Punishment and Social Structure von Georg Rusche und Otto Kirchheimer gilt als wegweisendes Werk der kritischen Kriminologie. Erstmals 1939 veröffentlicht, zeigt es auf, dass Strafsysteme nicht nur moralischen oder juristischen Prinzipien folgen, sondern vor allem ökonomischen und sozialen Machtstrukturen unterliegen. Die Autoren analysieren darin die historische Entwicklung von Strafsystemen in Verbindung mit den ökonomischen und sozialen Strukturen der Gesellschaft. Ihr zentrales Argument lautet, dass Strafe kein isoliertes rechtliches Instrument ist, sondern eng mit den ökonomischen Produktionsverhältnissen und Machtstrukturen verbunden ist.
Das Werk fand nicht nur im deutschsprachigen Raum, sondern auch in der angloamerikanischen Kriminologie breite Beachtung und beeinflusste zentrale Debatten zur sozialen Kontrolle und Kriminalpolitik.
Merkzettel
Georg Rusche & Otto Kirchheimer – Punishment and Social Structure
Hauptvertreter: Georg Rusche (1900–1950) & Otto Kirchheimer (1905–1965)
Erstveröffentlichung: 1939
Land: Deutschland
Idee/Annahme: Strafsysteme sind eng mit ökonomischen Strukturen verknüpft und dienen als Mittel sozialer Kontrolle.
Grundlage für: Kriminalität als Ausdruck sozialer Ungleichheit und Machtverhältnisse interpretiert.">Kritische Kriminologie, Marxistische Rechtstheorie, Soziologie der Strafe.
Verwandte Theorien: Michel Foucault – Überwachen und Strafen, David Garland – Punishment and Modern Society.
Historischer und wissenschaftlicher Kontext
Georg Rusche und Otto Kirchheimer verfassten ihr Werk im Exil, beeinflusst von den Umbrüchen der 1930er Jahre und der Krise des Kapitalismus. Die Autoren waren Teil der sogenannten Frankfurter Schule, die sich kritisch mit der kapitalistischen Gesellschaft und ihren Machtverhältnissen auseinandersetzte. Ihre Analyse steht in der Tradition der Materialistischen Geschichtstheorie nach Karl Marx, die gesellschaftliche Entwicklungen als Resultat ökonomischer Produktionsverhältnisse versteht. In Punishment and Social Structure analysieren sie die historischen Veränderungen von Strafsystemen seit dem Mittelalter und setzen diese in Beziehung zu wirtschaftlichen Entwicklungen, etwa dem Übergang vom Feudalismus zum Kapitalismus.
Die zentrale These lautet, dass Strafsysteme nicht nur als juristische oder moralische Reaktionen auf Verbrechen verstanden werden können, sondern als Instrumente sozialer Kontrolle, die den ökonomischen Interessen der Herrschenden dienen. Damit begründen Rusche und Kirchheimer eine materialistische Perspektive auf das Strafrecht, die später wesentlich zur Entwicklung der kritischen Kriminologie beitrug.
Hauptthesen und zentrale Aussagen
Strafe als Mittel der Kontrolle
Rusche und Kirchheimer argumentieren, dass Strafen historisch immer in Abhängigkeit zur Verfügbarkeit von Arbeitskräften und zur ökonomischen Struktur standen. Im Feudalismus etwa waren Leibesstrafen und öffentliche Hinrichtungen weit verbreitet, da die Arbeitskraft des Individuums für die feudale Produktion entbehrlich war. Mit der Industrialisierung und der wachsenden Bedeutung von Arbeitskraft veränderten sich auch die Formen der Bestrafung: Gefängnisse traten an die Stelle öffentlicher Hinrichtungen, da die Inhaftierten als zukünftige Arbeitskräfte rehabilitiert werden sollten.
