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David Garland – The Culture of Control: Crime and Social Order in Contemporary Society (2001)

10. Juni 2025 | zuletzt aktualisiert am 10. Juni 2025 von Christian Wickert

The Culture of Control: Crime and Social Order in Contemporary Society (2001) ist eines der zentralen Werke der kritischen Kriminologie der Gegenwart. Der britische Soziologe David Garland analysiert darin den grundlegenden Wandel westlicher Straf- und Sicherheitspolitik seit den 1970er-Jahren. Seine zentrale These: Wir leben in einer Kultur der Kontrolle, die von Unsicherheit, Gesellschaft, auf Straftaten mit harten, strafenden Maßnahmen zu reagieren.">Punitivität (lat. punire = bestrafen, rächen) und institutionellem Misstrauen geprägt ist – und zugleich Ausdruck gesellschaftlicher Strukturveränderungen ist.

Inhaltsverzeichnis

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  • Gesellschaftlicher Kontext und theoretischer Rahmen
    • Kontroverse: „Nothing Works“
  • Merkzettel
    • The Culture of Control – David Garland
  • Zentrale Thesen
    • Zwölf Merkmale einer punitiven Wende
    • Beispiel: Megan’s Law
    • Empirische Erfassbarkeit: Wie misst man Punitivität?
    • Responsibilisierung und Präventionspartnerschaften
  • Relevanz für Kriminologie und Strafpolitik
    • Kulturbegriff in der Kriminologie
  • Fazit
  • Ausblick: Gibt es eine punitive Wende in Deutschland?
  • Literaturverzeichnis

Gesellschaftlicher Kontext und theoretischer Rahmen

Garlands Analyse setzt an einem historischen Kipppunkt an: Seit den 1970er-Jahren sei die liberale Nachkriegsordnung in eine neue Form des „governing crime“ übergegangen. In Großbritannien und den USA – später auch in vielen anderen westlichen Gesellschaften – habe sich ein „crisis of penal modernism“ entwickelt: Der Glaube an Resozialisierung, Individualisierung und sozialstaatliche Integration verlor an Rückhalt. Stattdessen etablierten sich neue Strategien von Abschreckung, Sicherheitsproduktion und Risikomanagement.

Garlands Analyse ist anschlussfähig an Michel Foucaults Gouvernementalitätsansatz: Strafpolitik erscheint nicht nur als Zwangsinstrument, sondern als Teil umfassender Rationalitäten der Bevölkerungssteuerung, in denen Selbstverantwortung, Risiko und Kontrolle ineinandergreifen.

Kontroverse: „Nothing Works“

In den 1970er-Jahren veröffentlichte der US-amerikanische Kriminologe Robert Martinson eine einflussreiche Metastudie zur Wirksamkeit von Resozialisierungsprogrammen in US-Gefängnissen. Das Ergebnis war ernüchternd: Die meisten Maßnahmen hätten keinen messbaren Effekt auf Rückfallquoten. Seine Schlussfolgerung – später von ihm selbst relativiert – lautete: „Nothing works.“

Diese These wurde von Medien, Politik und Öffentlichkeit vielfach aufgegriffen und trug maßgeblich zur Delegitimierung rehabilitativer Strafkonzepte bei. Statt auf Resozialisierung zu setzen, verlagerte sich die Strafpolitik in den USA und Großbritannien zunehmend auf Abschreckung, Verwahrung und Kontrolle. Garlands Konzept der „Culture of Control“ ist ohne diese Debatte nicht denkbar – sie markiert einen Wendepunkt in der Geschichte der Strafpolitik.

Garland verbindet diese Entwicklung mit tiefgreifenden gesellschaftlichen Wandlungsprozessen: dem wirtschaftlichen Strukturwandel, der Krise des Wohlfahrtsstaates, zunehmender sozialer Ungleichheit und veränderten Governance-Formen. Er begreift Strafe nicht als isoliertes rechtliches Instrument, sondern als kulturelles Ausdrucksmedium, das Rückschlüsse auf gesellschaftliche Machtverhältnisse und politische Rationalitäten zulässt.

