Mit seinem Werk Enforcing Order legt der französische Anthropologe und Soziologe Didier Fassin eine dichte ethnografische Studie über den Alltag der Polizei in den französischen Banlieues vor. Aufbauend auf einer mehrjährigen teilnehmenden Beobachtung innerhalb einer Brigade Anti-Criminalité (BAC) zeigt Fassin, wie die Polizei in marginalisierten Stadtvierteln als Instrument der Kontrolle und sozialen Exklusion agiert. Die Studie ist nicht nur ein kritischer Beitrag zur Polizeiethnografie, sondern zugleich eine Reflexion über Macht, Herrschaft und das Verhältnis von Staat und Gewalt.
Forschungsansatz und Kontext
Enforcing Order basiert auf einer teilnehmenden ethnografischen Beobachtung, die Fassin 2005–2007 im Süden von Paris durchgeführt hat. Der Autor begleitete eine zivil agierende Spezialeinheit, die BAC, über mehrere Monate hinweg und dokumentierte minutiös deren Einsätze, Interaktionen und Routinen. Seine zentrale Fragestellung lautet: Wie wird staatliche Autorität im Alltag durchgesetzt – und mit welchen gesellschaftlichen Implikationen?
Die beobachtete Polizeiarbeit spielt sich nahezu ausschließlich in von Armut, Migration und sozialer Marginalisierung geprägten Quartieren ab. Die Polizei agiert hier weniger als „Freund und Helfer“ denn als Repressionsmacht, deren Präsenz selten Sicherheit, aber häufig Demütigung, Kontrolle und symbolische Gewalt bedeutet.
Definition: Die BAC ist eine zivile Spezialeinheit der französischen Polizei, die für die Bekämpfung von Straßenkriminalität in städtischen Problemvierteln zuständig ist. Ihre Einsätze erfolgen meist in ziviler Kleidung, mit nicht gekennzeichneten Fahrzeugen und ohne sichtbare Polizeisymbole.
Funktion: Präventive und repressive Streifenfahrten, gezielte Personenkontrollen, Observationen und Interventionen bei mutmaßlich „auffälligem Verhalten“. Die BAC ist primär auf schnelle Reaktion und Präsenz in sogenannten quartiers sensibles ausgerichtet.
Kritik: Aufgrund ihres konfrontativen Auftretens, häufiger Gewaltanwendungen und rassifizierender Kontrollpraktiken steht die BAC regelmäßig im Zentrum von Menschenrechtsdebatten. Kritiker werfen ihr institutionellen Rassismus, exzessive Gewalt und rechtsfreie Räume im Einsatzalltag vor.
Relevanz für Fassin: Didier Fassin begleitete eine BAC-Einheit ethnografisch über mehrere Monate. In Enforcing Order zeigt er, wie sich in der alltäglichen Praxis der BAC polizeiliche Macht, soziale Kontrolle und strukturelle Ungleichheit konkret materialisieren.
Merkzettel
Didier Fassin – Enforcing Order
Hauptvertreter: Didier Fassin
Erstveröffentlichung: 2013 (engl. Ausgabe), 2011 (frz. Original)
Land: Frankreich
Zentrale Annahmen: Polizei reproduziert soziale Ungleichheit; Gewalt und Kontrolle richten sich selektiv gegen marginalisierte Gruppen; polizeiliches Handeln ist durch symbolische Macht und institutionelle Routinen geprägt.
Theoretischer Bezug: Bourdieu (symbolische Gewalt), Foucault (Macht, Disziplin), Wacquant (Raumkontrolle), Goffman (Polizeialltag als Performanz)
Zentrale Thesen
Didier Fassins ethnografische Analyse zeigt eindrucksvoll, dass polizeiliches Handeln in benachteiligten urbanen Räumen weit über die bloße Reaktion auf Kriminalität hinausgeht. Die Einsätze der BAC folgen dabei nicht primär dem Ziel, Gefahren abzuwehren oder Delikte aufzuklären, sondern reproduzieren eine spezifische soziale Ordnung, die auf der Zuschreibung und gesellschaftliche Fixierung negativer Merkmale an Einzelpersonen oder Gruppen, die zu sozialer Abwertung und Ausschluss führen.">Stigmatisierung und Kontrolle marginalisierter Gruppen beruht.
Zunächst verdeutlicht Fassin, dass polizeiliche Routinen Ausdruck symbolischer Herrschaft sind. Die tägliche Praxis der Beamten – etwa das Kontrollieren, Abdrängen, Verhören oder Demütigen von Jugendlichen – folgt keiner neutralen Logik der Rechtsdurchsetzung. Vielmehr verkörpert sie eine spezifische Form der Machtausübung, die gesellschaftliche Ungleichheiten nicht nur widerspiegelt, sondern aktiv verstärkt. Indem Polizeiakteure bestimmten Gruppen regelmäßig mit Misstrauen, Härte und Überwachung begegnen, stabilisieren sie eine soziale Hierarchie, in der Angehörige der Unterschicht, insbesondere mit Migrationshintergrund, als „Problemgruppen“ erscheinen.