Strafe im Feudalismus
Im Feudalismus waren öffentliche Hinrichtungen, Pranger und Leibesstrafen gängige Formen der Bestrafung. Diese Praktiken dienten nicht nur der Bestrafung des Einzelnen, sondern auch der Abschreckung und Demonstration staatlicher Macht. Der Verlust der Arbeitskraft war für die feudale Produktionsweise weniger problematisch, da die Produktion überwiegend auf Grundbesitz und nicht auf individueller Arbeitskraft beruhte.
Beispiel: Die öffentlichen Hinrichtungen im mittelalterlichen England dienten dazu, die Bevölkerung an die Konsequenzen von Regelverstößen zu erinnern und gleichzeitig die Macht des Feudalherrn sichtbar zu machen.
Strafsysteme und ökonomische Interessen
Ein zentraler Punkt in der Analyse von Rusche und Kirchheimer ist die enge Verknüpfung von ökonomischen Produktionsverhältnissen und dem Strafsystem. Sie zeigen auf, dass Strafpraktiken nicht nur durch moralische Überzeugungen, sondern vor allem durch wirtschaftliche Interessen geprägt werden. In Zeiten wirtschaftlicher Krisen verschärft sich die Strafpraxis, um soziale Kontrolle zu gewährleisten und Aufstände zu verhindern. Strafanstalten dienen dabei nicht nur der Bestrafung, sondern auch der Disziplinierung der Arbeiterklasse.
Ökonomische Krisen und verschärfte Strafpraxis
Rusche und Kirchheimer argumentieren, dass wirtschaftliche Krisen häufig mit verschärften Strafmaßnahmen einhergehen. In Zeiten hoher Arbeitslosigkeit und sozialer Unruhen steigt der Druck auf staatliche Institutionen, öffentliche Ordnung und soziale Kontrolle aufrechtzuerhalten.
Beispiel: Während der Wirtschaftskrise in den USA in den 1930er-Jahren stieg die Inhaftierungsrate drastisch an. Strafanstalten wurden genutzt, um soziale Kontrolle über verarmte Bevölkerungsschichten zu gewährleisten, die in städtischen Gebieten lebten und als potenzielle Aufständische galten.
Auch in der Eurokrise ab 2008 kam es in südlichen EU-Staaten wie Griechenland und Spanien zu einem Anstieg der Inhaftierungen von sozial Schwachen und Arbeitsmigranten.
Straflager und Zwangsarbeit im Nationalsozialismus
Während der NS-Diktatur wurde das Konzept der Strafe in Form von Zwangsarbeit systematisch ausgenutzt. Millionen Menschen wurden in Konzentrations- und Arbeitslager verschleppt, wo sie unter menschenunwürdigen Bedingungen zur Arbeit gezwungen wurden. Die wirtschaftliche Verwertung der Inhaftierten war fester Bestandteil der nationalsozialistischen Wirtschaftsstrategie. Unternehmen wie IG Farben und Siemens profitierten direkt von der Zwangsarbeit.
Strafe als Instrument des Arbeitsmarktes
Ein besonderer Fokus liegt auf dem Zusammenhang zwischen der Verfügbarkeit von Arbeitskraft und der Art der Bestrafung. In Phasen von Arbeitskräftemangel waren Strafen häufig darauf ausgerichtet, Menschen schnell wieder in den Arbeitsprozess einzugliedern. In Zeiten der Überproduktion von Arbeitskraft hingegen wurden Strafen repressiver, um soziale Kontrolle zu gewährleisten. Diese Analyse verdeutlicht die ökonomische Funktion von Strafe als Mittel zur Regulation des Arbeitsmarktes.
Strafe als Regulativ des Arbeitsmarktes
Rusche und Kirchheimer zeigen, dass Strafen oft gezielt zur Regulierung des Arbeitsmarktes eingesetzt wurden. Ein Beispiel hierfür sind die Strafkolonien des 18. und 19. Jahrhunderts, in denen Straftäter gezielt als Arbeitskräfte genutzt wurden. Der Verlust der Freiheit ging mit einer wirtschaftlichen Verwertung der Inhaftierten einher.