Merkzettel

The Culture of Control – David Garland

Hauptvertreter: David Garland
Erstveröffentlichung: 2001
Land: Großbritannien / USA
Idee/Annahme: Wandel von einer sozialstaatlich geprägten Strafpolitik hin zu einer Kultur der Kontrolle, die Unsicherheit verwaltet, Risiken prognostiziert und Punitivität als gesellschaftliche Antwort auf Kontrollverlust inszeniert.
Zentrale Begriffe: Kultur der Kontrolle, Punitivität, Risikogesellschaft, responsibilizing strategies, Mass Incarceration
Verwandte Theorien: Harcourt, De Giorgi, Wacquant, Foucault

Zentrale Thesen

David Garland beschreibt den Aufstieg einer neuen Strafkultur, die sich durch eine Kombination aus Kontrolltechnologien, öffentlicher Punitivität und individualisierender Verantwortungspolitik auszeichnet. Die liberale Strafpolitik der Nachkriegszeit – geprägt durch Resozialisierung, professionelle Disziplinen und sozialstaatliche Hilfen – wurde im Kontext gesellschaftlicher Transformationsprozesse untergraben.

An ihre Stelle tritt eine „Culture of Control“, die sich durch folgende Elemente auszeichnet:

  • Punitivität (Straflust): Strafverschärfungen, Law-and-Order-Rhetorik, populistisches Strafbedürfnis
  • Risk Governance: Identifizierung, Prognose und Management von Gefährdungspotenzialen
  • Responsibilization: Verschiebung der Verantwortung für Sicherheit auf Bürger, Familien, Nachbarschaften
  • Technokratische Kontrolle: Einsatz von Predictive Policing, actuarial justice, CCTV
  • Mass Incarceration: exponentieller Anstieg der Gefangenenzahlen – vor allem in den USA

Zwölf Merkmale einer punitiven Wende

Garland identifiziert zwölf charakteristische Merkmale dieser neuen Strafkultur:

  1. Niedergang der Resozialisierung (Rehabilitative Strafziele treten zunehmend in den Hintergrund zugunsten von Verwahrung, Abschreckung und öffentlicher Sicherheit)
  2. Wiederkehr „primitiver“ Sanktionen und expressiver Justiz (z. B. lebenslange Freiheitsstrafen ohne Bewährung, Einführung von Mindeststrafen wie mandatory minimum sentencing, pauschale Strafverschärfungen im Sinne einer „symbolischen Gerechtigkeit“)
  3. Wandel des emotionalen Tons in der Kriminalpolitik (zunehmende Rhetorik der „harten Hand“, Übergang vom Bürger- zum Feindbildstrafrecht, militarisierte Kampagnen wie der War on Drugs)
  4. Rückkehr des Opfers (Opferinteressen rücken ins Zentrum der Strafrechtsdebatte, z. B. durch Gesetze wie Megan’s Law; Strafen werden zunehmend mit Blick auf Genugtuung und symbolische Repräsentation von Opferansprüchen legitimiert)
  5. Schutz vor vs. Schutz durch den Staat (Verschiebung des staatlichen Selbstverständnisses: Nicht mehr Freiheitsrechte gegenüber dem Staat stehen im Vordergrund, sondern die Erwartung an umfassenden Schutz durch den Staat – auch auf Kosten individueller Rechte)
  6. Politisierung und Populismus (Kriminalität wird zum politischen Dauerthema, parteiübergreifender Strafverschärfungs-Konsens, Entmachtung wissenschaftlicher Expertise zugunsten populistischer Maßnahmen und medialer Empörungslogiken)
  7. Renaissance des Gefängnisses (massiver Anstieg der Inhaftierungsraten, insbesondere in den USA, Ausbau von Haftkapazitäten und Privatgefängnissen, exemplarisch etwa durch die Three Strikes Laws)
  8. Transformation der Kriminologie (Verschiebung von strukturell-gesellschaftlichen Erklärungsansätzen hin zu individualisierenden und behavioristischen Modellen der Täterforschung)
  9. Ausbau kriminalpräventiver Maßnahmen und kommunaler Sicherheitspolitik (z. B. Public Private Partnerships, Sicherheitspartnerschaften, Einführung lokaler Präventionsräte und quartiersbezogener Überwachungsstrategien)
  10. Zivilgesellschaftliche und kommerzielle Akteure in der Verbrechenskontrolle (zunehmender Einfluss nicht-staatlicher Akteure wie private Sicherheitsdienste, Bürgerwehren, kommerzielle Anbieter von Überwachungstechnologien)
  11. Neue Managementmethoden der Verbrechenskontrolle (Etablierung von Erfolgskennziffern für Polizei und Justiz, z. B. CompStat in New York, flächendeckende Zero-Tolerance-Strategien und Output-Orientierung öffentlicher Sicherheitsbehörden)
  12. Permanentes Krisenbewusstsein (Aufrechterhaltung eines latenten Ausnahmezustands durch mediale Skandalisierung, ständige Gesetzesverschärfungen und politisch inszenierte „Bedrohungsszenarien“)

Während einige dieser Merkmale (z. B. Punitivität, expressive Justiz oder Mass Incarceration) auf eine autoritärere Kontrolle hinweisen, verweist Garland auch auf alternative Entwicklungen – insbesondere in Form adaptiver Strategien, wie sie in kommunalen Präventionsansätzen sichtbar werden.

