)
- Zygmunt Bauman – Liquid Surveillance (mit David Lyon, 2013)
Erweiterungen und Fortschreibungen der Surveillance Studies seit Lyon (2007)
1. Plattformkapitalismus und Datenökonomie
Autor:innen wie Shoshana Zuboff (The Age of Surveillance Capitalism, 2019) haben die Kommerzialisierung der Überwachung in den Mittelpunkt gerückt. Zuboff argumentiert, dass Unternehmen wie Google, Facebook oder Amazon nicht nur Nutzerdaten sammeln, sondern daraus sogenannte „Verhaltensüberschussdaten“ extrahieren, die zur Vorhersage und Steuerung zukünftigen Verhaltens genutzt werden. Diese Logik geht über Lyons Konzept der kommerziellen Überwachung hinaus und beschreibt einen umfassenden „Überwachungskapitalismus“, in dem Daten zur zentralen Ressource geworden sind.
2. Künstliche Intelligenz und algorithmische Entscheidungssysteme
Neue Formen automatisierter Überwachung durch KI und maschinelles Lernen – z. B. in der Gesichtserkennung, im Predictive Policing oder im Social Scoring – erweitern die klassische Vorstellung von Datenanalyse. Diese Technologien stellen neue Herausforderungen für Transparenz, Nachvollziehbarkeit und Rechenschaftspflicht dar, wie etwa in Arbeiten von Virginia Eubanks (Automating Inequality, 2018) und Ruha Benjamin (Race After Technology, 2019) dargelegt wird.
3. Rassifizierte und soziale Ungleichheit durch automatisierte Systeme
Insbesondere intersektionale und rassismuskritische Perspektiven haben die Surveillance Studies seit 2010 stark geprägt. Forscherinnen wie Simone Browne (Dark Matters, 2015) oder Ruha Benjamin weisen auf strukturelle Verzerrungen in datenbasierten Systemen hin, etwa durch diskriminierende Trainingsdaten, algorithmische Biases oder ungleiche Betroffenheiten marginalisierter Gruppen. Diese Perspektiven ergänzen Lyons These der „sozialen Ungleichheit durch Überwachung“ um neue empirische und politische Dimensionen.
4. Digitale Souveränität und Gegenüberwachung
In Anschluss an Lyons Ausführungen zu Überwachung und Macht haben Theoretiker wie Thomas Mathiesen (The Viewer Society, 1997) und später auch Sarah Brayne (Predict and Surveil, 2020) die Rolle der Gesellschaft in der „Rücküberwachung“ (Sousveillance) untersucht. Neuere Arbeiten behandeln zudem Fragen der digitalen Selbstverteidigung, technischen Emanzipation (z. B. durch Verschlüsselung, Dezentralisierung) und zivilgesellschaftlichen Kontrolle von Überwachungspraktiken.
5. Globale Überwachung und Geopolitik
Nach den Enthüllungen von Edward Snowden (2013) wurde das Thema der staatlich-globalen Massenüberwachung (NSA, GCHQ etc.) zentral. Die Arbeiten von Glenn Greenwald oder die kritische Auseinandersetzung mit geopolitischen Datenströmen (z. B. EU–USA-Datentransfers) thematisieren neue transnationale Dimensionen der Kontrolle, die Lyon in seiner eher nationalstaatlich orientierten Analyse nur anreißt.
Fazit
David Lyons Werk ist ein Schlüsseltext der Surveillance Studies und eine zentrale theoretische Ressource für Soziologie, Kriminologie und Medienwissenschaft. Mit seinem Konzept der Überwachung als soziale Praxis schafft er eine analytische Brücke zwischen klassischen Gesellschaftstheorien und aktuellen digitalen Entwicklungen. Wer die gesellschaftlichen Implikationen moderner Überwachung verstehen will, kommt an diesem Werk nicht vorbei.
Literatur und weiterführende Informationen
- Benjamin, R. (2019). Race After Technology: Abolitionist Tools for the New Jim Code. Cambridge: Polity Press.
- Brayne, S. (2020). Predict and Surveil: Data, Discretion, and the Future of Policing. New York: Oxford University Press.
- Browne, S. (2015). Dark Matters: On the Surveillance of Blackness. Durham: Duke University Press.
- Eubanks, V. (2018). Automating Inequality: How High-Tech Tools Profile, Police, and Punish the Poor. New York: St. Martin’s Press.
- Greenwald, G. (2014). No Place to Hide: Edward Snowden, the NSA, and the U.S. Surveillance State. New York: Metropolitan Books.
- Haraway, D. (1991). Simians, Cyborgs, and Women: The Reinvention of Nature. New York: Routledge. [für frühe theoretische Zugänge zur Tech-Kritik relevant]
- Harcourt, B. E. (2007). Against Prediction: Profiling, Policing, and Punishing in an Actuarial Age. Chicago: University of Chicago Press.
- Haggerty, K. D., & Ericson, R. V. (2000). The Surveillant Assemblage. British Journal of Sociology, 51(4), 605–622.
- Lyon, D. (2007). Surveillance Studies: An Overview. Cambridge: Polity Press.
- Mathiesen, T. (1997). The Viewer Society: Michel Foucault’s “Panopticon” Revisited. Theoretical Criminology, 1(2), 215–234.
- Zuboff, S. (2019). The Age of Surveillance Capitalism: The Fight for a Human Future at the New Frontier of Power. New York: PublicAffairs.
Video
In diesem kurzen Video führt David Lyon selbst in zentrale Fragestellungen der Surveillance Studies ein und erläutert, warum Überwachung heute nicht nur ein technisches, sondern vor allem ein gesellschaftliches Problem darstellt.
Webseiten
Einen hervorragenden Überblick über die vielfältigen Themen und Forschungsarbeiten im Feld der Surveillance Studies bietet die gleichnamige Webseite von Dr. Nils Zurawski: https://www.surveillance-studies.org/