Beispiel: In Australien wurden britische Strafgefangene zwischen 1788 und 1868 als billige Arbeitskräfte in der Landwirtschaft und beim Straßenbau eingesetzt. Ähnlich verhielt es sich in den USA, wo Sträflinge im sogenannten „Convict Leasing System“ an private Unternehmen vermietet wurden.
Die ökonomische Funktion der Strafe zeigte sich hier besonders deutlich: Strafe war nicht nur ein Instrument der sozialen Kontrolle, sondern auch der wirtschaftlichen Verwertung von Arbeitskraft.
Methodik und empirische Erhebung
Rusche und Kirchheimer setzen in Punishment and Social Structure auf eine historisch-materialistische Analyse, um den Zusammenhang zwischen Strafsystemen und ökonomischen Produktionsverhältnissen offenzulegen. Ihre Methodik zeichnet sich durch einen innovativen Zugang aus: Statt Strafe rein als moralische oder juristische Reaktion auf Kriminalität zu verstehen, betrachten sie sie als integralen Bestandteil gesellschaftlicher Produktions- und Machtverhältnisse. Damit erweitern sie den Blick auf Strafsysteme, indem sie diese als Ausdruck ökonomischer Notwendigkeiten und sozialer Kontrolle interpretieren.
Historische Analyse als Methode
Eine zentrale methodische Grundlage ihrer Arbeit ist die historische Analyse. Rusche und Kirchheimer untersuchen Strafpraktiken im Wandel der Geschichte und setzen diese in Beziehung zu den vorherrschenden Produktionsweisen. Hierbei unterscheiden sie mehrere historische Phasen, die durch spezifische ökonomische Strukturen geprägt sind:
- Feudalismus: Körperstrafen, Pranger und öffentliche Hinrichtungen dominierten als Disziplinierungsinstrumente. Die Arbeitskraft des Einzelnen war für die feudale Produktion entbehrlich, weshalb der physische Schaden des Bestraften weniger Bedeutung hatte.
- Frühe Industrialisierung: Mit der wachsenden Bedeutung der Arbeitskraft änderten sich auch die Formen der Bestrafung. Inhaftierung und Zwangsarbeit traten an die Stelle öffentlicher Körperstrafen, da Arbeitskräfte für die aufkommenden Fabriksysteme benötigt wurden.
- Hochindustrialisierung: Strafanstalten wurden zunehmend zu Orten der Disziplinierung und der Arbeitsdisziplin. Strafe diente nicht nur der Kontrolle, sondern auch der Erziehung zur Arbeitsdisziplin, was den Übergang zur modernen Gefängnispolitik markierte.
Diese historische Perspektive macht deutlich, dass sich die Funktion von Strafe nicht in der moralischen Ahndung eines Vergehens erschöpft, sondern stets auch ökonomische Interessen widerspiegelt.
Beispiel: Die Entwicklung von Arbeitsgefängnissen
Während der frühen Industrialisierung entstanden in Europa sogenannte Arbeitsgefängnisse (workhouses), in denen straffällig gewordene Menschen zur Arbeit gezwungen wurden. Diese Institutionen waren weniger auf Bestrafung als auf Arbeitsdisziplin und wirtschaftliche Verwertung ausgerichtet. Insassen mussten oft stundenlang eintönige, körperlich anstrengende Arbeiten verrichten, die in direkter Verbindung zur regionalen Wirtschaft standen, wie z. B. die Herstellung von Textilien oder die Arbeit in Steinbrüchen.
Beispiel: In Großbritannien wurden die berüchtigten „Workhouses“ des 19. Jahrhunderts geschaffen, um arme und straffällige Personen zu disziplinieren und gleichzeitig als billige Arbeitskräfte auszubeuten. Diese Einrichtungen waren eng mit der Idee verknüpft, dass Armut und Kriminalität durch Arbeit „geheilt“ werden könnten.