Beispiel: Megan’s Law

Megan’s Law ist eine US-amerikanische Gesetzgebung, die 1996 auf Bundesebene eingeführt wurde – benannt nach Megan Kanka, einem siebenjährigen Mädchen, das 1994 von einem mehrfach vorbestraften Sexualstraftäter ermordet wurde. Das Gesetz verpflichtet Behörden dazu, Informationen über verurteilte Sexualstraftäter öffentlich zugänglich zu machen.

Megan’s Law steht exemplarisch für die punitive Wende der 1990er-Jahre: Strafrechtliche Maßnahmen wurden zunehmend unter dem Primat des Opferschutzes und der Risikoprävention gestaltet. Die emotionale Aufladung einzelner Fälle diente als Legitimationsbasis für pauschale Überwachung, Registrierung und öffentliche Zuschreibung und gesellschaftliche Fixierung negativer Merkmale an Einzelpersonen oder Gruppen, die zu sozialer Abwertung und Ausschluss führen.">Stigmatisierung ganzer Tätergruppen. Kritiker:innen weisen darauf hin, dass solche Gesetze zwar symbolische Sicherheit erzeugen, aber kaum präventive Wirkung entfalten – und gleichzeitig rechtsstaatliche Prinzipien wie Verhältnismäßigkeit und Resozialisierung untergraben.

Empirische Erfassbarkeit: Wie misst man Punitivität?

Die von Garland beschriebene „Kultur der Kontrolle“ lässt sich nicht nur theoretisch fassen, sondern auch empirisch untersuchen. Eine systematische Operationalisierung bieten sozialwissenschaftliche Studien, die Punitivität als messbare gesellschaftliche Größe erfassen wollen.

Ein verbreiteter Vorschlag stammt aus der kritischen Kriminologie (Lautmann & Klimke, 2004) und unterscheidet mehrere Ebenen der Analyse:

  • Individuelle Ebene: Strafwünsche und Anzeigeverhalten der Bevölkerung (z. B. Umfrageergebnisse zu Strafschärfe oder Bereitschaft zur Anzeigenerstattung)
  • Gesellschaftliche Ebene: Medienberichterstattung über Kriminalität sowie sicherheitspolitische Aussagen in Wahlprogrammen und öffentlichen Debatten
  • Justizielle Ebene: Anklageverhalten der Staatsanwaltschaften, Urteilspraxis, Strafmaß und Entwicklung der Gefangenenzahlen
  • Exekutive Ebene: Polizeiliche Eingriffstiefe, Umfang technischer Überwachung, Struktur des Strafvollzugs (z. B. Hochsicherheitsgefängnisse, Hafterleichterungen)
  • Legislative Ebene: Einführung neuer Straftatbestände, Strafverschärfungen und Gesetzesbegründungen (z. B. Three Strikes Laws, Megan’s Law, Truth in Sentencing)

Diese Indikatoren ermöglichen eine differenzierte Betrachtung des kulturellen und politischen Klimas im Umgang mit Devianz. Sie zeigen, dass sich Punitivität nicht allein in Gefängniszahlen oder Gesetzesverschärfungen ausdrückt, sondern als vielschichtige gesellschaftliche Dynamik verstanden werden muss – in enger Verzahnung mit Medien, Politik und Sicherheitsinstitutionen.

Responsibilisierung und Präventionspartnerschaften

Ein zentrales Unterscheidungsmerkmal in Garlands Analyse liegt in der Differenzierung zwischen einer adaptiven Strategie und einer Strategie souveräner Staatlichkeit. Während Letztere auf verstärkte Kriminalitätskontrolle, Mass Incarceration und expressive Strafpraktiken setzt, ist Erstere durch Prävention, Kooperation und Dezentralisierung gekennzeichnet. Die sogenannte „responsibilizing strategy“ zielt darauf ab, Verantwortung für Sicherheit auf Individuen, Gemeinschaften und lokale Akteure zu übertragen.