Darüber hinaus stellt Fassin heraus, dass Kriminalität nicht das eigentliche Kriterium polizeilichen Handelns ist. Entscheidender ist die Regulierung von Präsenz im öffentlichen Raum – also die Frage, wer sich wann, wo und auf welche Weise aufhalten darf. Diese „Regulierung von Sichtbarkeit“ basiert auf vorstrukturierten Wahrnehmungsmustern, in denen beispielsweise junge Männer mit dunkler Hautfarbe oder markierter Kleidung als verdächtig gelten, unabhängig von ihrem tatsächlichen Verhalten. Polizeiliche Aufmerksamkeit wird dadurch nicht zufällig oder objektiv verteilt, sondern folgt einem sozialen Raster, das rassifizierte und klassenspezifische Zuschreibungen privilegiert.
Schließlich analysiert Fassin die Polizei als Produzentin von Illegalität. Dies bedeutet, dass die gesetzlich zu schützende Ordnung selbst selektiv interpretiert und durchgesetzt wird. Nicht alle Verstöße werden verfolgt, nicht alle Delikte haben dieselben Konsequenzen. Vielmehr richtet sich das Augenmerk der Polizei systematisch auf bestimmte Körper und Räume: auf männliche Jugendliche mit Migrationsbiografie, auf sozial belastete Quartiere, auf sichtbare Differenz. Indem die BAC dort permanent präsent ist, Delikte provoziert oder kleinste Regelverstöße sanktioniert, trägt sie aktiv zur Konstruktion eines „kriminellen Milieus“ bei. Die Folge ist eine Spirale aus Überwachung, Stigmatisierung und sozialer Ausgrenzung.
Theoretischer Rahmen
Fassin greift zentrale Begriffe aus der Soziologie Pierre Bourdieus auf, etwa das Konzept der symbolischen Gewalt und die Analyse des Staates als legitimer Monopolist physischer und symbolischer Gewalt. Gleichzeitig entwickelt er eine Kritik an gängigen sicherheitspolitischen Diskursen, die Kriminalität als objektive Gefahr inszenieren, ohne die sozialen Ursachen und Effekte polizeilichen Handelns zu reflektieren.
Relevanz und Rezeption
Enforcing Order hat die internationale Polizeiforschung entscheidend beeinflusst. Besonders die Verbindung ethnografischer Methode mit machtanalytischer Theorie wurde vielfach rezipiert. In der deutschen Forschung wurde das Werk u. a. in Bezug zu Loïc Wacquants Arbeiten zur neoliberalen Kriminalpolitik und zur Raumkontrolle in benachteiligten Vierteln diskutiert.
Auch in der Diskussion um institutionellen Rassismus, Racial Profiling und Polizeigewalt liefert Fassins Werk wichtige Argumente – nicht zuletzt durch seine Nähe zur Perspektive der Betroffenen, die in der Polizeiforschung häufig marginalisiert ist.
Verwandte Schlüsselwerke
- Loïc Wacquant – Bestrafen der Armen (2009)
- Michel Foucault – Überwachen und Strafen (1975)
- Robert Reiner – The Politics of the Police (2010)
- Jonathan Simon – Governing Through Crime (2007)
Weiterdenken: Filmempfehlungen – Athena (2022) und La Haine (1995)
Neben Didier Fassins ethnografischer Analyse bieten auch zwei Filme einen tiefen Einblick in die soziale Realität französischer Banlieues und die konflikthafte Beziehung zwischen Polizei und marginalisierten Jugendlichen:
Trailer zu Athena (2022)
Regie: Romain Gavras
Veröffentlichung: 2022 (Netflix)
Genre: Drama, Gesellschaftskritik
Bezug zu Fassin: Inszenierung staatlicher Gewalt, polizeiliche Eskalation, symbolische Ordnung, Ausnahmezustand
Trailer zu La Haine (1995)
Regie: Mathieu Kassovitz
Veröffentlichung: 1995
Genre: Drama, Sozialkritik
Bezug zu Fassin: Darstellung des Alltagslebens im Banlieue nach einem Fall von Polizeigewalt; zeigt Perspektive der polizeilich „Verwalteten“; Symbolbild institutioneller Stigmatisierung und urbaner Gewaltspirale
Beide Filme ergänzen Fassins theoretische Perspektive auf produktive Weise: Während *Enforcing Order* die Sicht der Polizei ethnografisch rekonstruiert, geben *La Haine* und *Athena* den Betroffenen eine Stimme – visuell, emotional und politisch aufgeladen.
Fazit
Didier Fassins Enforcing Order ist ein Schlüsselwerk der kritischen Polizeiforschung und der Kriminologie des 21. Jahrhunderts. Es macht deutlich, dass Polizei nicht nur auf gesellschaftliche Probleme reagiert, sondern selbst zur Produktion und Reproduktion sozialer Ungleichheiten beiträgt. Indem Fassin die Perspektive der beobachteten Polizisten mit den Erfahrungen der polizeilich Adressierten kontrastiert, gelingt ihm eine multiperspektivische Analyse, die den „Ordnungsvollzug“ als soziales, politisches und moralisches Projekt entlarvt.