Methodische Innovation: Strafe als ökonomisches Regulativ
Ein wesentlicher methodischer Beitrag von Rusche und Kirchheimer liegt in der Betrachtung von Strafe als einem ökonomischen Regulativ. Die Autoren zeigen, dass Strafsysteme nicht unabhängig von ökonomischen Entwicklungen gedacht werden können. So nimmt die Strafverfolgung in Zeiten wirtschaftlicher Instabilität oder hoher Arbeitslosigkeit nachweislich zu. Strafe fungiert dabei als Mittel zur Disziplinierung der Arbeiterschaft und zur Aufrechterhaltung sozialer Kontrolle.
Moderne Parallelen: Diese Perspektive findet sich auch in neueren kriminologischen Ansätzen wie der Cultural Criminology, die aufzeigt, wie Strafpraktiken als kulturelle Inszenierungen genutzt werden, um staatliche Autorität und Kontrolle sichtbar zu machen. Auch in der Kritischen Kriminologie wird der Zusammenhang zwischen Strafe, sozialer Ungleichheit und ökonomischer Ausbeutung weiterverfolgt. Loïc Wacquant beschreibt beispielsweise in Punishing the Poor (2009) die Strafjustiz als Ersatz für soziale Sicherungssysteme in Zeiten neoliberaler Umstrukturierungen.
Beispiel: „Broken Windows“ und ökonomische Kontrolle
Ein modernes Beispiel für die ökonomische Funktion von Strafe findet sich in der „Broken Windows“-Politik, die in den 1990er-Jahren in den USA eingeführt wurde. Die Strategie zielte darauf ab, bereits kleine Ordnungswidrigkeiten wie Graffiti oder Vandalismus hart zu bestrafen, um das Entstehen schwerer Kriminalität zu verhindern. Kritiker argumentieren, dass diese Politik vor allem in sozial benachteiligten Stadtteilen durchgesetzt wurde, um die dortige Bevölkerung stärker zu kontrollieren. Die hohen Inhaftierungsraten trugen dazu bei, Menschen vom Arbeitsmarkt fernzuhalten und soziale Kontrolle aufrechtzuerhalten.
Vergleich mit modernen kriminologischen Methoden
Die Methodik von Rusche und Kirchheimer war wegweisend für die kritische Auseinandersetzung mit Strafsystemen, wurde jedoch im Laufe der Zeit weiterentwickelt. Insbesondere folgende Ansätze bauen auf ihrer Arbeit auf:
- Kritische Kriminologie: Die Analyse sozialer Kontrolle und ökonomischer Interessen wurde hier weiterentwickelt. Autoren wie Jock Young oder Richard Quinney thematisieren die Rolle des Strafrechts bei der Aufrechterhaltung sozialer Ungleichheiten.
- Cultural Criminology: Diese Perspektive erweitert die materialistische Analyse um kulturelle Dimensionen. Strafe wird nicht nur als ökonomisches, sondern auch als kulturelles Instrument verstanden, um Machtverhältnisse zu inszenieren und gesellschaftliche Normen durchzusetzen.
- Soziale Disorganisationsansätze: Die Chicago School untersuchte die Rolle sozialer und ökonomischer Strukturen auf die Kriminalitätsrate. Hierbei wird ebenfalls ein Zusammenhang zwischen sozialen Bedingungen und strafrechtlicher Kontrolle hergestellt.
Kritik und Rezeption
Punishment and Social Structure wurde insbesondere in der kritischen Kriminologie breit rezipiert. Die Analyse von Strafe als Mittel sozialer Kontrolle inspirierte später unter anderem Michel Foucaults Werk Überwachen und Strafen (1975). Insbesondere die materialistische Perspektive auf Strafsysteme als Ausdruck ökonomischer Machtverhältnisse prägte nachfolgende Generationen von Soziolog:innen und Kriminolog:innen.