Diese adaptive Logik zeigt sich besonders deutlich in stadtsoziologischen Sicherheitskonzepten wie dem Community Policing, der Videoüberwachung im öffentlichen Raum oder der städtebaulichen Kriminalprävention. Hier wird Sicherheit nicht mehr ausschließlich von staatlichen Organen garantiert, sondern als gemeinschaftlich erzeugtes Gut verstanden – etwa durch Nachbarschaftsinitiativen, architektonische Gestaltung oder kooperative Polizei-Strategien.

Garland zeigt jedoch, dass diese Verschiebung ambivalent ist: Einerseits ermöglichen Präventionspartnerschaften bürgernahe und kontextsensiblere Sicherheitslösungen, andererseits verdecken sie oft strukturelle Ursachen von Unsicherheit – und entlasten den Staat von seiner sozialen Verantwortung.

Relevanz für Kriminologie und Strafpolitik

Garlands Werk bietet einen integrativen theoretischen Rahmen für die Analyse aktueller sicherheitspolitischer Entwicklungen. Es verbindet kriminologische, soziologische und politökonomische Perspektiven und zeigt auf, wie sich Kriminalpolitik mit gesellschaftlichen Machtverhältnissen verschränkt. Besonders aufschlussreich ist sein Konzept der „responsibilizing strategies“: Die Delegation von Verantwortung auf das Individuum erscheint als zivilgesellschaftliche Selbstermächtigung, ist aber häufig Ausdruck staatlicher Rückzugsbewegung.

In der wissenschaftlichen Diskussion wurde Garland mehrfach als Wegbereiter einer „kulturalisierten Kriminologie“ bezeichnet, die Kriminalität und Kontrolle als kulturelle Deutungsmuster und symbolische Praktiken begreift. Dies macht das Werk anschlussfähig an die Cultural Criminology und verwandte Ansätze.

Zugleich ist The Culture of Control ein Referenztext für politische Analysen gegenwärtiger Sicherheitsdiskurse – von der Angstgesellschaft über die Legitimation neuer Polizeibefugnisse bis hin zur Verwischung der Grenzen zwischen Wohlfahrts- und Strafstaat.

Kulturbegriff in der Kriminologie

In der Kriminologie bezeichnet Kultur nicht nur „hohe Kultur“ oder „Subkulturen“, sondern vor allem die symbolischen Ordnungen, Bedeutungszuschreibungen und Alltagspraktiken, durch die Kriminalität sozial konstruiert, interpretiert und bekämpft wird.

Einflussreiche Ansätze wie die Cultural Criminology (z. B. Presdee, Ferrell, Hayward) betonen, dass Kriminalität nicht nur objektiv existiert, sondern kulturell inszeniert wird – etwa durch Medienbilder, emotionale Narrative oder visuelle Repräsentationen. Devianz wird hier als kultureller Ausdruck verstanden, der soziale Konflikte, politische Machtverhältnisse und gesellschaftliche Ängste spiegelt.

Bereits in den 1970er-Jahren zeigten Stuart Hall et al. in Policing the Crisis, wie Diskurse über Kriminalität – etwa um das angebliche „Mugging“-Phänomen – politisch produziert und medial verstärkt werden. Kriminalpolitik erscheint hier nicht als rationale Reaktion auf „echte“ Bedrohungen, sondern als Teil ideologischer Auseinandersetzungen um Ordnung, Autorität und soziale Kontrolle.

Vor diesem Hintergrund lässt sich auch Garlands Konzept einer „Culture of Control“ einordnen: Es geht nicht allein um formale Institutionen der Verbrechenskontrolle, sondern um eine tiefgreifende kulturelle Reorganisation gesellschaftlicher Sicherheitswahrnehmungen.

Fazit

David Garlands The Culture of Control ist ein Meilenstein der zeitgenössischen Kriminologie. Es legt offen, wie eng gesellschaftliche Umbrüche, politische Kultur und sicherheitspolitische Rationalitäten miteinander verflochten sind. Die Rückkehr zu retributiver Strafe, die Ausweitung polizeilicher Kontrollbefugnisse und die Externalisierung sozialer Probleme auf „abweichende“ Gruppen werden nicht als Fehlentwicklung verstanden – sondern als Ausdruck eines kulturellen Wandels im Umgang mit Unsicherheit und sozialer Desintegration.

Die Stärke des Werkes liegt in seiner Vielschichtigkeit: Es liefert keine eindimensionale Kritik, sondern eine historisch fundierte und analytisch differenzierte Kartografie gegenwärtiger Strafpolitiken. Für Soziologie, Kriminologie, Sozialpolitik und kritische Gesellschaftsanalyse bleibt Garlands Werk ein unverzichtbarer Referenzpunkt.

Ausblick: Gibt es eine punitive Wende in Deutschland?

Garlands Analyse bezieht sich primär auf Entwicklungen in Großbritannien und den USA, deren Straf- und Sicherheitspolitik seit den 1970er-Jahren von einer zunehmend punitiven Ausrichtung geprägt ist. Die Frage, ob sich eine vergleichbare Entwicklung auch in Deutschland beobachten lässt, wird in der kriminologischen Forschung kontrovers diskutiert.

Einerseits lässt sich argumentieren, dass das deutsche Strafrecht im internationalen Vergleich durch eine gewisse Stabilität gekennzeichnet ist. Trotz populistischer Forderungen nach härterem Durchgreifen hat sich die Strafrechtsordnung in ihrer Grundstruktur nur moderat verändert. Der Resozialisierungsgedanke ist durch die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts – etwa im sogenannten Lebach-Urteil (1973) und in späteren Entscheidungen zur Sicherungsverwahrung – verfassungsrechtlich verankert und gilt als zentrales Strafvollzugsziel, die Inhaftierungsraten bewegen sich auf einem vergleichsweise niedrigen Niveau, und der Sozialstaat spielt nach wie vor eine zentrale Rolle in der Prävention sozialer Devianz. Auch die Kriminalpolitik orientiert sich – mit Ausnahmen – überwiegend an fachlich fundierten Leitlinien statt an spektakulären Einzelfällen.

Auf der anderen Seite wird jedoch auch auf eine schleichende Verschärfung verwiesen, die sich etwa in der Ausweitung von Straftatbeständen (z. B. Angriffe auf Vollstreckungsbeamte), der Anwendung von Sicherungsverwahrung, Verschärfungen im Jugendstrafrecht oder einer verstärkten Berücksichtigung von Opferinteressen zeigt. Zudem sind Entwicklungen wie der Ausbau technischer Überwachungsinstrumente, die Implementierung von Predictive-Policing-Modellen oder die symbolische Aufladung sicherheitspolitischer Maßnahmen Anzeichen für eine kulturelle Annäherung an angelsächsische Kontrollmodelle. Nicht zuletzt lässt sich beobachten, dass öffentliche und politische Diskurse zunehmend durch ein permanentes Unsicherheitsbewusstsein und Forderungen nach staatlicher Schutzgewähr geprägt sind – mit potenziellen Folgen für das Gleichgewicht zwischen Freiheit und Sicherheit.

Insgesamt bleibt festzuhalten: Während das deutsche System weiterhin deutliche Unterschiede zu den repressiveren Modellen in den USA oder Großbritannien aufweist, sind auch hier Tendenzen zur Retributivität, Technokratisierung und Verantwortungsverschiebung auf das Individuum erkennbar. Die Frage nach einer deutschen Kultur der Kontrolle lässt sich daher nicht eindeutig beantworten – sie erfordert eine differenzierte Betrachtung der langfristigen Entwicklungen im Zusammenspiel von Strafrecht, Gesellschaft und politischer Kultur.

Literaturverzeichnis

  • Garland, D. (2001). The Culture of Control: Crime and Social Order in Contemporary Society. Oxford: Oxford University Press.
  • Garland, D. (1985). Punishment and Welfare: A History of Penal Strategies. Aldershot: Gower.
  • De Giorgi, A. (2006). Re-thinking the Political Economy of Punishment. Aldershot: Ashgate.
  • Harcourt, B. (2011). The Illusion of Free Markets. Cambridge: Harvard University Press.
  • Lautmann, R. & Klimke, D. (2004). Punitivität als Schlüsselbegriff für eine Kritische Kriminologie. In: Lautmann, R., Klimke, D. & Sack, F. (Hrsg.): Punitivität. Achtes Beiheft zum Kriminologischen Journal, Weinheim, S. 9-29
  • Wacquant, L. (2009). Bestrafen der Armen. Zur neoliberalen Regierung der sozialen Unsicherheit. Konstanz: UVK.

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Kategorie: Kriminologie Tags: Community Policing, Cultural Criminology, Culture of Control, David Garland, Deutschland, Garland, Großbritannien, Kriminalität, Kriminalprävention, Kriminologie, Mass Incarceration, Megan’s Law, Opferorientierung, Predictive Policing, punitive Wende, Resozialisierung, responsibilization, Risk Governance, Sicherheitspolitik, Soziologie, Strafpolitik, Strafrecht, Überwachung, USA

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