In den 1970er-Jahren wurde die ökonomische Analyse von Rusche und Kirchheimer um kulturelle und gesellschaftspolitische Dimensionen erweitert. Jock Young, ein zentraler Vertreter der kritischen Kriminologie, führte den Begriff der „Deviance Amplification“ ein, um aufzuzeigen, wie soziale Kontrolle abweichendes Verhalten verstärken kann. Während Rusche und Kirchheimer den Fokus auf ökonomische Bedingungen legten, erweiterte Young die Perspektive um kulturelle Prozesse der Zuschreibung und gesellschaftliche Fixierung negativer Merkmale an Einzelpersonen oder Gruppen, die zu sozialer Abwertung und Ausschluss führen.">Stigmatisierung.
David Garland, insbesondere in seinem Werk The Culture of Control (2001), analysierte die Transformation der Strafpolitik im Kontext neoliberaler Wirtschaftspolitik und der gesellschaftlichen Angst vor Kriminalität. Garland verknüpft die materialistische Sichtweise mit soziologischen Ansätzen, die die Bedeutung von „Kultur der Kontrolle“ und der symbolischen Funktion von Strafe betonen.
Loïc Wacquant, vor allem bekannt durch sein Werk Bestrafen der Armen (Punishing the Poor, 2009), griff die Thesen von Rusche und Kirchheimer auf und übertrug sie auf moderne Phänomene der Masseninhaftierung und der sozialen Kontrolle marginalisierter Bevölkerungsgruppen. Wacquant argumentiert, dass das US-amerikanische Strafsystem eine ökonomische Funktion zur Disziplinierung der unteren sozialen Schichten erfüllt und somit Armut und soziale Exklusion zementiert.
Weiterführende Werke und Rezeption
Die Thesen von Rusche und Kirchheimer haben zahlreiche spätere Forschungen inspiriert:
- David Garland: The Culture of Control (2001) – Analyse der neoliberalen Strafpolitik und der gesellschaftlichen Angst vor Kriminalität.
- Loïc Wacquant: Punishing the Poor (2009) – Untersuchung der Masseninhaftierung in den USA als Instrument sozialer Kontrolle.
- Jock Young: The Exclusive Society (1999) – Analyse der sozialen Exklusion im neoliberalen Kapitalismus und deren Verbindung zu Kriminalität.
Diese Werke erweitern die Perspektive von Rusche und Kirchheimer um kulturelle und gesellschaftspolitische Aspekte, insbesondere die Bedeutung sozialer Exklusion und die Symbolik der Strafe in modernen Gesellschaften.
Kritik: Trotz ihrer einflussreichen Analyse wurde Rusche und Kirchheimer eine zu ökonomistisch verkürzte Perspektive vorgeworfen. Kritiker:innen monierten, dass kulturelle, ideologische und soziale Faktoren in ihrer Betrachtung kaum Berücksichtigung fanden. Auch der Aspekt der sozialen Integration durch Strafe, wie ihn beispielsweise Émile Durkheim formulierte, bleibt in ihrer Analyse unberücksichtigt. Dennoch gilt das Werk als Meilenstein der sozialwissenschaftlichen Analyse von Recht und Strafe und bildet die Grundlage für zahlreiche Weiterentwicklungen in der Kriminalsoziologie.
Aktualität und Bedeutung
Die Thesen von Rusche und Kirchheimer haben bis heute eine hohe Relevanz für die Analyse moderner Strafsysteme. Ihr materialistischer Ansatz, Strafe als Instrument sozialer Kontrolle im Kontext ökonomischer Produktionsverhältnisse zu verstehen, findet sich in aktuellen Debatten um Mass Incarceration in den USA wieder.
Dieser massive Ausbau des Strafvollzugssystems wird in der kritischen Kriminologie als ökonomisches Instrument der sozialen Kontrolle interpretiert. Loïc Wacquant argumentiert in seinem Werk Punishing the Poor, dass die Gefängnisse in den USA als “soziale Müllhalden” fungieren, um die Auswirkungen ökonomischer Ungleichheit und sozialer Marginalisierung zu bewältigen. Arbeitslosigkeit, Armut und soziale Exklusion werden nicht durch soziale Maßnahmen adressiert, sondern durch Inhaftierung verdrängt. Diese Mechanismen entsprechen den Grundannahmen von Rusche und Kirchheimer, wonach Strafen in Zeiten ökonomischer Instabilität verstärkt zur sozialen Kontrolle eingesetzt werden.
Beispiel: Gefängnisindustrie in den USA
In den USA gibt es seit den 1980er-Jahren einen starken Anstieg privat betriebener Gefängnisse. Diese profitieren wirtschaftlich von der Masseninhaftierung und tragen zur Stabilisierung der Arbeitsmarktverhältnisse bei. Die Gefängnisindustrie erwirtschaftet jährlich Milliardenbeträge und stellt für viele ländliche Regionen eine wichtige ökonomische Ressource dar. Hier zeigt sich die ökonomische Funktion der Strafe, wie sie Rusche und Kirchheimer beschrieben haben: Strafe dient nicht nur der sozialen Kontrolle, sondern auch der wirtschaftlichen Verwertung marginalisierter Bevölkerungsgruppen.
Neoliberale Strafpolitik und soziale Kontrolle
Der Einfluss von Rusche und Kirchheimer zeigt sich auch in der modernen Strafpolitik westlicher Staaten. Insbesondere in neoliberalen Gesellschaften hat sich eine Verschärfung strafrechtlicher Maßnahmen beobachten lassen – Stichworte wie „Zero Tolerance“, „Broken Windows“ und „Three Strikes Laws“ prägen die Sicherheitsdiskurse. Diese Maßnahmen zielen weniger auf Resozialisierung als vielmehr auf Abschreckung und soziale Kontrolle ab.
David Garland beschreibt in seinem Werk The Culture of Control (2001), dass Strafe heute vor allem symbolische Funktionen erfüllt: Sie dient nicht mehr nur der Sanktionierung von Verbrechen, sondern der Aufrechterhaltung sozialer Ordnung in ökonomisch prekären Zeiten. Auch hier wird der Zusammenhang zwischen wirtschaftlichen Unsicherheiten und einer repressiveren Strafpolitik deutlich.
Überwachungstechnologien und digitale Kontrolle
Die Thesen von Rusche und Kirchheimer lassen sich auch auf moderne Überwachungsstrategien übertragen. Die zunehmende Digitalisierung sozialer Kontrolle – Stichwort Predictive Policing – zeigt, dass Strafe und Überwachung nicht mehr nur auf physische Inhaftierung beschränkt sind. Digitale Gefahrenabwehr.">Überwachungstechnologien ermöglichen eine präventive Kontrolle, die sich vor allem gegen marginalisierte Bevölkerungsgruppen richtet.
Globale Perspektive: Strafe und soziale Kontrolle im neoliberalen Kapitalismus
Auch in Europa und anderen Teilen der Welt lassen sich die Thesen von Rusche und Kirchheimer auf moderne Strafpolitiken anwenden. Die Verschärfung von Einwanderungsgesetzen, der Ausbau von Abschiebegefängnissen und die verstärkte Überwachung von marginalisierten Gruppen zeigen, dass Strafe weiterhin ein zentrales Mittel der sozialen Kontrolle bleibt. Ökonomische Krisen – wie zuletzt die Finanzkrise 2008 – führten auch in Europa zu einem Anstieg repressiver Maßnahmen gegen sozial Schwache und Migrant:innen.
Literatur und Quellen
- Rusche, G. & Kirchheimer, O. (1939). Punishment and Social Structure. Columbia University Press.
- Foucault, M. (1975). Discipline and Punish: The Birth of the Prison. Vintage Books.
- Garland, D. (1990). Punishment and Modern Society: A Study in Social Theory. University of Chicago Press.
- Mathiesen, T. (2006). Prison on Trial. Waterside Press.